Manchmal muss man über Wasser gehen
Wieviel Vertrauen verträgt unser Glaube?
Predigttext: Matthäus 14, 22-33 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
22 Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. 26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst! und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's, fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie traten in das Boot, und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!Exegetische und homiletische Einführung zum Predigttext
Dem Predigttext voran geht die Erzählung von der Speisung der Fünftausend (Mt 14, 13-21). Sie endet im Fest der Gemeinschaft und des Überflusses. Abrupt folgt der Wechsel, der Abbruch in die Einsamkeit: Jesus „zwingt“ (anagkazo) seine Jünger, in das Boot zu steigen und allein aufzubrechen. Die „Nachfolger“, die daran gewöhnt sind, dass Jesus ihnen vorausgeht (proago, meist mit Jesus als Subjekt), sollen jetzt selber vorausgehen. Jesus dagegen sucht die Einsamkeit auf dem Berg. Das Alleinsein Jesu wird gegenüber der markinischen Parallele (Mk 6, 45-52) doppelt betont. Allein ist auch das Boot mit den Jüngern. Der Hinweis bei Markus, dass Jesus vom Berg aus das Boot in Wind und Wellen sieht, fehlt bei Matthäus. Das für „in Not kommen“ gebrauchte Verb (basanizo) wird gewöhnlich für menschliche Qual, Krankheit und Folter gebraucht. So wird die Qual der Jünger hervorgehoben. Sie dauert lange. Jesus kommt erst in der 4. und damit letzten Nachtwache zu ihnen, zwischen 3 und 6 Uhr morgens. So lange lässt er sie allein! Gleichzeitig gilt gerade diese Zeit als die „Zeit des hilfreichen Eingreifens Gottes“ (Luz, EKK, S. 406). Wichtig ist, dass Jesus kommt, dass er dabei auf dem Wasser geht, wird in einer Partizipialkonstruktion eher nebenhin erwähnt. Von der Möglichkeit eines Seewandels ist in der biblischen Literatur niemals, im hellenistischen Schrifttum dagegen öfters die Rede. Dort wird diese Fähigkeit als menschenunmöglich betrachtet und höchstens Göttersöhnen zugeschrieben. Bei Markus will Jesus nur an dem Schiff „vorbeigehen“, Matthäus lässt das weg und betont so die direkte Zuwendung Jesu. Er reagiert auf die Furcht der Jünger sofort. „Sofort“ (euthys, eutheos) taucht insgesamt dreimal in der Geschichte auf, erhöht die Dramatik und zeigt wie unmittelbar Jesus auf seine Jünger reagiert. Sein Zuruf „Ich bin's“ hat beruhigende Wirkung („Ich bin es doch nur“), wiederholt aber auch die Offenbarung des alttestamentlichen Gottesnamens. Deswegen dürfen sich die Jünger in ihrer Not nicht nur beruhigen, sondern mehr noch guten Mutes, mutig und zuversichtlich sein (tarasso), der Mut des Petrus wird vorweg genommen. Sein Gang auf dem Wasser gehört zum Sondergut des Matthäus (evtl. ist Joh 21,7 ein Anhaltspunkt). Petrus braucht den Ruf, eigentlich die Berufung Jesu (kaleo), um seinen Mut in konkretes Handeln umzusetzen. Der Imperativ „Komm her!“ wird zum Indikativ „Du kannst es!“, ähnlich der Bergpredigt: Seid vollkommen, wie auch euer Vater vollkommen ist. Wie in Zeitlupe wird beschrieben, wie Petrus aus dem Boot steigt, auf dem Wasser geht und auf Jesus zu kommt, um so schneller dann seine Furcht und die Hand, die sich ihm entgegen streckt (vgl. Ps 144,7!). Hand in Hand steigen sie in das Boot. Jesus bannt nicht nur die Gefahr für Petrus, sondern für alle Jünger, der Wind legt sich. „Du Kleingläubiger“, sagt Jesus zu Petrus, als wiese er ihn nicht nur auf eine vorübergehende Schwäche, sondern auf ein Grundcharakteristikum seines Glaubens hin. Nur vermeintlich im Gegensatz dazu steht das Bekenntnis der Jünger, das das Petrusbekenntnis (Mt 16,16) vorweg nimmt: „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.“ An einem Taufsonntag mit mehreren Kindern eignet sich für die Predigt eine narrative Grundsituation. Dabei sollen Erfahrungen des Allein(verantwortlich)seins, des (Über)mutes und der Angst eingeholt werden. Dass die Begegnung mit Jesus uns über unsere Grenzen hinauswachsen lässt, gleichzeitig aber immer wieder in unsere Grenzen verweist, kann vielleicht zu den „signa“ eines Lebens aus der Taufe gerechnet werden, dem im „Jahr der Taufe“ nachzudenken ist. Literatur: Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17), EKK, 2. Teilband, Neukirchen 1990(Vorbemerkung: In der Gemeinde ist Taufsonntag, es werden Kinder getauft.)
