Komm, Erlöser der Völker

Meditation zum Adventslied EG 4 "Nun komm, der Heiden Heiland"

Predigttext: EG 4, 1-5
Kirche / Ort: Providenz-Kirche / Heidelberg
Datum: 15.12.2002
Kirchenjahr: 3. Sonntag im Advent
Autor/in: Pfarrer Heinz Janssen

Liebe Gemeinde!

Die Adventslieder lassen in Melodie und Text die Hoffnung auf Erlösung, die Erwartung auf eine letzte Befreiung, anklingen. Die Verheißung von Gottes Ankunft, seines Advents, will uns Menschen aufrufen, ihm entgegenzugehen.

Auf ein ganz altes Adventslied möchte ich heute morgen mit Ihnen/Euch hören: “Nun komm, der Heiden Heiland”. Der Text geht auf den im 4. Jahrhundert in Trier geborenen und späteren Bischof von Mailand, Aurelius Ambrosius, zurück. Die heutige Melodie verdanken wir Martin Luther, der sie aber nicht neu komponierte, sondern auf den mittelalterlichen Hymnus zurückgriff. Martin Luther war es auch, dem wir den deutschen Text verdanken. Dieser ist eine Übersetzung aus dem ursprünglich lateinischen Wortlaut: VENI REDEMPTOR GENTIUM.

Die deutsche Übersetzung aus Martin Luthers Feder ist nicht gerade für Konfirmanden/-innen geeignet, aber es sind nicht nur die Konfirmanden/-innen, die besonders mit dem ersten Vers Verstehensschwierigkeiten haben:

“Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt”.

Das ist nicht mehr unsere Sprache und Grammatik. Wir müssen heute den Text, der zur Zeit Martin Luthers bestimmt verstanden wurde, neu übersetzen, ihn mit unserer Sprache sagen.

Nicolaus Bruhns, hat zu diesem ersten Vers eine Choralphantasie geschrieben. Nicolaus Bruhns, im Dezember 1665 in Schwabstedt (bei Husum) geboren, Schüler von Dietrich Buxtehude, war Komponist, Organist und Violinist. Er ist nur 32 Jahre alt geworden und hinterließ Orgelwerke und Kirchenkantaten.

Was mag den jungen Komponisten gerade bei diesem Adventslied bewegt haben? In seiner Choralphantasie folgt er den vier Liedzeilen.

1) Nun komm, der Heiden Heiland,
2) der Jungfrau Kind erkannt,
3) daß sich wunder alle Welt,
4) Gott solch Geburt ihm bestellt.

Auffällig ist, daß Nicolaus Bruhns sich nur diesem ersten Vers widmet. Seine Choralphantasie klingt wie ein Versuch, den Inhalt des ersten Verses zu umschreiben und zu deuten. Vielleicht hat er im ersten Liedvers die inhaltliche Mitte gesehen.

VENI REDEMPTOR GENTIUM, heißt die erste Liedzeile im ursprünglichen lateinischen Text. Eine wörtliche Übersetzung ergibt:
KOMM, ERLÖSER DER VÖLKER. Das ist ein Hilferuf, ein Ruf nach Befreiung. Erlösen bedeutet im biblischen Sinn: einen Menschen, der Schulden hatte und wegen Zahlungsunfähigkeit als Sklave genommen wurde, loskaufen, ihn lösen. Wo brauche ich Befreiung, Lösung aus einer Situation, aus der ich mir selbst nicht helfen kann? Wo brauchen die Völker jemanden, der sie befreit und losbindet?

VENI REDEMPTOR GENTIUM,
KOMM, ERLÖSER DER VÖLKER – Hören wir jetzt den ersten Teil der Choralphantasie von Nicolaus Bruhns. Achten wir auf die 3 Unterstimmen, die im motettischen Stil diesen Hilferuf zitieren, und auf den Sopran, der als frei kolorierende Oberstimme geführt wird.

