Klage und Hoffnung
Weniger klagen und sich tragen lassen von der Vorfreude auf Weihnachten und noch mehr adventlich auf den kommenden Herrn?
Predigttext: Jesaja 63,15-16(17-19a)19b;64,1-3 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984 / 2017)
15 So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. 16 Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name. (17 Warum läßt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, daß wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind! 18 Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten. 19a Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.) 19b Ach daß du den Himmel zerrissest und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen, 64, 1wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, daß dein Name kund würde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müßten, 2 wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten - und führest herab, daß die Berge vor dir zerflössen! - 3 und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.
Klagelieder
Klagelieder, Klagen der Volksgemeinschaft, gibt es im hebräischen Teil unserer Bibel nicht wenige: unter den Psalmen und auch sonst. Ein solches Volksklagelied aus der Geschichte Israels haben wir hier vor uns. Wann ist dieses Lied entstanden? Mir sind zwei mögliche Antworten begegnet: Entweder es entstand bald nach der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier unter den in Juda Zurückgebliebenen: Dann blicken die Beter verzweifelt auf das, was ihnen mit dieser politischen Katastrophe verloren gegangen ist. Oder es entstand wie die anderen Texte dieses dritten Teiles im Buch Jesaja einige Zeit nach der Rückkehr der Verschleppten aus der Verbannung: Der Wiederaufbau gestaltete sich schwierig, es gab wirtschaftliche Not, es gab Anfeindungen, politische Auseinandersetzungen… – Grund zur Klage.
Ich selber möchte heute weniger klagen, möchte mich eher tragen lassen von der Vorfreude, nicht allein auf Weihnachten, sondern adventlich auf den kommenden, neu kommenden, Herrn. Ich bin mir bewusst: In der Tradition unseres Glaubens gehört zum Advent auch das Gericht. Christus kommt auch als der Richter. Das will ich, das muss ich ernst nehmen. Mich bewegt eine andere Gefahr: In unseren Gesprächen auf der Straße, beim Einkaufen, in der Pause am Arbeitsplatz, nimmt das Klagen meist einen größeren Raum ein als das Hoffen. Nicht weil wir so pessimistisch gestimmt sind. Wir beklagen meist konkrete Erfahrungen: Was läuft uns nicht alles zuwider! Das Leben ist nicht einfach, und wir erleben Tag täglich, wie stark unser Zusammenleben von negativen Charaktereigenschaften bestimmt ist. Aber was darüber hinaus führt, die Hoffnungen, die Erwartungen, sind meist schwieriger zu benennen; denn was erwarten wir?
Tragfähige Hoffnungen
Welche Hoffnungen sind tragfähig? Was noch nicht ist, hat noch zu wenig Profil, zu wenig anschauliche Gestalt. Es kommt ja erst. Möglicherweise erklärt sich damit unsere Not mit dem Advent. Wir warten wie unsere Kinder auf den 24. Dezember. Das kann klar benannt werden, dieses Datum steht fest. Was aber erwarten wir vom kommenden Christus, vom wieder kommenden Herrn? Fragen Sie irgendjemanden: Auf was hoffst du? Wie wir alle wünscht sich die befragte Person mehr Frieden auf der Welt, mehr Gerechtigkeit, mehr Liebe. Doch wie könnte dieses Mehr aussehen? Was heißt das für mein, Ihr, unser Leben? Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, sind daneben anschaulicher, aber tragen nicht das helle Licht der Hoffnung.
Dabei ist mir aufgefallen: In diesen Versen aus dem dritten Teil des Jesajabuches, diesem späteren Teil des Prophetenbuches, wird nicht nur geklagt; es werden Sehnsüchte formuliert: „Wo ist dein leidenschaftlicher Eifer, halte dich nicht von uns fern, kehre zurück um deiner Knechte willen“ (Einheitsübersetzung). Was uns Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet, lässt sich verschieden bestimmen, auf jeden Fall gehört die Sehnsucht dazu. Sehnsucht und Hoffnungen: Ich strecke mich aus nach vorne, strecke mich aus ins noch unbekannte Land der Zukunft und male Bilder von meinem, von unserem Leben morgen und übermorgen. Ich habe eben gezeigt, wie schwierig das ist. Darum malt die Bibel die Zukunft meist mit Bildern aus der Vergangenheit aus: Das und das haben wir mit unserem Gott erlebt; hier und dort hat er uns geholfen. So erwarten wir seine Hilfe, sein befreiendes Kommen auch in der Zeit vor uns. Darum sind unseren jüdischen Geschwistern ihre heiligen Texte, unser Altes Testament, so wichtig: Hier steht, was sie mit ihrem Gott erlebt haben. Gott ist nicht am Ende, somit erwarten sie und wir mit ihnen sein Kommen neu in der Zeit vor uns.