Liebe Gemeinde!
Übergänge
Wie war das, als Sie nach der Geburt Ihres Kindes das Krankenhaus verließen, sich von den Schwestern verabschiedeten und Ihr Kind mit nachhause nahmen? Wie war das Gefühl: Ab jetzt sind wir allein verantwortlich? Wie war das, kurze Zeit später, als die Urlaubstage vorbei waren, der eine Elternteil wieder arbeiten ging und der andere zuhause zurückblieb mit dem Kind, den ganzen Tag, das Telefon zwar in Reichweite aber doch im Wissen: So, mein Kleiner, jetzt sind wir zwei erst mal auf uns gestellt? Wie wird es sein, für Ihr Kind, wenn es zum ersten Mal allein, ohne Sie, bei Oma übernachten darf oder in den Kindergarten geht? Welche eigenen Erinnerungen tauchen da bei Ihnen auf? Gehörten Sie zu den Mutigen oder schlugen die Wellen der Angst hoch? So viele „Zum ersten Mal allein“ gibt es in einem Menschenleben, und irgendwann ein „Zum ersten Mal allein“ ohne Rückhalt, ohne Halt. Ähnliches haben die Jünger Jesu auch einmal erlebt.
(Lesung des Predigttextes)
Freiräume
Liebe Gemeinde, „Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen“. Da steht Druck dahinter, das kam zumindest überraschend. Dabei war es vorher so schön. Eine riesige Gemeinschaft waren sie gewesen, 5000 und vielleicht noch mehr. Erst waren sie in Verlegenheit wegen des Essens, aber dann wurde ein richtiges Fest daraus. Wäre ich so ein Jünger gewesen, ich hätte mir wohl gewünscht, Jesus würde irgendwann dann doch die Leute nachhause schicken, und wir, seine engsten Freunde und Vertrauten, könnten noch etwas mit ihm zusammen sitzen, gemütlich plaudern und den Tag an uns vorüberziehen lassen. Statt dessen aber schickt Jesus seine Freunde weg, „Fahrt schon mal vor“, sagt er, er will alleine die Leute verabschieden. Vor allem: Er will danach ganz alleine sein.
Für Kinder ist es schwer zu verstehen, dass Eltern auch mal ihren Freiraum brauchen, für die Jünger ist es das auch. Wir hören mit beiden Ohren, können uns sowohl in die Jünger als auch in Jesus hinein fühlen. Jesus gibt uns recht, uns Eltern, uns Arbeitenden, wenn wir sagen: Ich muss auch mal allein sein, zu mir selber zurück finden, mir meine eigenen Kraftquellen wieder neu erschließen. Jesus geht auf den Berg, um zu beten. Hier ist seine Kraftquelle. Er, der von Gott kommt, spürt im Gebet, wer er wirklich ist und was er zu tun hat. Aber die Bedürfnisse nach Freiräumen sind nicht immer miteinander kompatibel. Wenn einer allein sein will, dann fühlen sich andere vielleicht allein gelassen. Das muss ausgehalten werden.
