Das Heiligste in dieser Welt
Offene Häuser statt Festungen
Predigttext: 5. Mose / Deuteronomium 7,1-12 (Übersetzung nach Martin Luther)
Wenn dich der HERR, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen, und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind als du, und wenn sie der HERR, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne. Denn sie werden eure Söhne mir abtrünnig machen, dass sie andern Göttern dienen; so wird dann des HERRN Zorn entbrennen über euch und euch bald vertilgen. Sondern so sollt ihr mit ihnen tun:Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinmale zerbrechen, ihre heiligen Pfähle abhauen und ihre Götzenbilder mit Feuer verbrennen. Denn du bist ein heiliges Volk dem HERRN, deinem Gott. Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind. Nicht hat euch der HERR angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat er euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen. So halte nun die Gebote und Gesetze und Rechte, die ich dir heute gebiete, dass du danach tust.
Und wenn ihr diese Rechte hört und sie haltet und danach tut, so wird der HERR, dein Gott, auch halten den Bund und die Barmherzigkeit, wie er deinen Vätern geschworen hat.
Im wunderschönen Park von Hildesheim kleben viele Aufkleber an den Papierkörben und Straßenlaternen. Im Vorüberspazieren entdecke ich ein bekanntes Gesicht: Martin Luther. Passt ja zum Reformationsjahr!
I.
Neugierig lese ich und schnell wird mir klar. Lutherwerbung ist das nicht, ganz im Gegenteil. „Ihr feiert einen Sexisten, Antisemiten, Taktgeber der Rechten und autoritären Charakter!“ (http://gegendiehelden.blogsport.eu/2017/01/19/wen-ihr-feiert/). So lautet die Botschaft und das Ganze ist belegt mit Lutherzitaten, die in der Tat genau dem entsprechen, was da kritisiert wird. Da sind sie, die dunklen Seiten unseres Helden, die Schatten werfen auf die Reformationsfeierlichkeiten. Ärgerlich, aber Realität.
Sicher, man könnte diese Aufkleber abziehen und in den Papierkorb werfen, auf dem sie kleben. Das tue ich nicht. Denn dann kleben Morgen neue da. Dunkle Wahrheiten lassen sich nicht entsorgen, wegzensieren oder übermalen, denen muss man sich stellen und lernen damit umzugehen.
Das gilt nicht nur für Luther, den „großen heiligen Helden des Protestantismus“, wie es ein katholischer Freund immer mit einem Augenzwinkern zu mir sagt. Das gilt auch für die Heilige Schrift selbst. Unser heutiger Predigttext hat viel Licht. Mose sagt zu Israel: Ein heiliges Volk seid ihr, von Gott auserwählt, einfach weil er euch liebt. Worte, die – da sie in der Bibel stehen- auch uns gelten. Doch der Kontext, in dem sich diese Worte finden, wirft gewaltige Schatten. Mose warnt Gottes auserwähltes heiliges Volk davor, mit anderen gemeinsame Sache zu machen – und zwar mit drastischen Worten. Ich lese beides: Licht und Schatten.
(Lesung des Predigttextes: 5. Mose 7,1-12)
Nur ihr seid auserwählt, nur ihr heilig! Die anderen sind Heiden, Unheilige. Es gilt: Kein Bund mit ihnen, sondern Abgrenzen, Ausgrenzen, Abschotten, Abschlachten. Das klingt aktuell. Das könnte man heute auch so ähnlich in einer islamistischen Moschee und auf vielen Versammlungen politischer Extremisten oder religiöser Fundamentalismen jeglicher Couleur hören. Wo solche Worte fallen, ist die Trennlinie klar gezogen zwischen heilig und unheilig, erwählt und verflucht, gut und böse. Da ist das Weltbild geschlossen und kein Raum für den anderen, für Toleranz und Empathie. Das in der Bibel, der Heiligen Schrift, lesen zu müssen, ist nicht nur unschön, sondern brandgefährlich.
Was tun? Die Bibel aus dem Bücheregal verbannen und sich lieber in Kant vertiefen? Nur die schönen Stellen der Bibel auswählen, damit andere mir die unschönen umso deutlicher entgegenhalten? Alles umdeuten, damit es sich ohne Ecken und Kanten in das einfügt, was mir gefällt? Das sei ferne! Dunkle Wahrheiten lassen sich nicht entsorgen, wegzensieren oder übermalen, denen muss man sich stellen und lernen damit umzugehen. Auch und gerade wenn es das betrifft, was einem heilig ist.
