Tonlagenwechsel

Erfahrungen mit Gott weitergeben - Gottes Treue bleibt der Tenor für unser Leben

Predigttext: Jesaja 38,9-20 (mit Vorbemerkungen)
Kirche / Ort: Kreuzgemeinde / Lahr i. Schwarzwald
Datum: 10.10.2021
Kirchenjahr: 19. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Thorsten Maaßen

Predigttext: Jesaja 38,9-20 (s. die Einfügung der Perikope in den Predigtverlauf)

Vorbemerkungen

Im Gottesdienst werden sich die neuen Konfirmandinnen und Konfirmanden der Gemeinde vorstellen. Sie werden in der Predigt auch direkt angesprochen. Diese Passagen können aber gut umgeschrieben werden.

Die Lesung des Predigttextes geschieht im Predigtverlauf in verschiedenen Abschnitten. Dies ist ggf. mit den Lektoren abzusprechen. Auf einen weiteren Referenztext (etwa das Evangelium Mk 2) wird verzichtet in der Annahme, dass die coronabedingten Kürzungen der Gottesdienstliturgie keine weitere Lesung vorsehen lassen.

Die Predigt wird ferner untergliedert mit Strophen des Wochenliedes: Es wohnt ein Sehnen tief in uns. Das Loblied nach der Predigt kann problemlos durch ein anderes ersetzt werden.

In der Vorbereitung standen mir zur Verfügung:

Alexander Deeg / Andreas Schüle: Die alttestamentlichen Perikopentexte. Exegetische und homiletisch-liturgische Zugänge, Leipzig 2018. - Jörg Jeremias: Theologie des Alten Testaments, Göttingen 2015 (2017). - Hans-Walter Wolff: Anthropologie des Alten Testaments, München 31977. - Otto Kaiser: Der Prophet Jesaja, Kapitel 13-39 (ATD 18), Göttingen 21973.

 

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König Hiskia findet sich in einer tiefen Lebenskrise wieder. Zwar konnte die Zerstörung seiner Hauptstadt Jerusalem abgewendet werden. Doch des Krieges Grausamkeit war groß. Hiskia ist krank geworden. Der Prophet Jesaja hat ihm einen vorzeitigen Tod angesagt. Doch Hiskia wird wieder gesund. In seinem Lied blickt er zurück auf die zurückliegende schwere Zeit. Schonungslos schildert er sein Ringen mit Gott, sein Ausgeliefert sein, seine Verlustängste. Hören wir zunächst die ersten Verse aus dem Lied des Hiskia:

Dies ist das Lied Hiskias, des Königs von Juda, als er krank gewesen und von seiner Krankheit gesund geworden war: 10Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. 11Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. 12Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden Tag und Nacht gibst du mich preis; 13bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis.

Nichts wird hier beschönigt. Auch der König Hiskia, dem ein gottesfürchtiges Leben nachgesagt wird, der sich bemühte, alles recht zu machen, ist Gott hilflos ausgeliefert. Haben wir uns vielleicht verlesen? Das passt doch gar nicht zu unserem Bild vom lieben Gott. Und gerecht scheint das auch nicht zu sein. Der Kranke möchte nicht sterben. Er hängt am Leben. Er freut sich auf die Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen. Er freut sich auf die Gemeinschaft mit Gott. Aber bitteschön hier – im Lande der Lebendigen.

Ja, Hiskia lebt mit Gott. Er nimmt seinen Glauben ernst. Er erhebt sich nicht über Gott, er versucht nicht, alles selbst hinzukriegen. Hiskia hatte aber noch viel vor: Er sah sich in der Mitte seines Lebens. Er sah sich wie ein Hirte auf dem Feld. Die Herde hüten, das Volk Gottes regieren, für seine Wohlfahrt sorgen als ein guter König. Die Schätze recht verwalten, die ihm Gott anvertraut hat. Er sah sich wie ein Weber, ein Netzwerker, der für gute Verbindungen sorgt, wo die senkrechten Fäden und die waagerechten Fäden zu einem guten Gewebe werden, ein schönes Muster bilden. All das – so singt er – ist ja vorbei, wenn ich aus dem Leben gerissen werde. Die Hirtenhütte abgebrochen, der Webfaden abgeschnitten.

Abgebrochene Hoffnungen kennen auch wir, Träume, die sich nicht mehr verwirklichen lassen.
Die Sportlerkarriere, die mit einer Verletzung in der Jugendzeit endet, bevor sie begonnen hat.
Die Krebsdiagnose, die uns die drohende Vergänglichkeit bewusst macht.
Der Schlaganfall, der kurz nach Renteneintritt an den Rollstuhl bindet: Jetzt endlich wollten sie doch reisen – so vieles nachholen, was der stressige Beruf nicht erlaubte.
Eine Liebe, auf die wir hofften, sie könnte durchs Leben tragen. Doch dann war es aus.
Wir sehen die zerstörten Häuser und Betriebe vor uns nach dem Hochwasser an der Ahr, nach den Bombenangriffen der syrischen Armee,
wir hören in den Nachrichten, wie in Afghanistan alle Errungenschaften, die wir meinten, der Bevölkerung vermittelt zu haben, wieder verloren waren.

