Äußere und innere Szenerie
Eine scheinbar alltägliche Geschichte oder Sonntagsgeschichte
Predigttext: Markus 2,23-28 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
23 Und es begab sich, daß er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.Vorbemerkungen
Exegetische Hinweise zum Predigttext Oft wird V.27 als Jesuslogion angenommen, das sekundär durch V.23f., die Erzählung vom Ährenausraufen der Jünger in Verbindung mit der kritischen Frage der Pharisäer, illustriert worden sei. V.25f., ein (ungenauer, vgl. 1.Sam 21) Rückbezug auf die biblische Tradition, stellt wahrscheinlich eine Erweiterung dar, weil sie mit dem Sabbatthema nichts unmittelbar zu tun hat. Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von V.27 und V.28 ist umstritten. Sie hängt an dem Verständnis des Terminus "Menschensohn" (hyios tou anthropou, V.28), ob damit wie in V.27 (wo nur anthropos steht) der Mensch allgemein oder der "Menschensohn" als christologischer Hoheitstitel gemeint ist. (vgl. Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, Göttingen 1975, S.34-36. - Rahel Schaller, Predigtmeditation zu Mk 2,23-28, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext...(s.u.), S.342-346) Stimmen aus der jüdischen Tradition (zit. in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe V, hg. v. Studium in Israel e.V., 2006, S.342f.(Rahel Schaller) Euch ist der Sabbat übergeben, und nicht ihr dem Sabbat.(Mechilta de Rabbi Ismael, zu Ex 31,12.14, vgl. Mk 2,27!) Gott sprach zu den Kindern Israel als er ihnen die Tora gab: "Meine Kinder! Wenn ihr die Tora annehmt und Meine Gebote befolgt, will Ich euch auf ewig etwas Kostbares geben, das Ich besitze." "Und Was", fragte Israel, "ist diese Kostbarkeit, die Du uns geben willst, wenn wir deine Tora befolgen?" "Die zukünftige Welt!" "Zeige uns in dieser Welt ein Beispiel für die zukünftige!" "Der Sabbat ist ein Bild der zukünftigen Welt." ...Der Sabbat ist nicht um der Wochentage willen da; die Wochentage sind um des Sabbat willen da. Er ist kein Intermezzo, sondern Höhepunkt des Lebens...Den siebenten Tag halten bedeutet nicht einfach, einem strengen Gebot Gottes zu gehorchen oder zu entsprechen. Observanz bedeutet, die Schöpfung der Welt zu feiern und den siebten Tag immer wieder neu zu erschaffen. (Abraham J. Heschel, Der Schabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Berlin 2001, S.12.18)Lieder:
"Gott liebt diese Welt" (EG 409),"Ich lobe meinen Gott" (EG 272), "Gott Lob, der Sonntag kommt herbei" (EG 162), "Komm, Herr, segne uns" (EG 170), "Öffne meine Augen, daß sie sehen die Wunder an deinem Gesetz" (EG 176).Liebe Gemeinde!
Eine scheinbar alltägliche Geschichte oder Sonntagsgeschichte aus dem Evangelium nach Markus. Die Akteure dieser Geschichte sind Jesus, die Jünger – die „Bibel in gerechter Sprache“ erwähnt auch die Jüngerinnen – und die Pharisäer. Und die Aktion: Jesus und seine Jünger gehen am Sabbat durch die Felder. Die Jünger raufen Ähren aus und essen die Körner, scheinbar weil sie Hunger haben.
Wir erinnern uns vielleicht an so manch eigenen Sonntagsspaziergang – voller Lust und Freude. Wir mögen über das Verhalten der Jünger staunen oder darüber befremdet sein. War es richtig, was sie taten, zumal auf anderer Leute Felder? Das gehört sich doch nicht. Aber damit sind wir noch bei der äußeren Szenerie und noch nicht bei dem, was uns der Evangelist Markus weitergeben will.
Diese scheinbar alltägliche Geschichte oder Sonntagsgeschichte hat es in sich. Sie weist auf eine innere Szenerie.
Hinter der Frage, die die Pharisäer Jesus stellen, warum seine Jünger am Sabbat tun, was nicht erlaubt sei, steht mehr als eine Debatte über die Heiligung des Sabbats, den Schutz und die Wertschätzung des Feiertages. Eine Grundsatzdiskussion, ein Konflikt, über den Zusammenhang von Glauben und Leben ist entbrannt, über die Göttlichkeit Gottes und die Menschlichkeit des Menschen.
Diese scheinbar alltägliche Geschichte oder Sonntagsgeschichte ist bis heute aktuell und brisant, gerade in der heutigen Auseinandersetzung um den nachhaltigen und zukünftigen Schutz des Sonntags, für den wir uns als Christen, als Kirche einsetzen. Welche Impulse gibt uns diese biblische Geschichte? Worauf kam es Jesus damals an, worauf käme es Jesus heute an? Lesen wir zwischen den Zeilen, suchen wir hinter den Worten!
Auffällig ist zunächst, dass die wie aus dem Nichts auftauchenden Pharisäer nicht etwa die Jünger auf ihr Verhalten ansprechen, sondern sich gleich mit einer Grundsatzfrage an Jesus wenden: „Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Eine verfängliche Frage, eine Fangfrage. Denn keineswegs war es damals unumstritten, geschweige denn eindeutig, was am Sabbat erlaubt und was nicht erlaubt ist. Während die einen genau festlegten, was am Sabbat erlaubt oder verboten war, zB wie viele Schritte man gehen durfte, bemühen sich andere um Ausnahmeregelungen: zB dass Ährenraufen erlaubt sei, wenn man Hunger habe, oder dass der Schutz des Lebens wichtiger als die Einhaltung der Sabbatgebote ist, wenn Mensch und Tier in Gefahr sind. Wo sich da positionieren, wo den Standpunkt verteidigen, ohne zugleich Angriffsfläche zu bieten?
