Seelische Hygiene
Herunter vom hohen Ross des eigenen Rechthabens
Predigttext: 1. Johannes 1,5 - 2,6 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
5 Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. 6 Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. 7 Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. 8 Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. 9 Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. 10 Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
2,1 Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. 2 Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. 3 Und daran merken wir, daß wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. 4 Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. 5 Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, daß wir in ihm sind. 6 Wer sagt, daß er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.
Exegetische und homiletische Hinweise zum Predigttext
Die Johannesbriefe sind anonyme Schreiben, deren Autoren gnostische Begrifflichkeiten und Gegensatzpaare verwenden wie Licht-Finsternis, Wahrheit-Lüge, die den Lesern bekannt sind und bestimmte Assoziationen wecken. Der Verfasser des 1.Johbr gehört offenbar der johanneischen Schule an, will diese Tradition „verkirchlichen“, bestehende Gemeinden stärken und zum Bleiben in der christlichen Gemeinde und zur Gemeinschaft mit den anderen Gläubigen ermuntern. Dabei liegt die Betonung auf der Menschwerdung Christi, des Gottessohnes. Wie sieht das Leben im Licht aus? Es hat offenbar Christen gegeben, denen das dargelegt und erklärt werden musste.Leben im Licht heißt: Zu behaupten, Gemeinschaft mit Gott zu haben, aber in der Finsternis zu wandeln, das gehtnicht. Gemeinschaft untereinander und das feste Zutrauen, dass das Blut des Gottessohnes Jesus Christus uns rein macht. Gemeinschaft untereinander und das feste Zutrauen, dass das Blut des Gottessohnes Jesus Christus uns rein macht. Niemand soll sagen, er habe keine Sünde, weil das Selbstbetrug ist. Die Anerkenntnis der Sündhaftigkeit ist Vorraussetzung der Vergebung Gottes. V. 10 sagt nochmals: Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, machen wir Gott zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Der erste Schritt zum „Leben im Licht“ ist also das Anerkennen des eigenenSündenverhaftetseins. Gnostisch ist die Behauptung, einen Zustand der Sündlosigkeit erreichen zu können. Es gibt bis heute Meinungen, Anschauungen, Gruppen, Sekten, die behaupten, Wege dahin zu wissen und diesen Zustand erreichen zu können. Das ist mit enormen Anstrengungen verbunden und wohl aus der Angst geboren, verlorengehen zu können. Demgegenüber steht das tapfere Erkennen, dass alles im Leben zur Sünde werden kann und eben das Verhaftetsein in der Sünde bedeutet.
Martin Luthers „pecca fortiter“ meint aber nicht "alles eh wurscht“, sondern ermutigt auf das umso festere Zutrauen auf Christus, der uns versöhnt, wieder zu Gottes Kindern macht. Mit diesem neugeschenkten Leben können wir tapfer unseren Weg gehen. Der „Mut zum Sein“ (Paul Tillich) speist sich aus dieser Quelle. Wir können das Leben anpacken, auch im oder trotz des Wissens, dass alles im Leben zweideutig ist und erst im Licht Gottes eindeutig wird, unser Leben zu einem Einklang mit uns selbst, mit Gott und den Mitmenschen kommt. Der „rechte“ Glaube erweist sich darin, dass der Gläubige in der Gemeinde bleibt.
Es gibt ein Leiden an der Kirche, an der Gemeinde. Mancher mag denken: Es ist doch unsäglich, was es an Streitereien und Zerwürfnissen in den christlichen Gemeinden gibt. Das ist, wie es aussieht, nicht erst heute so. Christen aller Zeiten machten sich viele Gedanken um den rechten Weg zum Heil und stritten sich mit anderen, die das anders sahen. So war es auch in der dritten Generation nach Christus in Kleinasien, ein Gemeindegebiet, das mit dem johanneischen Vokabular vertraut war, für die ein bestimmter Sprachgebrauch nicht lange erklärt werden musste. Begriffe wie Logos, Wahrheit, Lüge, Finsternis, Licht, Erkenntnis waren geeignet, mit ihnen über christliches Leben nachzudenken. Die gewarnt werden mussten vor Seelenfängern, die sich eben auch dieses Vokabulars bedienten und ihnen einreden wollten, es gäbe die Möglichkeit, ein sündloses Leben zu führen ohne die Geschwister im Glauben, ohne die Kirche. Die sagten etwa: Man muss sich aus der Kirche, aus der Gemeinde zurückziehen, weil die einen an einem gottgefälligen Leben hindert. Irrtum!, sagt der Johannesbrief. Er verweist immer wieder auf die Gemeinschaft untereinander, auf das Blut Jesu, des Gottessohnes, das uns reinigt von aller Sünde. Das heißt doch: Lenkt eure Sehnsucht nicht als geistiges Ziel in den Himmel, sondern bleibt auf der Erde in der christlichen Gemeinde, habt Gemeinschaft mit den anderen Christen. Diese Gemeinschaft wird begründet und getragen durch das Mensch gewordene Wort Gottes: Jesus Christus.