Wir leben in einer Zeit, in der unseren Zeitgenossen zunehmend stärker die religiösen Erinnerungen verloren gehen, überall wird das inzwischen beklagt. Sie kennen die alten Geschichten der Bibel nicht mehr und auch nicht mehr das andere aus unserer Geschichte mit Gott. Wir erleben heute gesamtgesellschaftlich zwar keinen kämpferischen Atheismus. Vielmehr scheint unsere Zeit aus der christlichen Überlieferung ausgewandert zu sein oder Gott aus unserer Welt und aus unserem Alltag. Der Durchschnittszeitgenosse betont zwar, er glaube an irgendetwas, ohne Glauben könne man ja nicht leben. Aber dann hört es schon auf. Dieser Glaube hat sich losgelöst von seiner Grundlage. Dieser Glaube hat keine Vergangenheit mehr, und die Sehnsüchte richten sich nicht mehr auf Gottes Kommen und Wirken.
Als Gemeinde halten wir diese Erinnerung wach. Wir stellen uns Sonntag für Sonntag unter ein Wort aus der jüdisch-christlichen Überlieferung. Wir dürfen stolz darauf sein und spüren hoffentlich, was wir für uns damit gewinnen. Leider wirkt diese Treue zu unserer Überlieferung kaum missionarisch: Wen das alles nicht interessiert, der merkt nicht, welchen Gewinn wir davon haben. Möglicherweise kommt es aber in erster Linie gar nicht auf unsere Treue und unser Festhalten an, sondern auf unsere Sehnsüchte, Hoffnungen, Erwartungen. Möglicherweise unterscheidet uns das von so vielen anderen in unserer Umgebung: dieser Blick nach vorne, unser Weg hinein in einen offenen Horizont, der Glaube: Gott ist vor uns und darum gegenwärtig. Wir halten nicht am Überlieferten fest aus konservativer Haltung, wir hängen nicht am Alten, weil es alt ist. Wir schauen, welche Kraft in dem steckt, was uns überliefert ist, welche Dynamik ausgeht von dem, was geschehen ist. Wir sind erfüllt von der Erwartung: Aus dieser Kraft leben wir weiter.
Hoffnung aus der Erinnerung Israels
Israel hat sich die Erinnerung an große Ereignisse wach gehalten. Eine zentrale Rolle spielt unter diesen Erinnerungen der Auszug aus Ägypten. Als die babylonische Gefangenschaft zu Ende ging, wurde das zu einem erneuten Auszug aus der ägyptischen Sklaverei. Ebenso das Ende des Nationalsozialismus für moderne, gläubige Juden. Auch der Sinai mit allen seinen Naturwundern wurde zu einem solchen Zeichen: Wie Gott mit uns seinen Bund geschlossen hat, so schließt er neu mit uns seinen Bund für unsere Zukunft. Dem Gottesmann Elia erschien Gott nicht im Beben, nicht im lodernden Feuer, nicht im Donnern, in einer eher leisen Stimme ist ihm Gott begegnet. Auch unsere zentralen Erinnerungen, Weihnachten und Ostern, sind – trotz der Engel und des Sterns bei Jesu Geburt – alles andere als pompöse Geschehnisse, da spielt sich das Entscheidende von Gott her eher am Rande der sonstigen Ereignisse ab. Darum sollten wir in unserem Advent – mit dem Blick auf die kleinen und großen Zeichen in unserer Überlieferung – aufmerksam werden für die leise Stimme Gottes, dieses unscheinbare, ganz und gar nicht aufdringliche Aufleuchten von Gottes Zukunft.
Der Prediger möchte sich -wie seine Hörer- tragen lassen von der Vorfreude auf Weihnachten, Zum Advent gehören auch das Gericht Gottes und Bußworte wie von Johannes dem Täufer. Welche Hoffnungen auf die Ankunft Jesu sind tragfähig ? Bei Trito-Jesaja wird nicht nur geklagt, sondern es wird auch Hoffnung und Sehnsucht gepredigt. Die Bibel malt die Hoffnung mit Bildern von Rettungen aus der Vergangenheit. Unsere Zeitgenossen kennen die Trost- und Hoffnungs- Geschichten aus der Bibel kaum noch. Es gibt allerdings heute auch kaum kämpferischen Atheismus. Als Christen halten wir diese Geschichten im Bewußtsein, wie den Durchzug durchs Rote Meer und die Rettung vor dem Pharao, Mose auf dem Berg Sinai. Auch Advent, Weihnachten, Ostern und Pfingsten sollten wir in uns wachhalten. Persönlich hätte ich gern eine klarere Gliederung gewünscht: 1. Heilsworte 2. Gericht und Klage heute. 3. Bitte um Erscheineung Gottes, Hoffnung und Hilfe heute. Ein schönes Symbol: Bodelschwingh hat mit der Hoffnung aufs neue Jerusalem Bethel aufgebaut !