„Doch ganz plötzlich befiel ihn das Singen …“
Kantate – Ansingen gegen die Nacht und die Dunkelheit, die Ketten, das Unrecht, die Hoffnungslosigkeit
Predigttext: Apostelgeschichte 16,23-34 (Übersetzung nach Martin Luther)
Nachdem man sie (Paulus und Silas) hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block.
Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab.
Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.
Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!
Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?
Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!
Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.
Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war.
Einführung zum Predigttext
Man wird dem Text im Gottesdienst kaum gerecht, wenn man sich an der Frage der historischen Tatsächlichkeit oder Wahrscheinlichkeit angesichts der wundersamen Handlung abarbeitet. Vielmehr haben wir es in der Apostelgeschichte mit „Erfahrungsmodellen des christlichen Glaubens“ (Klaus Raschzok, Die Kraft des Lobpreises Gottes, Kantate – 6.5.2012, in GPM 66/2, Göttingen 2012, S. 239) zu tun. Literarisch ist die Erzählung kunstvoll in konzentrischen Kreisen aufgebaut (Jutta Noetzel, Et iterum venturus est. Befreiendes Singen, Kantate – 29.04.2018, in GPM 72/2, Göttingen 2018, S.262) mit der Lebenswende des Gefängnisaufsehers im Zentrum. Mit diesen Beobachtungen ist der eine Ankerpunkt der Predigt abgesteckt: Die in doppelter Hinsicht befreiende Wirkung Gottes im Leben.
Den zweiten Anker weist der Kasus „Kantate“. Dass der Text offenlässt, ob und wie das Singen der Gefangenen zu Erdbeben und Befreiung geführt hat, spricht dem nicht entgegen. Vielmehr regt diese wie jede Leerstelle im biblischen Text das eigenständige Weiterspinnen der Geschichte durch den Hörer an. Die Predigt nimmt sich eben dieser Aufgabe an und wählt dafür die Perspektive des Gefängnisaufsehers – denn an diesem geschieht das eigentliche Wunder. Ob der Lobgesang der Männer es ausgelöst hat?
(Lesung des Predigttextes erst am Schluss der Predigt)
“Doch ganz plötzlich befiel ihn das Singen,
wie einen ein Fieber befällt,
so als hätte sich irgendwas in ihm
gegen ihn gestellt.
So als hätte sich seine Stimme
über ihn hergemacht
und das stumme Gestammel des Sängers
plötzlich zum Schweigen gebracht.
Ich singe, weil ich ein Lied hab,
nicht, weil es euch gefällt.
Ich singe, weil ich ein Lied hab,
nicht, weil ihr’s bei mir bestellt.” (Konstantin Wecker)
Ich bin der Kerkermeister. Ich führe mein Regiment im Gefängnis von Philippi. Ich habe schon einiges erlebt und einige in diesem Job, weiß Gott. Gefangene, die geschrien und geheult haben, gewimmert und geschwiegen. Ich habe die gesehen, die um sich schlugen und die stummen Erdulder auch. Ich habe Aufstände niedergeschlagen und Todesurteile vollstrecken lassen, Kopf ab, einfach so. Der Kaiser hat es befohlen. Ich habe die Schmeichler erlebt und die mit den Goldmünzen im Rock, die mich bestechen wollten. Ich habe die Schuldigen in die Freiheit verschwinden sehen und die Unschuldigen sterben. Aber nicht das. Das ist neu. Ungewohnt. Unerhört: Die singen!