Choralphantasie Teil I

Der Erlöser, der wieder ganz macht, was zerrissen und zerbrochen war, wird in der zweiten Liedzeile mit Maria, der Mutter Jesu, in Verbindung gebracht. Es geht um die Erkenntnis dieser Verbindung. Für Maria steht das Wort “Jungfrau”. Eine alte Verheißung aus der Bibel Israels klingt in diesem Wort an, die Botschaft des Propheten Jesaja: “Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel (d.h. Gott mit uns)”.

OSTENDE PARTUM VIRGINIS steht im lateinischen Text, den Martin Luther sehr frei und für uns heute kaum noch verständlich wiedergegeben hat: “der Jungfrauen Kind erkannt”. Wörtlich sagen die drei lateinischen Worte: ZEIGE (OFFENBARE, ERKLÄRE) DIE GEBURT DURCH DIE JUNGFRAU.

Unmöglich, daß die ratio des Menschen den ersehnten Erlöser mit einem Menschen in Verbindung bringen kann. Darum die Bitte: Zeige, erweise dich, Du Menschenkind, als der kommende Erlöser. Laß uns ach so vernünftige Menschen zweifeln an unserer Vernunft, laß uns kritisch werden gegenüber unseren allzugewohnten Denkschemata, mit denen wir uns vor dem, was uns gut tun könnte, verschließen. Öffne unsere Augen und Ohren, daß wir sehen und hören.

Im zweiten Teil der Choralphantasie von Nicolaus Bruhns zitieren alle Stimmen motettisch dieses Verlangen nach Klärung. Anschließend gehen sie in ein freies Improvisieren über. Die Sopranstimme wird wie in der ersten Liedzeile durch eine besondere Registrierung hervorgehoben. Im zweiten Abschnitt dieses Teiles fallen die Echostellen auf, ein für die damalige Zeit typisches musikalisches Stilmittel.

Choralphantasie Teil II

“Daß sich wunder alle Welt” – mit dieser Übersetzung hält sich Martin Luther ziemlich wörtlich an den überlieferten Text: MIRETUR OMNE SAECULUM – STAUNEN SOLL DIE GANZE WELT. Ein “Paradigmawechsel” ist angesagt, ein Umdenken, das den Menschen auf einen guten Weg bringt.

Will Nicolaus Bruhns mit dem Taktwechsel im dritten Teil seiner Choralphantasie diese neue Denkrichtung anklingen lassen? Und will er mit der kaum noch zu erkennenden in einer Oberstimme angedeuteten Choralmelodie zum Verlassen der gewohnten und eingefahrenen Bahnen ermutigen?

Choralphantasie Teil III

Was Martin Luther mit den Worten “Gott solch Geburt ihm bestellt” übersetzt hat, läßt sich vom lateinischen Urtext her für uns heute verständlicher sagen.
TALIS PARTUS DECET DEUM heißt: EINE SOLCHE GEBURT STEHT GOTT GUT.

Der kommende Erlöser ist der uns menschlich ganz nahe, nicht der ferne und unerreichbare. Der kommende Erlöser befreit uns, um einander menschlich näher zu kommen, einander wahrzunehmen, füreinander dazusein, Offenheit zu wagen und in alledem Vertrauen – auch wenn erfahrungsgemäß noch so viel dagegen steht.

Etwas Befreiendes und Ermutigendes, zum Aufbruch in die Zukunft atmet der vierte Teil der Choralphantasie mit seinen schnellen Verzierungsfiguren, immer wieder ist die Melodie dazwischen solistisch zu hören bis zu einem ganz freien virtuosen Schluß.

Choralphantasie Teil IV

Im Johannesevangelium (Johannes 4,41+42) steht – rückblickend auf Jesu Predigt und seine Zuwendung zu den Menschen:
“Noch viel mehr glaubten an Jesu um seines Wortes willen und sprachen:
Wir haben selber gehört und erkannt: Dieser ist wahrlich der Welt Heiland”.
Lasst uns im Sinne des alten Adventsliedes Gott bitten und Ihm danken: Nun komm, Erlöser der Völker. Komm auch zu uns. Gelobt seist Du, Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.

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