Die Liebe Gottes wiederspiegeln

Das Geschenk eines Jahres – wie nutzen wir es?

Predigttext: 2. Mose / Exodus 13,20-22
Kirche / Ort: Philippuskirche / Mannheim
Datum: 31.12.2011
Kirchenjahr: Altjahresabend
Autor/in: Justizrätin Margit Fleckenstein, Präsidentin der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden

Predigttext: 2. Mose / Exodus 13,20-22 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

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In wenigen Stunden beginnt das Jahr 2012. Wir schauen zurück, halten bewusst inne, denken vor Gott daran, was da alles war in diesem Jahr – Schönes, Gelungenes, Beglückendes oder Schweres, Trauriges, Beängstigendes. Gott hat uns dieses Jahr geschenkt. Wie haben wir es genutzt? Was haben wir daraus gemacht? Es wird Zeit für uns, Abschied zu nehmen. Trauern wir dem Jahr 2011 nach wie einem guten, alten Freund, der uns verlässt? Oder atmen wir befreit auf wie nach einem bösen Traum, dass nun bald etwas Neues beginnen kann? Die meisten von uns werden wohl mit gemischten Gefühlen, mit einem lachenden und einem weinenden Auge das neue Jahr begrüßen. Noch weiß niemand von uns, was es bringen wird. Ich frage mich, ob das überhaupt möglich ist, Abschied zu nehmen von einem Jahr – so als ginge das alte Jahr wie durch eine Tür davon und ließe mich allein zurück? Ein Kalenderjahr wäre dann bloß eine Folge von Terminen und Ereignissen, die mich dankbar oder traurig gemacht haben. Wenn das so wäre, dann könnte ich in der Tat fröhlich und unbekümmert vom alten Jahr Abschied nehmen und sagen: “Weg damit!” Doch indem ich das neue Jahr willkommen heiße, bin ich doch auch immer noch mit dem alten verbunden. Denn 2012 wird ebenso wie das vergangene Jahr für mich nicht bloß ein Kalenderjahr sein, sondern ein Jahr meines Lebens, ein Stück meiner Lebenszeit, die zu mir gehört wie mein Name.

Mit der Christenheit in der gesamten westlichen Welt feiern wir heute am Altjahrsabend Gottesdienst. Im Kalender des Kirchenjahres ist immer noch die Weihnachtszeit angezeigt: die Gnaden bringende, fröhlich und selig machende Weihnachtszeit. Weihnachten feiern wir die Geburt Jesu Christi, Gott ist in ihm unter uns auf der Erde erschienen, um ganz unser menschliches Leben zu teilen. Diese weihnachtliche Zeitenwende und der Jahreswechsel – wie gehört das für uns als christliche Gemeinde zusammen? Der uns vorgegebene Predigttext ist für die Beantwortung dieser Frage hilfreich. Er ist dem biblischen Bericht entnommen über die Befreiung des Volkes Israel aus der Knechtschaft in Ägypten und seiner langen Wanderung in das gelobte Land. Ich lese aus dem 13. Kapitel des 2. Buchs Mose die Verse 20 bis 22.

(Lesung des Predigttextes)

Das Volk der Israeliten am Rande der Wüste flieht vor übermächtigen Verfolgern und wird Gefahren bestehen, in denen es nach menschlichem Ermessen untergehen müsste. Aber immer wieder erfährt es von Gott die Rettung. Einen Ausschnitt aus diesen Jahrzehnten der Bedrohung und der Rettung erfahren wir mit unserem heutigen Text. Der Unsichtbare wird sichtbar. Als Gott sein Volk Israel aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreite, ging er vor ihm her als Wolke und Feuer. Er ging ihm voraus, was entschieden etwas anderes als mitgehen ist. Die Wolkensäule nah und fern am Horizont des südlichen Himmels: glühend bei Nacht, als wanderndes Zeichen, das führt und leuchtet – beruhigende, beängstigende, treue Gegenwart Gottes. Unserem berechtigten Verlangen am letzten Abend des vergehenden Jahres nach Orientierung und Führung scheint das Motiv der Wolken- und Feuersäule in geradezu idealer Weise zu entsprechen. Doch ist hier Vorsicht angebracht. Zum einen verbietet es der Respekt vor dem Geschick des jüdischen Volkes, seine Erfahrungen mit der befreienden Zuwendung Gottes, die seine Identität stiften, fraglos und ohne weiteres für uns in Anspruch zu nehmen. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass unser Bibeltext von der Führung des Volkes Gottes spricht, so dass er nicht einfach für einen jeden und eine jede von uns individuell als Zusage der guten Führung Gottes beansprucht werden kann.