Mit im Boot
Wir übernehmen die Perspektive der Jünger und steigen mit in das Boot. Ein Boot auf dem See – das ist ja immer ein kleines Sinnbild für die Lebensreise. Jesus auf dem Berg und wir auf dem See, schon weit weg vom Land, da ist Abstand fühlbar. Irgendwann war es dann ja auch so. Da ist Jesus mit seinen Freunden auf den Berg und von dort aus in den Himmel gefahren, und die Freunde mussten umkehren in ihr neues Leben ohne Jesus. Es kommt wie es kommen muss. Der Wind wird stärker und mit ihm die Wellen auch, die Jünger ergreifen die Ruder und quälen sich ab, um das Boot einigermaßen im Gleichgewicht zu halten. Es ist so, wie wir uns manchmal anstrengen müssen, um unser Leben einigermaßen im Gleichgewicht zu halten zwischen all den vielen Erfordernissen, die wie ein starker Seewind auf uns einstürmen.
In der vierten Nachtwache kommt Jesus zu ihnen. Damals war die Nacht in vier Wachezeiten eingeteilt. Die vierte war also die letzte Nachtwache – früh morgens zwischen 3 und 6 Uhr. So lange hat Jesus gebetet, und so lange waren die Jünger allein! Wie müssen ihnen die Kräfte schon erlahmt sein, wie müssen sie sich verlassen gefühlt haben! „Jesus sieht mich überhaupt nicht, Gott sieht gar nicht, was ich durchmachen muss“, dieses Gefühl ist auch uns manchmal nahe. Dann ist Jesus plötzlich da, wie selbstverständlich. Von seiner Perspektive sieht es eben ganz anders aus. Wenn Jesus allein ist mit Gott, lässt er uns nicht allein. Dann ist er im Gebet eins mit seinem Vater, hat teil an seinem weiten wissenden Blick. Aber die Jünger, in der Dunkelheit, den Blick vor Schwäche und Angst getrübt, erkennen ihn nicht. Sie schreien: „Hilfe, ein Gespenst!“ So wie wenn uns schon alles zu viel ist und es kommt noch etwas dazu, und wir denken: Hilfe, auch das noch!
Mut
Aber gerade dieses „Auch das noch“ erweist sich als die Rettung. Ich kenne Situationen, in denen zu den ohnehin schon zahlreichen Aufgaben ungeplant noch ein Termin dazu kommt. Aber anstatt dass ich ganz verzweifle, habe ich fast das Gefühl von Entspannung und denke: Gut, dann ist es jetzt eben so, dann wirst du das irgendwie auch schaffen, und ich bin wieder ein wenig mehr im Einklang mit mir. Die Jünger fühlen sich wieder im Einklang mit Jesus. „Seid getrost, ich bin’s, fürchtet euch nicht!“, ruft Jesus ihnen zu. Merkwürdig, der Wind hat nicht aufgehört, die Wellen schlagen noch gegen das Boot, aber das Blatt hat sich gewendet, sofort sieht alles ganz anders aus. Das Gefühl „Uns kann ja gar nichts passieren“ stellt sich ein. Ein Kind springt von einer hohen Mauer in die Arme des Vaters, es kann gar nicht übersehen, was es da eigentlich tut, braucht es auch gar nicht, der Vater steht ja da. Es würde auch von noch höher springen. Petrus ist jetzt ein bisschen wie so ein Kind. So wie ein Kind die Aufforderung des Vaters braucht: „Jetzt spring!“, so braucht Petrus die Aufforderung Jesu: „Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.“ Menschenunmöglich eigentlich. Damals in der Antike hat man darüber diskutiert, ob es Menschen möglich sei, die Gefahren des Wassers so leicht zu überwinden – so wie Menschen immer davon geträumt haben, fliegen zu können. Aber man wusste: Nein, das geht nicht, niemals, das müssten Halbgötter sein, die das könnten. Jesus weiß das wohl. Aber er wehrt Petrus nicht ab, weist ihn nicht in seine Schranken. Er sagt einfach: „Komm her!“
