Mut, beim Entscheidenden zu bleiben
Leben aus Vertrauen und mit Vertrauen – „Cantate Domino“
Predigttext: Apostelgeschichte 16,23-34 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
23 Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. 24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie. 26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab. 27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. 28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! 29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. 30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muß ich tun, daß ich gerettet werde? 31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! 32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. 33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, daß er zum Glauben an Gott gekommen war.
Paulus, wenn ihr, Silas und du, betet als Gefangene, verstehe ich das. Aber singen mitten in der Nacht, Gott loben?
– Was sollten wir denn sonst tun? Klagen, jammern? Gewiss war das alles andere als angenehm: mit den Füßen im Holzblock, da kannst du dich nicht einmal ordentlich hinlegen zum Schlafen. Aber klagen, jammern? Damit hätten wir unsere Situation nur schlimmer gemacht. Wir hätten die bestätigt, die uns einsperren ließen: Sie wollten uns verletzen, zumindest in unserer Würde. Mit unserem Jammern und Klagen hätten wir ihnen bestätigt: Es ist ihnen gelungen uns zu demütigen. In dieser Nacht stand für mich aber etwas Anderes im Vordergrund: Nach dem Traum war ich mir sicher, wir sollten von Kleinasien hinübergehen nach Europa. Wir hatten unser Missionswerk in Griechenland noch kaum recht begonnen, da passierte das in Philippi. Wenn Gott mich aber nach Europa ruft, dann hat er noch etwas mit mir vor, dann kann das hier im Gefängnis nicht das Ende sein. Immerhin ist hier in Philippi sofort eine kleine Gemeinde entstanden, das ist doch ein Erfolg! Nicht zuletzt: Wir sind konsequent geblieben, manche sagen vielleicht: „hart“. Aber war es Härte, als wir deutlich gezeigt haben: Wenn da einige aus den religiösen Vorstellungen einer Sklavin Geld machen und ihre Praktiken zu einem lukrativen Geschäft, hat das mit dem Glauben an Jesus Christus nichts zu tun. Einige haben darum die Behörden gegen uns aufgehetzt; soll ich das als Misserfolg werten? Immerhin haben die verstanden: Mit dem Glauben an den Gekreuzigten und Auferstandenen ist das nicht vereinbar. War es Härte? Wir hatten Mut, beim Entscheidenden zu bleiben. Das hat diese Haft bestätigt. Ich frage noch grundsätzlicher: Sollte nicht jedes Gebet mit einem Lob beginnen? Ist nicht alles Entscheidende in unserem Leben ein Geschenk von Ihm?
An einen Mitgefangenen: Du bist mit einigen anderen zur gleichen Zeit im Gefängnis gesessen. Du hast mitten in der Nacht die beiden Apostel gehört? Wie ging es dir dabei?
– Ich glaube ja nicht, dass das Beben oder was das war, gekommen ist, weil die gebetet und gesungen haben. Wir haben dann auch nicht ausprobiert, ob alle Türen aufgesprungen sind. Aber da ist mitten in der Nacht etwas aufgebrochen, da hat sich, als es um uns und in uns dunkel war, etwas verändert. Nein, frei fühlte ich mich nicht, als ich die beiden hörte. Aber ein Hauch von Freiheit ist in unsere Zelle hereingeweht. Mitten in der Nacht hat sich eine Tür oder ein Fenster geöffnet – auch ohne Erdbeben – oder soll ich sagen: Es ist ein Licht aufgegangen mitten in der Dunkelheit? Ich war ja aus einem anderen Grund eingesperrt als die beiden Jesus-Boten. Ich wusste in dieser Nacht noch lange nicht, wie mein Prozess ausgehen würde. Da ist – bei allen Gesetzen – so viel Willkür im Spiel. Aber die Haft ist leichter geworden. Vor allem aber haben mich die beiden durch ihr Beten und Singen hineingenommen in eine größere Gemeinschaft – soll ich sagen: Familie? Mir war nach Beten nicht zumute; zu sehr habe ich mich gewundert darüber, was die beiden da von sich gegeben haben. Außerdem haben sie sich an einen anderen Gott gewandt als an die Götter, die ich hier in Griechenland kenne. Von Jesus habe ich in dieser Nacht zum ersten Mal gehört. Der soll ans Kreuz geschlagen worden sein von den Römern, aber sich hinterher trotzdem lebendig gezeigt haben. Ist der nun ein Gott oder ein Mensch? Zu dem soll ich beten? Ich weiß es noch nicht. Aber ich habe gespürt: Im Beten haben die sich mit mir verbunden, sie haben mir gezeigt: Wenn ich mitbete, gehöre ich in eine andere Gemeinschaft, unabhängig davon, ob ich jetzt gefangen bin oder in Freiheit meine Wege gehe.
Du als Gefängniswärter hast dir das Leben nehmen wollen?
