Ganz oder gar nicht – wider die Halbheiten

Predigttext: Lukas 9, 57-62
Kirche / Ort: Providenz-Kirche / Heidelberg
Datum: 23.03.2003
Kirchenjahr: Okuli (3. Sonntag der Passionszeit)
Autor/in: Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Lukas 9,57-62 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)

57 Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. 58 Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. 59 Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, daß ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. 60 Aber Jesus sprach zu ihm: Laß die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! 61 Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, daß ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. 62 Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.

Überlegungen zum Gottesdienst am 4. Tage nach dem Krieg

Die Kerzen auf dem Altar sind nicht wie üblich schon vor Beginn des Gottesdienstes angezündet. Auf der weisen Altardecke liegt ein kleineres schwarzes Tuch. Nach dem Orgelvorspiel gehe ich zum Altar und zünde die eine von beiden Kerzen an und spreche, nachdem sie eine Weile brennt: „Die Kerze ist angezündet, ein Licht in dem Schatten, den die aktuellen Kriegsereignisse auf uns werfen“. Nach einer Stille zünde ich die zweite Altarkerze an. Wieder nach einer Weile spreche ich: „Ein Licht ist angezündet auf dem Altar des Gottes, dessen Botschaft von Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden wir hören und verkünden. Die beiden Kerzen sind angezündet, da wir jetzt – verbunden mit vielen Menschen auf der ganzen Welt - zum Gottesdienst versammelt sind im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Gemeinde (antwortet/singt): Amen. Die Gebete stimme ich ganz auf die aktuelle so bedrängende Situation ab. Mit dem Predigttext Lukas 9,57-62, folge ich der Perikopenordnung, die mir gerade in der jetzigen mich so umtreibenden Situation („Was soll ich predigen?“) eine große Hilfe ist. Einen sehr persönlichen Akzent bekommt die Predigt dadurch, dass im Predigttext mein Konfirmandenspruch enthalten ist: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“. Zur Exegese verweise ich auf E. Schweizer, der Jesu Geborgenheit in Gott hervorhebt und die Zukunft Gottes als sein Zuhause. „Nur von einem für Kommendes offenen Menschen kann das Gottesreich ausgerufen werden. So wird Jesu Wandern in seinen Jüngern weiterleben…Daß Gott auch das Versagen des Jüngers heilen und sein Saatgut in sehr krumm geratene Ackerfurchen legen kann…, hebt die Radikalität der Forderung nicht auf, bewahrt sie sogar davor, als unerfüllbares Ideal verehrt und damit abgeschrieben zu werden“ (Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, S. 112f.).

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Liebe Gemeinde!

Was soll ich predigen? Es wäre mir bestimmt nicht leicht gefallen, hätte ich für den heutigen Sonntag selbst ein Predigtwort auswählen müssen. Gut, dass es eine kirchliche Ordnung gibt, die Predigttexte vorgibt. Ich bin so aufgefordert, über diesen Bibeltext in der aktuellen Situation, in der alle Welt den Atem anhält, nachzudenken.

Jetzt hat vor wenigen Tagen, am 20. März, ein Krieg begonnen. Wir wissen noch nicht, wo er uns hinführen wird, aber eines wissen wir: Die Welt hat sich damit verändert, so dramatisch wie sich eine persönliche Lebenssituation auf einmal verändern kann.
Schließlich enthält dieser Bibeltext meinen persönlichen Konfirmandenspruch: “Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes”.

I.

Als Jugendlicher hat mich dieser Spruch damals geradezu geärgert. Hat denn mein Pfarrer in der großen Bibel kein anderes einladenderes Wort gefunden? Heute weiß ich: meine Einstellung dazu hat sich geändert. Mein Leben zeigt mir, was mit diesem Spruch gemeint ist. Ich hatte sogar das Glück, einmal ganz praktisch einen Pflug in die Hand nehmen zu dürfen und zu pflügen.

Schnurgerade Furchen waren als Anforderung für den sinnvollen Anbau von Feldfrüchten erforderlich, eine Konzentrationsarbeit. Da erlebte ich die Wahrheit dieses Wortes: Die Hand an den Pflug legen und dabei zurücksehen ergibt keine gerade Furche, ermöglicht kein sinnvolles Arbeitsergebnis und kein gutes Weiterarbeiten.

Übertragen in die Lebenswirklichkeit bedeutet dies: Wir alle haben ein Ziel im Leben, auf das wir hinarbeiten. Für Christen würde ich dieses Ziel heute so formulieren: Unser Leben bis zu seinem Ende in Einklang mit dem Willen Gottes, seiner Botschaft und seiner Ethik zu leben. Der Pflug ist unser Herz, unser Verstand, unsere Hände und Füße, unsere Augen und Ohren, unsere ganzen Sinne. Damit ziehen wir auf der Erde unsere Lebensfurche, unsere Spur. Darauf müssen wir uns konzentrieren, damit die Spur, wir selbst, geradlinig bleiben.

Der Blick zurück hat seine Zeit in der Pause, in der Besinnung, dann kann er sogar Kraftquelle sein. Aber Achtung beim Pflügen, beim Zugehen auf das Ziel! Schaust du zurück, veränderst du unbemerkt die Richtung und wirst das Ziel verfehlen. Du wirst die Steine nicht sehen und den Pflug beschädigen, so nicht weiterkommen und dein Ziel nicht erreichen. Du kannst mit dem Blick zurück und blinder Fahrt nach vorn zur Gefahr für andere Menschen werden. In der Stille möchte ich jetzt Raum geben, an die eigene Arbeit am Pflug zu denken, aber auch daran, dass die Schwerter nicht überall zu Pflugscharen umgeschmiedet wurden. Bringen wir unsere Empfindungen und Gedanken in der Stille vor Gott.