Es gibt so viel zu tun. Aber was, wenn die eigene Kraft nun weg ist. Wenn nichts mehr geht? Hiskia treibt es auf die Spitze. Nicht nur, dass Gott ihn nicht bewahrt hätte. Schlimmer noch: Gott selbst ist der Gegner, der Löwe, der ihm alle Knochen zerbricht. Gott, du bist es, der mich Tag und Nacht preisgibt. Hiskia steht für den Menschen in der tiefen Gotteskrise. Ein durchaus frommer gläubiger Mann. So sehr, dass er sich auch für sein Schicksal niemand anderen als Urheber vorstellen kann, als eben diesen Gott. Er weiß nicht, warum es mit ihm zu Ende gehen soll. Und er will es auch nicht. Er ringt mit Gott wie mit einem Raubtier. Lieber lässt er sich vom Löwen die Knochen brechen als klein beizugeben. Wenn er beziehungslos und teilnahmslos alles hinnähme, dann wäre er schon tot, selbst wenn er lebt. Also klammert er sich an Gott, er hält die Beziehung aufrecht durch seine Klage.

Wie machen wir das? Wie macht ihr Konfirmanden das, wenn ihr so richtig enttäuscht seid. Wenn alles anders kommt als ihr euch das vorgestellt habt, wenn das Schicksal so richtig zugeschlagen hat. Ist dann Gott für Euch erledigt? Nach dem Motto: „Du hilfst mir ja eh nicht. Entweder es gibt dich gar nicht. Oder du bist gegen mich.“ Wie auch immer: von Hiskia lernen wir: dran bleiben. Gott verträgt es auch, wenn wir ihm klagen. Er darf, ja er muss von uns hören, wenn wir an ihm leiden. Wenn er uns gleichgültig wäre, dann wäre die Beziehung zu ihm tot. Dann wäre da nichts mehr.

Liedstrophe: instrumental leise vorweg

Hiskia ändert die Tonlage seines Liedes. Es heißt jetzt weiter: Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben. Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!

Liedstrophe gesungen: Da wohnt ein Sehnen nL 116,1+2

Hiskia hat es gewagt. Er wechselt vom Schlachtfeld in den Chor. Er ist – im Bild gesprochen – dem Löwen nicht mehr die kranke Antilope, sondern die zwitschernde Schwalbe und die gurrende Taube, die ihm um den Kopf herum fliegt. Mit anderen Worten: er liegt Gott im Ohr, er wirbt um ihn mit seinem Gesang. Er lässt ihn nicht in Ruhe. Gott muss ihn hören. Die Beziehung bleibt aufrecht. Und so lange die Beziehung da ist, ist der Mensch nicht tot. Er macht es wie ein Schüler, der gerade den Mitschüler, der ihn am stärksten drangsaliert und gemobbt hat, zu seinem Beschützer macht. Er flötet seinen flehentlichen Ruf: „Herr, ich leide Not, tritt für mich ein!“ Entweder es hilft oder es hilft nichts. Das ist ja auch in der Schulklasse so. Aber so lange wir dem Störenfried nicht sagen: „Hör auf, du verletzt mich. Ich leide. Beschütz mich lieber.“ So lange geben wir der negativen Beziehung ja keine Chance, sich in eine positive zu verkehren. Hiskias Kontrahent ist weit größer und mächtiger als ein Mitschüler. Es ist Gott selbst. Auf ihn will er aber setzen. Davon lässt er sich nicht abbringen. Ob es nun geht, in der Tonlage des Gurrens und Zwitscherns?

Liedstrophe Da wohnt ein Sehnen nL 116,3

Hören wir das Lied von Hiskia weiter: 15Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele.b16Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben. 17Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.

Ich weiß nicht, welche Erfahrungen ihr mit euren schwierigen Mitschülern gemacht habt. Aber Hiskia bricht nun also heraus mit seinem Glück. Ja, Gott hat auf sein Singen gehört. Klage und Bitte sind nicht ohne Wirkung geblieben. Das macht ihn fast sprachlos. Nicht so ganz, denn immerhin – ein paar Verse sind es doch geworden. Die schlaflosen Nächte voller Traurigkeit hatten ein Ende. Jetzt konnte er wieder Kraft spüren. Und er wusste nun auch diesen Wandel richtig zuzuordnen. Auch die Genesung, auch das Wiedererstarken verdankte er Gott. Nicht mehr ums Sterben ging es nun, sondern ums Leben.