II.
“Jedes Haus, wenn es keine Fenster hat, ist dunkel und ohne Licht. Mit Recht werden deshalb die Apostel Fenster genannt, durch die uns das Licht der himmlischen Weisheit und der Klarheit der Lehre aufgegangen ist.“ Dieser Satz gefällt mir. Er stammt von Bruno von Segni (Expositio in Genesim, um 1100). Jedes Haus braucht Fenster, durch die Licht einfällt. Für den mittelalterlichen Kleriker sind es die Apostel, die Gottes Licht in das dunkle Haus der Welt und des menschlichen Denkens bringen. Mein Haus ist die Bibel. In diesem Haus wohne ich gerne, es ist mir Schutz und Schirm und gibt mir Sicherheit. Aber es muss durchlässig sein für andere und anderes. Es braucht Fenster. Meine Fenster sind Toleranz, Vernunft, Empathie und Humanität. Von da aus fällt Licht auch in die dunklen Ecken meines Hauses. Ich muss nicht alles in der Bibel wörtlich nehmen.
Meine Vernunft sagt mir, dass nicht alles 1:1 Gottes Wort ist. Das sind auch Erfahrungen und Ängste von Menschen, die aus ihrer Zeit heraus zu verstehen oder zumindest zu erklären sind. So wie die Worte unseres Predigttextes, mit denen ein Volk auch durch Abgrenzung seine Identität sucht. Menschenworte von Kindern ihrer Zeit. Weil ich das weiß, muss ich nicht zwanghaft jedes Wort in der Bibel verteidigen oder verstecken. Wenn ich Licht in mein Haus lasse, kann ich Veränderungen zulassen. Das ist in der Bibel selbst angelegt. Da verändert, da bewegt sich etwas in diesem Haus. Mit Jesu Kommen und Wirken öffnet sich das Haus für alle Menschen. Alle sind heilig, die glauben, nicht nur Israel. Ja, es gibt dunkle Seiten, Extremismen und Fundamentalismen auch in der Bibel, meinem mir so vertrauten Haus. Und es gibt Auswege daraus.
III.
Jeder von uns hat so ein Haus, eine politische Weltanschauung, eine religiöse Gewissheit. Da ist gut so, denn das gibt Sicherheit. Aber das heißt aber nicht, dass ich mich darin verstecken, Mauern bauen und sichern, die Trennlinie zwischen drinnen und draußen ziehen muss. Ich kann die Fenster öffnen. Doch leider scheint es in unserer Welt immer mehr Festungen statt offene Häuser zu geben. Ich denke an den G-20-Gipfel in Hamburg. Was für Bilder! Wie unversöhnlich stehen sich die Fronten gegenüber. Für die einen sind die Polizisten die Helden, die die Ordnung der Welt zu schützen versuchen, für die anderen sind die friedlichen Demonstranten die wahren Heiligen, die auf die Mängel ebendieser Ordnung hinweisen.
Da gibt es oft kein Dazwischen, keinen Austausch, da ist nur Geschlossenheit gegeneinander. Da sind heilig und unheilig jeweils gut verteilt und Schuld sind immer die anderen. Das scheint typisch zu sein für unsere Zeit: Dieses Abschotten, dieses Sich-bewegen in geschlossenen Denkräumen. Vielleicht liegt es an der Angst. Wenn ich die Fenster meines Hauses öffne, verliere ich an Sicherheit. Wer weiß, ob nicht ein Sturm in mein Haus fährt und alles verrückt, was so schön geordnet ist, oder gar die Fundamente selbst ins Wanken bringt, so dass kein Stein mehr auf dem anderen bleibt? Möglich. Aber das nehme ich in Kauf.
Mir sind geöffnete Türen lieber als befestigte Burgen. Jedes Haus, wenn es keine Fenster hat, ist dunkel und ohne Licht. Es wird zur Festung, in der ich mit meinen Freunden verschanze und mich gegen meine Feinde abschotte. Dann bin ich drin in der Falle, im Schwarz-Weiß-Denken, in der Polarisierung: wir im Haus und ihr da Draußen! Dazwischen Mauern, die trennen. Das will ich nicht. Ich will Fenster in meinem Haus, damit es nicht dumpf und stickig wird.