– Ich weiß nicht, ob es ein Traum war. Jedenfalls bin ich aufgeschreckt mit dem Gefühl: Da hat die Erde gebebt. Als ich nach dem Rechten sah, stand tatsächlich die Tür offen, die Haupttür. Für mich brach eine Welt zusammen: Manche spotten über mein Pflichtbewusstsein, aber ich lebe für meinen Beruf, ich bin mein Beruf und hatte den ausdrücklichen Auftrag, auf diese beiden Migranten aus Asien besonders aufzupassen. Nun stand die Tür offen. Es war die Angst, die beiden könnten weg sein. Heute überlege ich, möglicherweise war ich genauso gefangen wie die in der Haft. Ich ein Gefangener meiner Angst, abhängig von der Obrigkeit, eingesperrt in mein Pflichtbewusstsein… Da bebt die Erde – und mir wird womöglich alles zerschlagen, alles, was mich ausmacht, alles, was zu meinem Leben gehört. Heute weiß ich: Dieses Beben, auch wenn es nur ein Beben in mir war – aber wie konnte sich die Tür öffnen und wie die Blöcke von den Füßen der Gefangenen sich lösen? – dieses Beben hat mich befreit, in mir ist mindestens eine Tür aufgesprungen. Ich habe in dieser Nacht – hinterher in unserer Wohnung – zum ersten Mal etwas von diesem Jesus gehört; aber es kam mir bei mir vor wie bei diesem Jesus: erst der gewaltsame Tod, dann das Leben. Bei mir zuerst die Angst bis zum Entschluss, mein Leben auszulöschen, dann ein Leben aus diesem Jesus und mit ihm. Es war ja ein kurzer Taufunterricht und ich als Mann – wir Männer müssen ja immer etwas mit unseren Händen tun – habe die Wunden ausgewaschen und gesalbt, die ihnen die Peitschenschläge zugefügt hatten.
Ich wollte verstehen, warum die beiden nicht geflohen sind. Nicht nur, weil sie ihre Ehre als römische Bürger retten wollten. Ich spürte die Freiheit, von der sie erfüllt waren. Beide erzählten von ihrem Leben, von ihrem bisherigen Weg. Da hatte sich so viel geöffnet, beide sahen sich befreit aus dem Gefängnis ihres früheren engen Lebens. Nun wollte ich dazu gehören. Nachdem ich Wasser gerichtet hatte für ihre Körperpflege, war das Wasser da: Wie wunderbar, um da dazu zu gehören, braucht es nur Wasser und das Wort vom lebendigen Jesus – und bei mir das Vertrauen in Ihn. Aber das Vertrauen ist bei mir von alleine gewachsen. Von dem Moment an, wo sie mir zuriefen: „Tu dir nichts an!“, bis zur gemeinsamen Mahlzeit ist dieses Vertrauen gewachsen. Dabei kann ich selber gar nicht mehr unterscheiden zwischen meinem Vertrauen zu diesem ihrem Gott und zu diesem Jesus auf der einen Seite, zu diesen beiden Männern auf der anderen Seite. Vertrauen in der einen Richtung schließt das andere für mich ein. Für mich waren das also nicht nur ein Beben und ein Aufspringen von Türen. Ich bin in das hinein geraten, was die beiden Auferstehung nannten.
An dessen Frau: Warst du als Frau des Aufsehers nicht überrumpelt, als er dich und eure Familie gleich mittaufen ließ?
– Überrumpelt nicht, nur überrascht. Aber das war bei uns so üblich: Der Mann entscheidet, was in der Familie und mit der Familie geschieht. Das war bei ihm nur die Fortsetzung seines Berufes: darauf achten: In der Familie soll alles in Ordnung sein. Ich bin vom Beben nicht wach geworden, er hat mich geweckt. Nennen Sie es „überrumpeln“, ich bin froh darüber. Denn er ist ein anderer geworden, er ist heraus gekommen aus der Gefangenschaft seines Berufes, seiner strengen, manchmal grausamen Berufsmoral in eine Haltung voller Vertrauen und Lebensfreude. Mich hat er mitgenommen, soll ich sagen: in die Freiheit? Soll ich mich beklagen, weil er über mich bestimmt hat? Im Gegenteil: Beim Taufen hat mich Paulus nicht mehr nur „Frau des Gefängniswärters“ genannt, sondern mich mit meinem Namen angesprochen. Ich habe gemerkt: Ich bin gemeint, wirklich ich. Nicht bloß als Frau von… und Mutter von… und Tochter von… mit der und der Aufgabe. Vor diesem Gott und neben diesem Jesus, in dessen Auftrag sich unsere beiden Gäste verstanden, bin ich wirklich ich. Ich bin geachtet und geschätzt ohne die ständige Prüfung, ob ich meine Rollen gut spiele. Ich darf leben aus Vertrauen und mit Vertrauen. Vor diesem Gott bin ich für mein Leben selbst verantwortlich und darf wirklich ich sein.