Predigt

Hören und fragen

Auf der Suche nach dem richtigen Weg

PredigttextMarkus 12,28-34 (mit ausführlicher Exegese, homiletischen und liturgischen Empfehlungen)
Kirche / Ort:Heidelberg
Datum:04.10.2015
Kirchenjahr:18. Sonntag nach Trinitatis
Autor:Kirchenrat Pfarrer Heinz Janssen

Predigttext: Markus 12,28-34 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn:Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm:Das höchste Gebot ist das:»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften « (5. Mose 6,4- 5). Das andre ist dies:»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm:Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. Als Jesus aber sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Exegese, homiletische Besinnung, Liturgie

Im Predigttext stellt ein Schriftgelehrter Jesus von Nazareth die Frage nach dem „höchsten“ Gebot (die Deutung des masc. πάντων „von allem“, das zum fem. ἐντολή nicht passt, ist schwierig).

Kontext

Im Nahkontext der Perikope Markus 12,28-34 wird Jesus in Jerusalem von Hohenpriestern, Pharisäern, Schriftgelehrten, Ältesten und Sadduzäern mit bestimmten Fragen konfrontiert: der Frage nach seiner Vollmacht (11,27-33), seiner Stellung zur Steuerfrage (12,13-17), der Frage nach der Auferstehung (12,18-27). Es folgen – deutlich anknüpfend, wie die anaphorischen Pronomen αὐτῶν und αὐτόν, V.28, zeigen – unser Passus mit der Frage nach dem höchsten Gebot (ἐντολὴ πρώτη πάντων, 12,28-34) und unmittelbar darauf die Frage nach dem Davidssohn (12,35-37), die aber Jesus als im Tempel Lehrender selbst stellt.

Synoptischer Vergleich

Die genannten Abschnitte im Mk-Evangelium kommen jeweils auch im Evangelium nach Matthäus und Lukas vor. Ein synoptischer Vergleich unserer Perikope mit Mt 22,25-40 und Lk 10,25-28 weist auf einen signifikanten Unterschied: Der Fragesteller, ein Schriftgelehrter, will nach Mt und Lk Jesus auf die Probe bzw. ihm eine Falle stellen (πειράζων / ἐκπειράζων), bei Mk ist von einer solchen Hinterlist nicht die Rede, vielmehr setzt der Evangelist ein ehrliches Fragen des Schriftgelehrten voraus. Dessen Begegnung mit Jesus, von der Markus erzählt, findet nach der im Evangelium unmittelbar vorausgehenden Diskussionen über die Auferstehungsfrage statt.

Literarische Gestalt, Ort und Aufbau

Mk 12,28-34 ist wie das ganze Mk-Evangelium als Erzählung gestaltet. Schauplatz der geschilderten Szene ist der Tempel bzw. der Tempelbereich in Jerusalem (Mk 11,27; 12,35). Der Szenenaufbau in Mk 12,28-34 ist dreiteilig. Auf einen Auftakt V.28 (I.) mit dem Auftritt eines Schriftgelehrten und seiner Frage an Jesus folgt in V.29-33 ein zweiaktiger Hauptteil (II.) mit einer Antwort Jesu (V.29-31) und einer Replik des Schriftgelehrten (V.32-33). Die Szene schließt (III.) mit einer gegenüber dem Fragenden respektvollen Bemerkung Jesu (V.34a) und einer Statuierung des Evangelisten, dass (unter den unlauteren Diskutanten) niemand mehr Jesus zu fragen wagte (V.34b).

Inhaltliche Gesichtspunkte

Die Frage nach dem höchsten, dem „ersten“ (πρώτη) Gebot von allen, kommt aus dem Mund eines Menschen, der sich bestens in seiner Bibel und Religion auskennt, eines „Schriftgelehrten“ (γραμματεύς, wörtlich: der sich auf jeden einzelnen Buchstaben versteht). Der Fragende hat in der Bibelgeschichte keinen Namen. In ihm begegnet ein Mensch, der sich von den Schriftgelehrten, vor denen Jesus sonst warnt (Mk 2,6f.; 3,22; 12,38-40), unterscheidet. Er kann zuhören, kann lange schweigen und, ohne das Wort an sich zu reißen, den Meinungsstreit, die Diskussion verschiedener religiöser und politischer Gruppen, verfolgen. Der „Bibelkundige“ hört erst zu, bevor er sich in die Diskussion einschaltet. Hören ist der erste Schritt zum Verstehen.

Jesus antwortet dem suchenden Menschen mit Worten, von denen er sicher sein kann, dass sie ihm vertraut sind: „Höre, Israel, JHWH / ´adonaj, unser Gott, ist JHWH allein …“ (V.29-31 zit. Dtn 6,4.5 / Lev 19,18). Gott lieben und den Nächsten lieben, Jesus fasst mit diesem „Doppelgebot der Liebe“ die erste und zweite Gebotstafel zusammen, wahrscheinlich auch die 613 aus der Tora gelesenen Gebote, nach Mt 22,40 „die ganze Tora und die Propheten“. Verständigung darüber beginnt mit dem Hören. „Höre Israel", so beginnt Mose seine Rede, wenn er sein Volk die Gebote, die Weisungen Gottes, lehrt. Höre und frage.