Vertrauen
Liebe Gemeinde, gleicht Jesus den Eltern, die ihr Kind laufen lassen und sagen: Wenn es hin fällt, fällt es eben hin, es muss seine Erfahrungen selber machen? Liebt Jesus die Risikofreudigen, denen Sicherungen nicht so wichtig sind, die sich eher zu viel zutrauen als zu wenig? Will Jesus uns dazu ermutigen, unsere Grenzen nicht zu eng zu setzen, uns lieber mehr zuzutrauen als weniger, uns aufs offene Wasser zu wagen? Ich glaube, etwas von all dem ist schon dabei. Aber im Grunde geht es darum: Wie viel Vertrauen verträgt unser Glaube? Natürlich ist Petrus kein Kind mehr, und natürlich geht es nicht darum, über den Rhein zu spazieren bis nach Kandel, Ihrem zukünftigen Wohnort, liebe Familie K. Aber wir alle haben Dinge, die uns Angst machen, die wir uns nicht zutrauen, die wir lieber in andere Hände geben: Mach du mal, ich kann das nicht. Wir alle kennen Situationen, die uns Angst machen, bei denen sich alte Erinnerungen wie Wellen auftürmen und an den Rand unseres Lebensbootes schlagen. Jesus sagt: Komm her! Wage es, setze dich dem aus, was dir Angst macht, lass dein Vertrauen größer sein als deine Angst. Komm zu mir.
Leben aus der Taufe
In der Taufe, liebe Gemeinde, erfahren wir Beides: das unstete bewegte Wasser, das unser Leben bedrohen kann, aber gleichzeitig dieses Wasser, das in Gottes Wort und Nähe eingefasst ist: „Seid getrost, ich bin’s, fürchtet euch nicht!“, ruft Jesus. Petrus steigt langsam aus dem Boot, geht die ersten Schritte, geht auf Jesus zu, und dann hat es die Angst doch geschafft und verschlingt ihn. Er schreit: „Herr, hilf mir!“ Sofort streckt Jesus seine Hand zu Petrus hin aus. „Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“ Mich bewegt das Bild, wie sie dann beide Hand in Hand zum Boot zurück gehen, zurück zu den anderen, deren Angst Jesus nicht aus dem Blick verloren hat. Kaum treten Jesus und Petrus in das Boot, legt sich der Wind. Das Wasser wandelt sich von der Bedrohung zum Leben, vom unsteten Wechsel zum Zeichen der Treue Gottes. Die im Boot sind überwältigt von Gottes Nähe, sie spüren sie in diesem Menschen, in Jesus. „Du bist wahrhaftig Gottes Sohn“, sagen sie, du bist Gott in unserer Nähe, du bist alles für uns, alles was wir brauchen. Liebe Gemeinde, zu diesen Menschen im Boot gehören auch wir durch unsere Taufe. Jesus erwartet nicht von uns, dass wir Übermenschen werden. Aber er will uns helfen, unsere Ängste zu überwinden, indem wir sie uns eingestehen und mutig überschreiten im Vertrauen auf ihn. Wer seinem Ruf folgt, muss manchmal über Wasser gehen. Aber wer sich seinem Ruf aussetzt, erfährt seine Nähe und Hilfe.
Amen.
Der Wert eines gründlichen Bibelstudiums nach dem Urtext zeigt diese ermutigende und vertrauensfördende Predigt schön. Daraus erschließt Pfarrerin Krumm überzeugend als Kern des Predigttextes im Hinblick auf den christlichen Glauben und die christlichen (Kinder-)Erziehung die Botschaft Jesu.
Zum Thema Wunder (Wandeln auf dem Wasser) sei angemerkt: E. Drewermann sieht darin in seinem Matthäus- und Markus-Kommentar tiefenpsychologisch begründete religiöse Erfahrungen. Unsere menschliche Erfahrung ist, dass wir auch als Christen im Sturmwind der Zeit über Wasser gehen müssen, die trügerisch und schicksalsschwer sein können. Millionen Mal bezeugt machen wir immer wieder und überall wie Petrus die Erfahrung, dass uns Jesus vom Untergehen rettet.