Mitten aus dem tiefsten Kerker steigen die Loblieder herauf. Die Füße habe ich ihnen in Eisen und Stein stecken und die Türen dreifach verschließen lassen. Die beiden Männer, – römische Bürger angeblich, aber was ändert das schon? – die Männer jedenfalls konnten sich kaum rühren in ihren Ketten. Keine Aussicht sich zu befreien, keine Chance, hier wieder herauszukommen, es sei denn, der Statthalter würde das für politisch clever halten. Hielt er aber nicht. Die beiden hatten die Ordnung gestört, alles durcheinandergebracht und einer Wahrsagerin und ihren Hintermännern das Geschäft verdorben. Das mögen sie nicht, die Oberen unserer Stadt. Das bekamen die beiden schnell zu spüren. Und jetzt: Die singen! Und wie! Sie konnten gar nicht mehr aufhören, so sehr hatte die Musik die beiden gepackt, so sehr der Glaube, der aus ihren Liedern sprach. Sie priesen ihren Gott, der sie aus der Tiefe führt – dabei saßen sie doch mittendrin, und nirgendwo Rettung, kein Gott, kein Weg aus dem Loch, nirgends.
Aber die singen trotzdem. Sie singen an gegen die Nacht und die Dunkelheit und die Ketten und gegen Unrecht und Hoffnungslosigkeit auch. Und alle im Gefängnis hören zu. Keiner lacht. Keiner brüllt die beiden nieder. Ein tiefer Friede senkt sich über die Kerker. Das Lied überwindet die Mauern und Schlösser. Das Lied, das sie singen. Es rührt mich an. Ich bin ein harter Kerl, ich muss es sein, der Job, Sie wissen schon. Aber irgendetwas war an diesem Lied, das mich berührt hat. Es war so – ungewöhnlich. So friedlich. Und es klang so richtig, so zu singen, Gott zu loben und das Leben – ausgerechnet in meinem Kerker. Dieses Lied. Ihr Lied. Diese Sänger, das müssen ganz besondere Menschen sein. Ich bin dann wohl eingeschlafen. Und dann war alles anders.
Ich bin davon aufgewacht, dass alles wackelte, das Bett, der Boden, das Haus, alles. Die Tür fiel aus dem Rahmen, das Dach begann zu bröckeln. Ein Erdbeben. Und was für eines. Und während mein Gefängnis in den Grundfesten erschüttert wurde, dachte ich noch: Das passt ja überhaupt nicht zusammen: Erst dieses Lied, dieses Gotteslob aus dem tiefsten Kerker, leise und friedlich. Und jetzt stürzt die Welt ein, es knallt und kracht. Oder passt es doch? Hat der Gesang der Häftlinge etwa das Erdbeben ausgelöst? So ein Quatsch, habe ich gedacht, religiöse Ammenmärchen, Blödsinn. Aber das eigentlich Erschütternde, das sollte erst noch kommen.
Denn plötzlich dämmerte mir: Wenn meine Tür im Erdbeben aus den Angeln springt – dann werden auch die Kerkertüren offen stehen. Die Gefangenen werden fliehen, auch die beiden Sänger ganz unten. Ich werde dem römischen Statthalter erklären müssen, wo die ganzen Verbrecher denn nun geblieben sind. Das werde ich nicht können. Und dann lande ich selbst hinter Kerkermauern. Und die Löwen in der Arena freuen sich bald auf mich. Das kann ich auch selbst erledigen, dachte ich noch, völlig am Boden zerstört. Ich zückte mein Schwert, Zeichen meiner Macht, jetzt aber sinnlos geworden. Nur für eines war es noch gut: Mich selbst hineinzustürzen. Was sollte ich denn sonst noch tun, jetzt, da alles in Trümmern lag, das Gefängnis, meine Ehre, mein Leben? Und das war noch immer nicht das stärkste Erdbeben des Tages. Das kam jetzt.