Das „Höre, Israel…" (שְׁמַע יִשְׂרָאֵל) ist bis heute das Glaubenskenntnis der jüdischen Gemeinde. Indem Jesus diese Worte als Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten zitiert, zeigt er, auf welchem Fundament er steht. Jesus ist selbst Hörender auf die Heilige(n) Schrift(en). Der Schriftgelehrte gibt mit seiner Antwort Jesus zu erkennen, dass er verstanden hat. Mit der Erklärung „Du bist nicht fern vom Reich Gottes" gibt ihm Jesus noch mehr als nur eine Antwort mit. Er bestärkt ihn auf seinem Weg und gibt ihm die Kraft, sein Leben nach den Geboten Gottes auszurichten, darauf mit seinem Leben zu antworten, es in Freiheit und Verantwortung zu gestalten. Gott lieben und den Nächsten lieben – wer wird diesem Anspruch gerecht? Ist ein Mensch damit nicht überfordert? Bin ich der Mensch, von dem Jesus sagen könnte „Du bist nicht fern vom Reich Gottes"?

Der Schriftgelehrte repetiert die Antwort Jesu (V.29-31 / V.32f.). Als Selbstbestätigung dessen, was er ohnehin schon wusste? Durch die wortgetreue Wiederholung bekräftigt er vor der Diskussionsrunde eher die Antwort Jesu – und noch mehr: indem er Jesu Antwort wiederholt, eignet er sie sich persönlich an, meditiert sie, bewegt sie wie Maria im Herzen. Es ist kaum zufällig, dass er in der Wiedergabe der Antwort Jesu die Untrennbarkeit und gleichstarke Intensität von Gottes- und Nächstenliebe durch den Vergleich mit den sonst so hochgeschätzten Ganz- und Schlachtopfern betont. Auffallend ist auch, dass er statt ψυχἡ (Seele / Leben) und διάνοια (Denken / Gesinnung) das Wort σύνεσις gebraucht, es bedeutet "Einsicht". Jesus bescheinigt ihm, dass er νουνεχῶς, d.h. „verständig / überlegt“, geantwortet habe.

Auch wenn kein Mensch dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe ganz gerecht wird, ist es gut, dass es diese Weg-Weisung gibt, die auch der Wochenspruch (1.Joh 4,21) aufnimmt. Die jüdische Gemeinde feiert das Fest der Freude über die Gebote (שִׂמְחַת תּוֹרָה). Menschliche Möglichkeiten sind begrenzt. „Aber Gott sieht das Herz an“ (1.Sam 16,7). Seine Gebote halten dem Menschen nicht die Schwächen vor, sondern führen und leiten ihn, stärken ihn in seinem Suchen nach einem Leben, das Gott gefällt. In diesem Sinn bittet Martin Luther Gott im Morgensegen, „dass dir all mein Tun und Leben gefalle“. Die christliche Gemeinde schaut auf den Weg Jesu, erzählt seine Geschichte weiter, hört und fragt.

Homiletische Hinweise

Die erzählerische Gestaltung der Perikope empfiehlt eine narrative Predigt, die mich in die Geschichte der Begegnung mit Jesus hinein nimmt und im Hinblick auf Glauben und Leben zum Hören und Fragen ermutigt. Möglich ist auch eine Dialogpredigt. Zumindest kann der Text in verteilten Rollen gelesen werden. Da in diesem Jahr der Erntedanktag auf den 18.So.n.Tr. fällt, ist der Kasus entsprechend einzubeziehen: zu hören und zu fragen, wovon wir leben.

Liturgische Gestaltung

Psalm 122 (bzw. zu Erntedank Ps 104) Lesungen: 3.Mose 6,4-5 mit 3.Mose 19,18b (Epistel), Markus 12,28-34 (Evangelium = Predigttext) Lieder: EG 409 Gott liebt diese Welt, 432 Gott gab uns Atem, 397 (Wochenlied) Herzlich lieb, 662 (Regionalteil Baden, Elsass und Lothringen, Pfalz) Schenk uns Weisheit, 66 (in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder, München 2005) Leben aus der Quelle, EG 321 Nun danket alle Gott.

Literatur: E. Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, KEK 1/2 171967. – E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus, NTD 1, 2011 (= 181998) – Heinz Janssen, Gottes Wort und Menschenwort. Lesen – Hören – Weiter sagen,

Die gekürzte Fassung meines obigen Beitrags zu Exegese, Liturgie und homiletische Besinnung ist als "Predigtimpuls", in: DtPfrbl 8/2015, S.458f., veröffentlicht.

Heinz Janssen

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