Meine Fenster sind Toleranz, Vernunft, Empathie und Humanität. Die bringen Licht in mein Haus, in meine Überzeugungen, in das, was mir heilig ist. Denn nichts ist absolut. Keine Weltanschauung, kein Staat, keine Religion. Kein Haus steht für sich allein. Statt Gräben und Mauern zwischen den Häusern wünsche ich mir: offene Fenster und Türen, offene Geister, offene Herzen, geöffnete Arme. Ich muss die Häuser der anderen nicht zu Boden stampfen oder niederbrennen. Ich muss den anderen nicht ihren Gott, ihre Religion und das, was ihnen heilig ist, absprechen, sondern kann es zulassen. Wenn das alle täten, wie viel Licht wäre in den Häusern dieser Welt!
IV.
Jedes Haus, wenn es keine Fenster hat, ist dunkel und ohne Licht. Dunkelheit gibt Schutz, aber macht auch blind das andere. Ein geschlossenes Weltbild ist dicht. Kein Riss, kein Fenster, kein Bruch. Kein Raum für anderes, kein Verständnis, keine Toleranz. Dann steht man sich gegenüber mit geschlossenem Visier, Köpfen aus Beton und geballten Fäusten, um das zu schützen, was einem das einzig Heilige und Richtige zu sein scheint. Da sind die Fronten und das Denken geschlossen, da sind die Bilder geordnet, da ist nichts verrückt. Ich will mehr verrückte Bilder. Wie das von dem Polizisten und dem Demonstranten, die sich umarmen. Bilder, die Licht bringen in die Schatten von Gewalt, Geschlossenheit und Grenzen.
Es gibt eine wunderschöne Liedzeile von Leonard Cohen. „There is a crack in everything that’s how the light gets in. / Da ist ein Riss in allem, durch ihn fällt das Licht ein.” (Leonard Cohen, Anthem [Album: The Future]). Es braucht diesen Riss. Er macht mich nicht schwach, ganz im Gegenteil. Er macht mein Haus durchlässig für das Licht und lässt mich offen sein für andere, für ihre Fragen und ihr Hinterfragen. Ich will diesen Riss, ich will verwundbar bleiben, ich möchte mich verunsichern lassen und antastbar sein. Denn nur so bleibt das unantastbar, was das Heiligste in dieser Welt ist: die Würde aller Menschen. „Denn uns alle hat Gott angenommen und erwählt, nicht weil wir besser wären als andere – das sind wir nicht, sondern weil er uns alle liebt.“ (nach 5 Mos 7,7).
Sehr originell und gewagt hat Pastorin Dr Janßen die Verse 1-6 zum Predigttext dazugenommen, während sonst nur über Vv 7-12 gepredigt wird. Die Verse 1-6 sind für Christen und Zeitgenossen anstößig. Die Eroberung des Heiligen Landes sollte mit dem Bann, das heißt der Tötung aller Einwohner, vollzogen werden? Historisch gesehen aber hat sich die Inbesitz-Nahme des Heiligen Landes mehr allmählich über den Prozeß des Weide -Wechsels vollzogen. Der Text erinnert aber an die Morde in der Religionsgeschichte und heute durch den IS. Die Pastorin möchte den dunklen Wahrheiten über Luther und den religiöse Fundamentalismus in der Bibel und im Islam und anderen Religionen und Sekten nicht ausweichen. Er ist brandgefährlich. Wie ein Refrain durchzieht die Predigt der Satz: Jedes Haus, welches keine Fenster hat, ist dunkel und ohne Licht. Das Haus der Christen ist die Bibel. Die Fenster sind Tolreranz, Vernunft , Empathie, Humanitätät. Mit Jesu Kommen öffnet sich das Haus für alle Menschen. Es gibt aber heute wohl immer mehr Festungen statt offener Häuser. Aber mit offenen Fenstern der Humanität und gibt es offene Geister und Herzen. Polizisten, die sich beim hasserfüllten G20 Gipfel umarmten mit Demonstranten. Leonhard Cohen hat sehr poetisch gedichtet: “Da ist ein Riss in allem, durch ihn fällt das Licht ein”. Gott liebt uns alle, heißt es im Predigttext. Diese anspruchsvolle, dichterische und aktuelle Predigt ist sehr ansprechend und bewegend.