Jesus antwortet auf die Fangfrage der Pharisäer mit einer Gegenfrage. Sie ist geradezu entwaffnend, weil sie auf gemeinsame, unstrittige Glaubensüberlieferung zurückgreift. Jesus erinnert an einen der Väter im Glauben, den König David. Aß dieser nicht, wie es in der Bibel steht, vor lauter Hunger die „Schaubrote“, die heiligen Brote, die nur die Priester essen durften, und gab er sie nicht auch denen, die bei ihm waren?
„Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligst…“ Hat Jesus die Jünger etwa angestiftet, dieses Gebot zu übertreten? Keineswegs. Jesus geht es um die Göttlichkeit Gottes und die Menschlichkeit des Menschen – und in allem um eine große Freiheit. Jesus will den Pharisäern damals und heute das Gebot Gottes als für den Menschen gutes Gebot vergegenwärtigen, es im wahrsten Sinne des Wortes Gegenwart werden lassen. Es wird einleuchtend und wegweisend, kritisch und konstruktiv, wenn es darum geht, die je eigene Gegenwart im Sinne Gottes und zum Wohle der Menschen zu gestalten.
Die Frage nach dem Sabbat/dem Sonntag, wie wir diesen Tag gestalten, ist und bleibt uns immer wieder neu aufgegeben. Wir brauchen das offene und ernsthafte Gespräch darüber, wie wir diesen Tag nach Gottes Gebot leben können. Gottes Gebote wollen uns helfen, entlasten, nicht belasten. Ein solches Gespräch, gerade um das Thema Sabbat/Sonntagsheiligung, kann uns in ein großes Dilemma und in Spannungen führen. Wir leben in vielfältigen Spannungen. Da sind die einen, die viel zu tun haben, mehr oft, als zu schaffen ist, die sich nach dem Sonntag, dem freien Tag, sehnen. Dort sind die anderen, die diesen Tag fürchten („da ist doch nichts los“, „da darf man nichts tun/arbeiten“, ein alleinstehender Mensch denkt vielleicht: „Niemand hat Zeit für mich“). Da sind diejenigen, die dringend Entlastung bräuchten, und dort die anderen, die sich nach nichts mehr sehnen, als endlich wieder arbeiten zu dürfen, etwas zu tun zu haben, was sie befriedigt, den Tag füllt und ausfüllt. Aus dieser Spannung werden wohl nie ganz herauskommen. Deshalb ist es gut zu wissen, dass Jesus den Sabbat nicht mit der Notwendigkeit begründet, einmal auszuspannen. Es geht um mehr: um die schöpferische Ruhe (keine langweilige Ruhe!), an der Gott alle teilhaben lassen will, um die Freude an Gottes Schöpfung, um Zeit, die keinen Zweck verfolgt, um ein Dasein vor Gott, um ein Zeithaben füreinander in unseren menschlichen Beziehungen. Darauf liegt Gottes Segen. Darum segnete Gott den Sabbattag und heiligte ihn (1.Mose 2,2).
Es ist wichtig, darüber im Gespräch zu bleiben, was der Sonntag für uns heute, in unserer gesellschaftlichen und globalen Situation bedeutet und was er uns geben kann. In einer Stellungnahme der evangelischen und katholischen Kirche heißt es: „Aus der Perspektive der christlichen Botschaft unterstreicht der Sonntag den Vorrang Gottes und den Vorrang der Würde des Menschen gegenüber den Forderungen einer technisierten Gesellschaft und einer auf Gewinnmaximierung angelegten Wirtschaft. Der Mensch ist nicht nur ein Wesen, das arbeitet und konsumiert. Der Mensch ist auch zutiefst ein Wesen, das feiert und nach Lebenssinn sucht“. So klar, so ermutigend diese Worte, so sehr ist damit jedoch noch nicht das erfüllt und getan, was Jesus wohl heute sagen und heute von uns erwarten würde. Zwar gilt es, eindeutig unsere Stimme zu erheben, Position zu beziehen, aber zugleich gilt es auch in unseren je eigenen Gemeinden vor Ort, mit zu reden und mit zu überlegen, wie der Sonntag in seiner ursprünglichen Bedeutung gefeiert und begangen werden kann – in unserer Kirche und Gemeinde vor Ort, die um die Göttlichkeit Gottes und die Menschlichkeit des Menschen weiß und die darum besorgt ist, Räume zu öffnen, in denen der Feiertag für den Menschen da ist und nicht der Mensch für den Feiertag. Wir brauchen Oasen der Ruhe und der Besinnung, Orte, die gegen Langeweile und Einsamkeit Möglichkeiten der Gemeinschaft mit Gott und miteinander eröffnen und das nicht nur in der einen Stunde Gottesdienst.
Jesus hat sich nicht gescheut, Fragen des Glaubens in ihrer gesellschaftlichen und politischen Dimension zu benennen, zu diskutieren und Position zu beziehen, weil Jesus der Göttlichkeit Gottes und der Menschlichkeit des Menschen gerecht werden wollte. In diesem Sinn ist in Jesu Augen jeder Mensch ein Herr über den Sabbat.