Wieder klang eine Stimme aus dem tiefsten Kerkerloch, in dem dieser Paulus einsaß mit seinem Freund. „Tu dir nichts an. Wir sind alle hier!“ Wie bitte? Es geht alles kaputt, alle Türen stehen offen – und jetzt sind alle noch hier, keiner flieht, alle bleiben? Was? Ich bin dann runter in den Kerker und habe mich vor Paulus und seinem Freund Silas in den Staub geworfen. Ich war so dankbar! Nichts war verloren. Nur meine Seele, wenn ich denn eine habe. Denn auf einmal wusste ich: Ich kann nach dieser Nacht nicht weitermachen wie bisher. Ich muss mein Leben ändern. Alles, was galt, ist erschüttert. Meine Brutalität, mein Hass, mein ängstliches Rennen nach einem Zipfel von Glück – alles begraben unter den Trümmern. „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Denn es mussten ja wahrlich große Herren sein, wenn sie erst singend meine Welt zum Einsturz bringen können und dann auch noch mir das Leben retten durch ihr Bleiben – ausgerechnet mir, der ich doch eigentlich ihr Leben in der Hand habe! Aber sie wollten gar keine Ehrerbietung. Wollten keine großen Herren sein. Sie hatten nur eine ganz einfache Antwort auf meine so entscheidende Frage. Sie sprachen: „Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!“
Nichts leisten. Nur glauben? Ich? Ich dachte immer: Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Und ausgerechnet ich sollte einem Herrn vertrauen, den meine römischen Herren vor vielleicht 25 Jahren jämmerlich hingerichtet hatten. Ich? Glauben? Dem? Aber immerhin hatte der gesungene Glaube der beiden Männer im Gefängnis schon die Welt ins Wanken gebracht: Erst ganz wörtlich. Und dann meine eigene, innere Welt: gefangene, die nicht weglaufen? Die mir Gutes wollen, anstatt mich zum Teufel zu wünschen? Und dann erklärten die beiden mir alles. Sprachen von der neuen Welt, die dieser Jesus versprochen hatte, von Gleichnissen und Wundern. Von der Taufe, dem Abendmahl. Vom Tod am Kreuz, als es auch ein Erdbeben gab, damals in Jerusalem. Und vom leeren Grab am dritten Tage.
Da konnte ich nicht mehr anders. Ich musste diesen seltsamen Gefangenen Gutes tun. Ich, der Gewalttäter, habe ihnen zärtlich die Wunden gewaschen und versorgt. Und dann ließ ich mich taufen und meine ganze Familie dazu. Das dreifache Erdbeben hatte mein altes Leben in Trümmer fallen lassen und ein neues zum Vorschein gebracht. Wir haben dann das Mahl zusammengehalten, sie, die Gefangenen und ich, der Kerkermeister. Sie waren so viel freier als ich! Da konnte ich nicht mehr anders. Da musste ich mitjubeln und mitsingen.
Ich sang das Lob eines Herren, den ich nie zuvor gesehen hatte. Ton für Ton gab ich meinem alten, verkehrten Leben den Abschied. Und wurde ein Glaubender. Und ein Singender. Und gemeinsam sangen wir die alten Lieder, die manchmal abends am Freitag aus der nahen Synagoge klangen: „Barmherzig und gnädig ist der HERR, geduldig und von großer Güte. Er wird nicht für immer hadern noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. Denn so hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten“. Seit dieser Nacht bin ich auch ein Sänger. Und Du, Lukas, musst das aufschreiben, alles! Die Welt soll wissen, wie ein Lied und ein Erdbeben mein Leben zum Guten gewendet haben. Du hast schon alles mitgeschrieben? Zeig einmal her, Lukas, ich will es lesen, will, dass es alle hören. Gebt alle Acht!
(Lesung des Predigttextes)
Weil der Predigttext von Pfarrer Groß als Ich-Erzählung gepredigt wird, ist diese Predigt begeisternd originell ,lebendig, anschaulich, verständlich und aktuell. Das Lied von Konstantin Wecker ist dazu eine gute Einleitung in die Faszination von Liedern. Der gesungene Psalm schließt die Predigt sehr stimmig ab. Lieder und besonders Kirchenlieder dabei besonders von Paul Gerhardt und Gospels können Türen des Herzens bis heute öffnen Ich sebst bin ganz begeistert über diese Predigt und würde sie selbst gern predigen ,wenn ich dran wäre zu predigen.