„Es ist ein Ros entsprungen …”

Geduldig sein, nicht den Mut verlieren

Predigttext: Jesaja 11,1-5 (mit homiletischen Überlegungen)
Kirche / Ort: Marienkapelle / Minden-Hahlen
Datum: 24.12.2020
Kirchenjahr: Christvesper
Autor/in: Pfarrer i. R. Hartmut Frische

Predigttex: Jesaja 11,1-5 (Übersetzung nach Martin Luther)

1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.
3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören,
4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen  den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.
5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Lenden.

Homiletische Überlegungen

Im Gesangbuch wird bei dem Lied „Es ist ein Ros entsprungen“, Nr. 30, Str. 3 auf Jes 11,1 hingewiesen, auch in EG 7,3.

Jahre lang habe ich mir für die  Christvesper an Heiligabend das Thema oder den Text selbst ausgesucht. Jes 11,1-10 wäre mir als Grundlage für eine Predigt in einem Gottesdienst, zu dem viele Menschen kommen, die keine regelmäßigen Gottesdienstbesucher sind, nicht in den Sinn gekommen. Der Text ist zu komplex.

Seit meinem Studium in Heidelberg ist für mich das Verhältnis von Verheißung und Erfüllung von großer Bedeutung. Ich habe an einem Seminar von Claus Westermann zum Thema „Verheißung“ teilgenommen. Was steht zu diesem Thema nicht alles in G. v. Rads „Theologie des AT“! Martin Buber schreibt zu Jes 11,1-9: „Das in der Berufungsvision empfangene Bild vom Fällen des Baumes, der sich nun durch einen Stumpftrieb erneut, wird auf den königlichen Stamm übertragen.“ (M. B., Der Glaube der Propheten, 1984, S.187)

Ob heute der Begriff der „Heilsgeschichte“ unter Theologen beliebt oder unbeliebt ist, Gott lenkt seine Geschichte mit der Welt und ihren Menschen; ER steuert auf den Höhepunkt dieser Geschichte zu, die Geburt Jesu in Bethlehem; und ER wird eines Tages alle seine Verheißungen erfüllen.

Wir feiern Weihnachten in einem Jahr, das vom Corona-Virus bestimmt ist. Viele Gemeindeveranstaltungen konnten in diesem Jahr nicht stattfinden, die  Feiern im Advent leider auch nicht. Wir waren, sind und bleiben genötigt, für uns zu sein. Jeder von uns ist bedroht von einem schweren Verlauf der Corona-Infektion und vom Tod.

Da wird es uns angeboten, nach unserem Gesangbuch und nach der Bibel zu greifen, jeden Tag eine Zeit der Stille vor Gott zu haben und in der Bibel zu studieren, Vertrautes zu wiederholen und Entdeckungen zu machen, die uns überraschen können. Das Nachdenken über Jes 11,1-6 an Heiligabend  kann uns hier anregen und aufrütteln.

Lied

„Es ist ein Ros entsprungen“ (EG 30,1-4)

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Wenn wir diese Verheißung aus dem Buch Jesaja zu verstehen versuchen, dann können wir das Gesangbuch zur Hilfe nehmen. Viele kennen noch das Lied: „Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart“. Was ist hier mit dem Wort „Ros“ gemeint? Hier ist nicht von einem Ross die Rede. Es war ein Kinderjux, wenn wir in meiner Heimatstadt sangen: „Es ist ein Ross entsprungen / aus Brauckmanns Pferdestall.“ Brauckmanns hatten dort in Hagen-Haspe eine Spedition, und ihre Pferdefuhrwerke gehörten damals noch zum Stadtbild.

I.

In diesem Weihnachtslied wird von einer Rose, einem Blümlein, gesungen, das im Winter aufblüht, ebenso in der 3. Strophe des Liedes „O Heiland reiß die Himmel auf!“ So hat man sich das im Laufe der Kirchengeschichte vorgestellt. Aber ursprünglich ist in dem Jasaja-Text gemeint: Aus dem  Baumstumpf eines gefällten Baumes wächst ein Reis, ein dürrer Zweig. Zunächst ist er ganz klein. Aber wenn man Geduld hat, erlebt man, wie er wächst und wächst und endlich zu einem ausgewachsenen Baum wird.

Wir können uns zum Verständnis dieses Jesaja-Wortes das Internet zur Hilfe nehmen. Wenn wir da selbst nicht fit sind, haben wir ja unsere Kinder und Enkelkinder. Sie helfen uns sicherlich gerne. Und dann können wir nachschlagen, wer Jesaja war und wer Isai, was wir heute von Bethlehem wissen und was von Nazareth, was da alles über den Advent steht und was wir dort über Weihnachten finden. Und wir können unsere eigene Bibel zur Hand nehmen. Es ist  mein großer Wunsch, dass jeder bewusst lebende Mensch in unserem Land eine Bibel hat, nach der er gerne greift, und mit dieser seiner Bibel nach und nach vertraut wird. Unsere Bibeln haben Landkarten, auf denen wir sehen können, wo Judäa und Galiläa liegen, und wo Jerusalem, Bethlehem und Nazareth. Unsere Bibeln haben eine „Zeittafel zur biblischen Geschichte“. Und da gibt es die „Sach- und Worterklärungen“.