So führt uns der Text geradezu zu der Frage nach unserer christlichen Identität. Wir Christen leiten unsere Identität aus der Menschwerdung Gottes ab, die wir an Weihnachten feiern. Durch den Glauben an Jesus Christus sind wir vor Gott gerechtfertigt. Die Krippe und das Kreuz Jesu Christi sind das Pluszeichen vor der Klammer unseres Lebens. Im Kreuz als Symbol menschlicher Schuld und göttlicher Weisheit, als düsterem Zeichen des Leidens und Sterbens, aber auch des Triumphs des Lebens über den Tod erblicken wir Christen unsere Identität.  Am 1. Januar haben wir Gottesdienst gefeiert und die Predigt und unser Nachdenken unter das Motto der Jahreslosung aus dem Römerbrief gestellt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“. Was ist in diesem Jahr in der Welt, in unserem Land, in unserer Stadt, in unseren Familien, in unserem Leben an Gutem oder Bösem geschehen? Das zurückliegende Jahr betrachten wir gleichsam wie einen Spiegel, in dem sich das Vergangene noch einmal widerspiegelt.

Eine Geschichte von Paul Martone erzählt: Der Teufel hatte einen Spiegel gemacht, an dem er seine teuflische Freude hatte. Dieser Spiegel zeigte alles Gute ganz klein und alles Schlechte ganz groß. Überall hielt der Teufel diesen Spiegel hin. Es gab keinen Menschen, der nicht verzerrt darin zu sehen war. Eines Tages musste der Teufel über das Ekelhafte, das er im Spiegel sehen konnte, so lachen, dass ihm der Spiegel aus den Händen fiel und in Millionen kleine und große Scherben zerbrach. Ein heftiger Sturm wehte die Scherben über die ganze Erde. Die winzigen Scherben blies der Sturm den Menschen in die Augen. Von da fingen die Menschen an, an ihren Mitmenschen nur das zu sehen, was schlecht an ihnen ist. Aus manchen Spiegelscherben wurden Fensterscheiben gemacht. Die Menschen, die durch diese Fenster schauten, sahen an ihren Nachbarn nur Schlechtes. Andere Spiegelscherben wurden als Gläser in Brillen verwendet. Wenn Leute diese Brillen aufsetzten, dann war es schwer für sie, in Mitmenschen etwas Gutes zu sehen.

Als Gott sah, wie verkehrt viele Menschen ihre Mitmenschen sahen, hatte er Mitleid und beschloss ihnen zu helfen. Gott sagte: Ich werde meinen Sohn Jesus Christus in die Welt schicken. Er ist mein Ebenbild, mein Abbild, mein Spiegelbild. In ihm spiegelt sich meine Liebe, meine Güte, meine Barmherzigkeit. Er spiegelt den Menschen, wie ich den Menschen sehe. Viele Menschen liebten den Spiegel Gottes und waren begeistert von ihm. Andere aber ärgerten sich über den Spiegel Gottes, sie griffen ein und zerbrachen ihn, indem sie Jesus töteten. Aber da erhob sich wiederum ein Sturm – der Sturm des Heiligen Geistes. Er blies die Splitter des Spiegels Gottes über die ganze Welt. Wer nur einen winzigen Splitter des Spiegels Gottes in sein Auge bekommt, der lernt die Menschen so sehen, wie Gott sie sieht: Das Gute fällt zuerst ins Auge.

Das neue Jahr betrachten wir nicht wie einen Spiegel, sondern eher wie eine vor uns liegende weite Landschaft, in die wir hineingehen, die wir gestalten. Wäre das nicht  ein Vorsatz für das Neue Jahr: selbst die Liebe Gottes widerzuspiegeln und unsere Mitmenschen so zu sehen, wie Gott sie sieht? Wir wissen: Christus ist das vollkommene Spiegelbild Gottes. Nur von dort kommt mein Heil. Auch mein Leben mit all meinem Versagen, mit aller Schuld ist gehalten. Es liegt in Gottes Händen. Bei ihm brauche ich nichts zu befürchten. Die Gebrochenheit menschlicher Existenz ist gehalten durch das Kreuz Christi als Symbol der Barmherzigkeit und der grenzenlosen Liebe Gottes. So können wir in dieser Stunde zwischen den Jahren voll Gottvertrauen in das kommende Jahr hineingehen. Alle Zeit ist Gottes Zeit. Auch 2012 ist ein Jahr des Herrn, von dem das Psalmwort zum Altjahrsabend kündet: Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. (Psalm 103,8)  In Jesus Christus sind wir Teil des Gottesvolks auf seiner Wanderung hin zum himmlischen Jerusalem. Die Wolken- und Feuersäule geben uns ein Versprechen mit auf den Weg: Was immer wir tun, was immer uns erwartet im neuen Jahr, Gott ist mit uns auf dem Weg, er geht uns voraus und führt unsere Schritte auf weiten Raum. Diese Glaubensgewissheit steht für eine Wirklichkeit, die wir erleben werden. Mit dem Volk Israel wissen wir um Gottes Barmherzigkeit und um seine Treue. Gott hält alle seine Verheißungen. Nichts, was im kommenden Jahr auf uns zukommt, kann uns scheiden von seiner Liebe und Treue.

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