Jetzt, nach der Genesung, kann er auch die Kämpfe verstehen, die er zuvor durchmachen musste. Gott hat sich seiner Seele angenommen, dass sie nicht verdürbe. Und Gott warf alle Sünden Hiskias hinter sich zurück. Anders ausgedrückt: In dem Kampfgeschehen, das zuvor so leidvoll beschrieben war, ging es Gott gar nicht um die Zerstörung Hiskias. Es ging darum, das zu tilgen, was in seiner Seele wucherte: Die Trostlosigkeit, die Mutlosigkeit, die innere Unruhe, die Hiskia ergriffen hatten, mussten herausoperiert werden. Bei Hiskia mag es die Schuld an den Kriegstoten gewesen sein und die Verantwortung dafür, dass letztlich doch so viel außer Landes geschafft wurde gerade aus dem Heiligtum Gottes. Gott nimmt nun dieses Geschwür, das ihn erdrückte ihm von der Seele und bringt es auf seine Seite.

Als Christinnen und Christen können wir sagen: Jesus Christus nimmt unsere Sünde von unseren Schultern und lädt sich sich selbst auf am Kreuz, damit wir frei sind. Was der König von Juda hier also unmittelbar erfährt durch seine sehr lebendige und streitlustige Gottesbeziehung, können wir durch Christus erfahren: Gott macht uns frei. Die ganzen Erfahrungen von Vergeblichkeit, die zerplatzten Träume und Hoffnungen, ja auch die Schuld, die wir bei Lichte betrachtet, doch auch selbst an der ein oder anderen Schieflage haben, sind nicht das Ende. Solange wir mit Gott ringen, solange wir ihm unsere Klage, unsere Sehnsucht, unser Bitten um Hilfe und Leben zumuten, bleiben wir mit ihm in Beziehung. Und wenn wir durch Christus mit ihm in Beziehung stehen, leben wir.

Liedstrophe Da wohnt ein Sehnen  nL 116,4

Hiskia singt noch eine Strophe. Da zeigt er noch, wie er mit Gott verhandelt hat, um doch noch mal eine Spanne des Lebens auf der Erde zugestanden zu bekommen. 18Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; 19sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. 20Der Herr hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn!

Ein Loblied erklingt. Wir sehen Hiskia ganz persönlich. Im Kreise seiner Kinder mit einem Instrument in der Hand und sein Lied singen, wie sein einstiger Amtsvorgänger David mit der Harfe oder später Martin Luther mit der Laute. Er gibt weiter, was er von Gott erfahren hat. Er lobt Gottes Treue. Sie werden seine Geschichte zum 100. Mal gehört haben, wie man das von solchen Geschichten am Familientisch kennt. Und doch: es kann nicht genug weitererzählt werden. Darum, liebe Konfirmanden, geht es letztlich auch im Konfirmandenunterricht. Lasst euch von Gott erzählen. Lasst euch zum Loblied anstiften. Hört, wie andere Menschen Gottes Treue erfahren haben. Hört es euch auch von Mama und Papa an, von Oma und Opa. Hört auch darauf, wie sie vielleicht mit Gott gerungen haben, dass nicht immer alles so nach den eigenen Wünschen verläuft. Und findet zum Lob. Hiskia ist überzeugt: wenn wir leben, dann sind wir dazu gerufen, Gott zu loben. Solange wir Loblieder singen, sind wir nicht tot. Wenn das Lob aber verstummt, wenn unsere Seele aufgibt und resigniert, dann sind wir wie die Toten, von denen Gott kein Loblied mehr erklingt.

Das Lied Hiskias endet nach der Klage, nach dem werbenden Gurren um Gottes Hilfe, nach der Beschreibung der Rettung schließlich in dem Aufruf zum gemeinsamen Lob. Auch wenn in der Corona-Zeit Singen eine Zeitlang als gefährlich galt, weiß man doch: uns Menschen tut das Singen gut. Es weitet die Seele, es holt uns aus der Verkrümmung und lässt uns wieder mit breiter Brust dastehen. Singen verbindet. Singen trägt weit. Singen gibt auch Heimat. Das wissen alle, die fern von den Orten ihrer Kindheit noch die Lieder aus der Heimatregion singen. Und wenn wir Loblieder über Gott singen, dann werden wir uns bewusst: unsere Heimat ist bei ihm. Im Hause des Herrn sind wir daheim. Darum lasst uns singen und spielen zu seinem Lob, solange wir leben. Und wir leben solange, wie wir ihm singen.

EG 628 Ich lobe meine Gott, der aus der Tiefe mich holt

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