Ich wünsche mir, dass Menschen heute Texte der Bibel studieren und sich zu Herzen nehmen, aber auch, dass sie Lust haben, in ihrer Bibel zu stöbern. So können sie selbst Zusammenhänge aufspüren. „Stöbern“ ist ein Wort aus der Jägersprache: Wer Fasane, Hasen und Rehe erlegen will, der schickt seine Hunde los, die dann das Wild aufstöbern. Es lohnt sich, in seiner Bibel hin und her nachzuschlagen; es lohnt sich, hier richtig neugierig zu werden und auf  Entdeckungsreise zu gehen.

Der Prophet Jesaja kündigt seinem Volk Juda an, dass es in der Gefahr steht,  eines Tages als Volk insgesamt abzustürzen. Das Volk wird erleben, dass es sich fühlt wie ein gefällter Baum. Eben noch stand er aufrecht und kraftvoll in der Landschaft, festverwurzelt in der Erde. Aber dann kommen Männer mit ihren Äxten, legen ihre Äxte an, schlagen zu, und dann fällt der Baum plötzlich krachend zu Boden. Ein armseliger Baumstumpf bleibt zurück.

Nun, selbst Kinder auf unseren Dörfern können es heute beobachten: Im nächsten Jahr schießt ein neuer Sprössling aus dem Stumpf. Wenn man dann Geduld hat, sieht man, wie dieser Sprössling wächst und wächst und dann wieder zu einem Baum wird. Dies beschreibt Jesaja: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“

II.

Jesaja 11,1-5 wurde in der Kirche als Predigttext für Heiligabend ausgewählt. Er spricht in eine Zeit hinein, etwa 730 Jahre vor Christi Geburt. Das Volk Israel, das Nordreich, war von den Assyrern erobert, zerstört worden und sah aus wie ein verrotteter Baumstumpf. Dem Südreich Juda drohte Ähnliches. Man konnte kaum glauben, dass aus diesem Stumpf noch einmal Lebendiges wachsen würde. Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte mussten die Menschen in Israel geduldig sein, warten und sie durften den Mut nicht verlieren. Dass es schwer ist, zu warten, erleben wir jetzt in der Corona-Krise. Aber dann brach aus diesem alten Wurzelstock ein neuer Zweig hervor: Jesus wurde geboren, ein neuer Spross aus dem Geschlecht Isais, dem Vater Davids. Nur wenige hatten noch damit gerechnet.

Zweierlei ist nun wichtig. Einmal: Viele Menschen haben Situationen erlebt, in denen es so aussah, als sei alles aus. Manch einer erlebt eine solche Situation jetzt in der Pandemie. Und dann kam Neues mit Macht. Ich erinnere mich an eine Frau, bei der die Ärzte Krebs festgestellt hatten. Sie war etwa 56 Jahre alt. Sie lag im Krankenhaus, und wir besuchten sie. Resigniert sagte sie: „Wenn das alles war!“ Sie hatte große Mühe, zu glauben, dass ihr Krebs besiegt werden könnte und Jahre des Lebens noch einmal vor ihr lagen. So war sie ganz betrübt. Aber sie wurde wieder gesund und hatte noch Jahre vor sich.

Ich habe zwei Männer vor Augen. Wir lernten uns kennen, da waren sie zwischen 65 und 70 Jahre alt. Beide hatten es erlebt, dass ihre Firma  bankrottgegangen war. Das war für sie bitter gewesen. Die beiden Männer waren zu alt, um noch einmal neu mit einer Firma starten zu können. Aber ihr Glaube half ihnen, nicht zu verzagen. Und so engagierten sie sich in der Kirchengemeinde, mit all ihren Fähigkeiten. Sie wurden wichtige Mitarbeiter.

Ich wurde 1946 im zerstörten Berlin geboren. Viele Nächte, in denen ganze Stadtteile bombardiert wurden, hatte es gegeben. Meine Eltern hatten diese Jahre in Berlin miterlebt, die Zerstörung der Stadt und den Einmarsch der Russen,  der Tiefpunkt der Hauptstadt unseres Landes. In diesem zerstörten Berlin kam ich in Berlin-Weißensee zur Welt, 16 Monate nach der Befreiung durch die Alliierten. Wer hätte damals gedacht, dass Deutschland wieder so aufgebaut werden würde, wie wir es heute vor Augen haben, und viele von uns erleben und genießen es seit Jahrzehnten.

Wo wir in unserem eigenen Erleben solch ein Fällen und so eine Niederlage erleben, da können und sollen wir uns an den halten, von dem wir in dem beliebtesten Weihnachtslied „Stille Nacht“ singen: „Christ, der Retter, ist da, Christ, der Retter, ist da!“ Wir können und sollen uns diese Worte aus dem Propheten Jesaja als einen kräftigen Zuspruch für uns ganz persönlich zu Herzen nehmen: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ Das gilt auch jetzt für Menschen, die in eine prekäre Lage abzustürzen drohen. Und dann das andere:

III.