Das „Leben im Licht” heißt: Liebe zu den Mitchristen. Nicht das Verabschieden aus der Gemeinde bringt das Heil, sondern das Bleiben in ihr. Das Weggehen aus ihr ist „Wandeln in der Finsternis“. Nun weiß jeder, dass es auch in der christlichen Gemeinde manchmal reichlich duster aussieht, wenn es um ein Leben im Glauben geht. Aber außerhalb der Gemeinde sieht der Autor des Johannesbriefes gar keine Chance für ein Leben im Licht. So scheint das ganze Schreiben eins „für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ zu sein. Es geht um gemeindliche Probleme. Der Brief ist an Menschen gerichtet, die sich – aus was für Gründen auch immer – aus der Gemeinde wegbegeben, wollen, weil sie sich über vieles geärgert haben, weil sie nicht den Zuspruch und den Trost gefunden haben, den sie sich erhofft hatten, weil sich vielleicht mit jemandem zerstritten haben und meinen, dass sie ohne Gemeinde, ohne Kirche, besser ihren Weg zur Erlösung finden. Irrtum!, steht im 1.Johannesbrief. Bleiben in der Gemeinde heißt „Wandeln im Licht“, und Sündenanerkenntnis ist die Grundlage der Vergebung. Vergebung ohne vorheriges Anerkennen des falschen Weges, des schuldhaften Versagens, funktioniert nicht etwa nach dem Prinzip “Schwamm drüber”, wir wollen nicht mehr drüber reden, wir wollen uns wieder lieb haben. Das ist billige Gnade, die nicht trägt, eine Einbahnstraße, die in eine Sackgasse führt. Aber immer wieder versuchen Menschen, ihre Schwierigkeiten im Miteinander auf diese Weise zu lösen, wieder miteinander klar zu kommen, in der Kirche als auch außerhalb ihrer. Ich denke an die ganze Stasidebatte der letzten 20 Jahre: „Es muss doch mal vorbei sein, wir wollen nicht mehr drüber reden”. Dabei liegt die Last der Verstrickung auf den Schultern der Täter und der Opfer. Diese Last bleibt liegen und verdirbt von dorther jeden gut gemeinten Neuanfang. Das gilt für alle Bereiche, wo sündhafte Verstrickungen auf Seelen liegen. Im 1. Johannesbrief steht: „Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit”.
„Pecca fortiter!“, sündige tapfer, so ermuntert Martin Luther seine Mitmenschen, ihr Leben mutig anzupacken und ihm ins Gesicht zu schauen, das feste Zutrauen zu Gott zu haben: Gott versöhnt uns wieder mit uns selbst, mit Gott und unseren Mitmenschen. Erst dann ist ein Leben im Einklang mit der Welt möglich. Das heißt nicht, es gebe keine Kämpfe mehr. Aber die Zerrissenheit ist weg, die Menschen oft unfähig zum Leben macht. Unser Leben wird in diesem Einklang eindeutig. Es ist ein Leben in der Liebe, im Licht. Ein lockendes Angebot, der Ruf in die Nachfolge. Das Wissen um die eigene Sündhaftigkeit und daher die ständige Bedürftigkeit der Reinigung durch Christus hilft uns, vom hohen Ross des eigenen Rechthabens herunter zu steigen. Mit der seelischen Reinigung, die ein Glaubensakt ist, ist es wie mit der körperlichen Hygiene: Wir müssen es täglich tun. Eine einmalige groß angelegte Säuberung ersetzt nicht die tägliche Reinigung. Morgen- und Abendgebete können gute Hilfen sein. Oder das Gespräch mit Menschen, denen man vertraut. Vielleicht werden wir selbst zu solchen Christen, die anderen zum Leben im Licht und zur Versöhnung helfen.
Beim Streit rettet nicht das Verabschieden aus der Gemeinde das eigene Seelenheil, sondern das Bleiben in ihr. Ganz nüchtern und wahrhaftig predigt Pfarrerin Bürger über Zerwürfnisse in den Gemeinden damals und heute. Das gebotene “Wandeln im Licht” für Christen schließt Sündenanerkenntnis, Ende der Rechthaberei, Vergebung und neue Suche nach Gemeinschaft ein. In der Nachfolge Jesu und im täglichen Gebet hört die Zerrissenheit auf, die Menschen unfähig zum Leben macht. Bleibt die Frage, ob Luther den Rat: “Sündige tapfer!” nicht nur ausnahmsweise im Seelsorgegespräch zu einem Christen gesagt hat, der vor lauter Skrupel wie gelähmt war?
Die Predigerin bemüht sich, den für heutige Christenmenschen durchaus sperrig zu hörenden Predigttext in mehreren Ansatzpunkten zu erschließen. Dabei verweilt sie in einer Redeweise “über” den Text, die sehr klug, aber wenig berührend erscheint. Zu fragen bleibt, wo die Hörenden ihren “Sitz im Leben” des Textes finden könnten. Leider verpasst die Predigt gleich mehrere echte Chancen zur Vertiefung, sei es am Anfang durch die eindimensionale Darstellung der Geschichte des Christentums als Streitgeschichte, im Folgenden mit der pauschalisierten Bemerkung zur Stasi- Aufarbeitung, oder am Ende durch die radikale und schwierige Verkürzung des Lutherzitats.