Stille

II.

Jetzt haben wir das Predigtwort gleichsam vom Schluss her zu hören versucht. Hören wir, in welchem Zusammenhang Jesus diese Worte spricht: Voraus geht eine Szene, an der wir Anstoß nehmen könnten.

Da sind drei Menschen, die Jesus nachfolgen möchten. Der erste sagt: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Welch eine Begeisterung! Er hat an Jesus etwas erlebt, und er möchte davon noch mehr hören und sehen. Er bietet sich ihm an: Ich gehe mit, ich folge dir.

Menschlich gesehen müssten wir doch eine Antwort erwarten, die etwa so lautet: Schön, sei willkommen! Aber Jesus spricht: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. – Eine ernüchternde Antwort.

Am Beispiel der Tiere macht Jesus deutlich, dass im Normalfall die Natur es so eingerichtet hat, dass wir ein Zuhause haben, ein Nest, eine Grube, eine Höhle, ein Zelt, ein Haus – ‚ich, Jesus, habe das nicht, so kann ich dir das nicht anbieten’.

Im Johannesevangelium ist das so ausgedrückt: Ich bin der Weg. Komm mit, aber rechne nicht mit Ruhe, sei bereit, unterwegs zu sein, Tag und Nacht, bei Sonne und Regen, in der Hitze und der Kälte. Komm mit, sei bereit zu gehen, durch Gutes und Helles und durch die Finsternisse des Lebens, durch Freude und Traurigkeit, durch glühende Liebe und eisige Gefühle. Komm mit und handle, wie ich es dir zeigen werde.

Liebe Gemeinde, heute möchte ich für uns hier in der Kirche ergänzen: Komm mit, trage mich in deinem Herzen weiter, dorthin, wohin dich dein Leben führt. Nimm mit mir im Herzen deine Verantwortung in und für die Menschen, die Gesellschaft, wahr… (Stille)

III.

Eine weitere Person ist mit ihm unterwegs. Zu ihr spricht Jesus selbst. Er sagt: Folge mir nach. Wiederum möchten wir uns menschlich die Antwort dieses Gerufenen vorstellen: Gut, ich komme gern mit, danke für die Einladung. Aber er sagt: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!

Liebe Gemeinde, ich denke, dass an dieser Stelle alle gestolpert sind. Kann das Jesus wirklich gemeint haben? Da stirbt der Vater, und Jesus verwehrt es dem Sohn oder der Tochter, bei der Beerdigung des Vaters teilzunehmen? Das würde doch der ganzen Verkündigung Jesu widersprechen! Jesus ging zu den Kranken, er tröstete die Trauernde. Unmöglich, dass Jesus die Angehörigen daran hindern wollte, dem Vater oder der Mutter die letzte Ehre zu erweisen. Dass er das nicht gemeint haben kann, zeigt seine Antwort: Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes. – Die Toten können nicht Tote begraben, das geht nicht.

Nicht die leibliche Verwandtschaft ist hier gemeint, sondern die geistige. Wir sprechen ja auch heute davon, wessen Geistes Kinder wir sind. Den lebensspendenden, schöpferischen Gott, den wir mit vielfältigen Bildern umschreiben, können und brauchen wir nicht begraben – Gott ist das Leben, die Lebendigkeit, die Quelle der Schöpfung.

Die anderen Geister dagegen, die Besitz von uns ergreifen können, sind Totengeister. Sie breiten sich aus, verbunden mit Machtgier, Lüge, Terror, Krieg, Egozentrik. Sie lassen die Lebendigkeit Gottes in den Menschen sterben, machen sie gleichsam zu todbringenden oder lebendigen Toten. Verlass ihr Haus, weine und trauere nicht um sie, sondern gehe hin und verkündige das Reich Gottes; denn in diesem sind jene Kräfte zu Hause, die helfen, Todbringendes zu überwinden.

Lasst die Toten ihre Toten begraben und verkündet das Reich Gottes! (Stille)

IV.

Was der Evangelist Lukas von der Nachfolge sagt, könnten wir etwa so zusammenfassen: Jesus macht die Menschen, die ihm nachfolgen wollen, auf den Ernst der Nachfolge aufmerksam. Jesus möchte keine halbe, sondern ganze Hingabe an Gott. Das klingt in unsern Ohren radikal. Aber Jesus möchte, dass wir uns selbst nicht betrügen. Wir haben manchmal die besten Entschuldigungen, um dem, was wirklich nötig ist, auszuweichen.

Jesus nachfolgen heißt: Die Augen auf Gott richten, wozu uns der heutige Sonntag Oculi („Oculi mei…“ Meine Augen sehen stets auf den HERRN, Psalm 25,15) besonders einladen möchte. Jesus ging uns auf diesem Weg beispielhaft voraus. Legen wir Hand an den Pflug. Verkünden wir das Reich Gottes. Bieten wir Jesus unser Herz an. Verfolgen wir das Ziel, gegen alle Widrigkeiten in der Welt zu arbeiten, damit sie so wird, wie Gott sie gewollt hat – voll Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden. Amen.

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