Es geht heute an Heiligabend nicht um uns allein. Wir sollen von uns weg auf die Geburt Jesu schauen, damals. Er war ein Kind, der besondere Sprössling in einem mehr als tausend Jahre alten Geschlecht. Da kann jeder von uns in seiner Bibel stöbern und in dem Buche Rut von Boas lesen, dem Mann der Rut, von Obed und Isai, dem Vater Davids. Sowohl im Matthäusevangelium (Kapitel 1) als auch im Lukasevangelium (Kap. 3) finden wir den Stammbaum Jesu. Dieser Stammbaum findet in der Geburt des Kindes in Bethlehem seinen Höhepunkt. Betont heißt es hier von dem Verheißenen und dann Gekommenen:

„Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN“. Ein siebenfacher Geist! Wo der Geist Gottes weht, da geschehen Überraschungen und da werden Menschen begeistert. Jesus wurde für seinen Dienst an der Menschheit ausgerüstet, um das Gottesrecht durchzusetzen und in besonderer Weise für die Armen und Elenden da zu sein. Betont sagt Jesus im letzten Kapitel der Bibel von sich (Offenbarung 22,16): „Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der helle Morgenstern“.

Wir dürfen wegschauen von uns auf Jesus. An einer Stelle seiner Briefe ruft der Apostel Paulus seiner Gemeinde in Kolossä zu (Kolosser 2,7): „Lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben“.  Es ist schade, dass viele in unserer Kirche mit einem geringeren Glauben zufrieden sind. Wir gehören hinein in eine große Geschichte. Das ist Grund genug, auch in diesem weithin von dem Corona-Virus bestimmten Jahr fröhlich Weihnachten zu feiern.

Ich habe 1946/47 in Berlin gewohnt, und dann wieder 1993 – 96. So habe ich es miterlebt: Damals im Juni 1995 war der Reichstag noch ein graues Gemäuer an der Grenze zum Osten Berlins. Und dann kam das Künstler-Ehepaar Christo. Sie  verhüllten den Reichstag mit einer kunstvoll geformten Plane. So wurde kurz vor der Restaurierung des Reichstages der Blick der Berliner auf dieses Gebäude gelenkt. Es war ein fröhliches Volksfest; die Berliner strömten in Massen und Menschen aus unserem ganzen Land, ja, aus der ganzen Welt kamen, um zu sehen. Das Motto war: „Verhülltes sieht man besser!“ So hat auch Gott an Weihnachten gehandelt, und deshalb heißt es in dem Lied von Martin Luther: „Des ewgen Vaters einig Kind / jetzt man in der Krippe findt;/ in unser armes Fleisch und Blut / verkleidet“, verhüllt, „sich das ewig Gut“.

 

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2 Kommentare on “„Es ist ein Ros entsprungen …”

  1. Hans-Dieter Krüger

    „Verheißung und Erfüllung“ ist ein durchgehendes Thema in der Glaubensgeschichte des Alten Testaments. In der Predigt wird sehr schön verdeutlicht, wie sich dieses Prinzip göttlichen Handelns auch im alltäglichen Leben widerspiegeln kann. Dazu bringt der Autor einige Bespiele, durch die man angeregt wird, solch positiven Veränderungen im eigenen Leben zu entdecken und daraus neues Vertrauen zu schöpfen. Schön und wichtig ist auch der christologische Akzent, den die Predigt setzt, dass die entscheidende heilsgeschichtliche Erfüllung aller göttlicher Verheißungen in der Erscheinung des Gottessohnes auf dieser Erde
    stattgefunden hat, wenn auch in menschlicher Gestalt verborgen. In Anlehnung an die Verhüllung des Reichtages unter dem Motto: „Verhülltes sieht man besser“, zieht Pastor Frische einen geistlichen Vergleich: „So hat auch Gott an Weihnachten gehandelt.“ Ein charmantes Wortspiel zum Schluss der Predigt, das schmunzeln lässt.

  2. Pastor i.R. Hans-Dieter Krüger

    “Verheißung und Erfüllung” ist ein durchgehendes Thema in der Glaubensgeschichte des Alten Testaments. In der Predigt wird schön verdeutlicht, wie sich dieses Prinzip des göttlichen Handelns auch im alltäglichen Leben widerspiegeln kann. Dazu bringt der Autor einige Beispiele, durch die man angeregt wird, solche positiven Veränderungen im eigenen Leben zu entdecken und daraus neues Vertrauen zu schöpfen. Schön und wichtig ist auch der christologische Akzent, den die Predigt setzt, dass die entscheidene heilsgeschichtliche Erfüllung aller göttlichen Verheißungen in der Erscheinung des Gottessohnes auf dieser Erde stattgefunen hat, wenn auch in menschlicher Gestalt verborgen. In Anlehnung an die Verhüllung des Reichstages unter dem Motto “Verhülltes sieht man besser” zieht Pastor Frische einen geistlichen Vergleich: “So hat Gott an Weihnachte gehandelt”. Ein charmantes Wortspiel zum Schluss der Predigt, das schmunzeln lässt.

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