“Da fehlt ja das Kind”
Das Besondere der Weihnachtsszene
Predigttext: Johannes 8,12-16 (Übersetzung nach Martin Luther, Rev. 1984)
12 Da redete Jesus abermals zu ihnen und sprach: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. 13 Da sprachen die Pharisäer zu ihm: Du gibst Zeugnis von dir selbst; dein Zeugnis ist nicht wahr. 14 Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Auch wenn ich von mir selbst zeuge, ist mein Zeugnis wahr; denn ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe; ihr aber wißt nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. 15 Ihr richtet nach dem Fleisch, ich richte niemand. 16 Wenn ich aber richte, ist mein Richten gerecht; denn ich bin’s nicht allein, sondern ich und der Vater, der mich gesandt hat.Exegetisch-homiletische Überlegungen
Die Perikope hat zwei Schwerpunkte: Den mit Vers 12 erhobenen Anspruch Jesu und den daraufhin entstehenden Rechtsstreit mit den Pharisäern um die Geltung des Rechtsgrundsatzes, wonach zum Beweis eines Tatbestands zwei Zeugenaussagen nötig sind. Dass sich Jesus doch in Übereinstimmung mit dem mosaischen Gesetz befindet, belegt er mit dem Hinweis auf die volle Übereinstimmung seines Zeugnisses mit dem seines göttlichen Vaters. Da das Einssein Jesu mit seinem Vater wiederholt Gegenstand der Reden Jesu im Johannesevangelium ist, geht die Predigt nur kurz in ihrem letzten Teil auf diesen zweiten Schwerpunkt ein. Damit ist Platz und Zeit gewonnen, zur Entfaltung und Aktualisierung von Vers 12. Denn dieser Vers hält eine Botschaft bereit insbesondere für die Tage nach dem Fest. Jesu Wort vom Licht der Welt ermöglicht mühelos die Anknüpfung beim Symbolgehalt des Kerzenlichts zur Weihnachtszeit, was in der Predigt nur behutsam angedeutet werden soll. Wichtig ist, dass etwas von der Besonderheit der johanneischen Ich-bin-Worte Jesu verdeutlicht wird. Es sind Selbstaussagen Jesu, die auf das Geheimnis seiner Person und seiner Sendung deuten, aber sich zugleich auf die Angeredeten beziehen. Jede Ich-bin-Aussage zieht stets eine Aussage darüber nach sich, was den Seinen mit ihm und durch ihn gegeben wird, um elementare Bedürfnisse zu stillen. Hier also die Notwendigkeit von Licht, damit ein Tappen im Dunkeln nicht unerbittliches Schicksal sein muss. Von Anfang an wird im Johannesevangelium Licht als das zentrale Bild und Symbol für das herausgestellt , was nach dem Zeugnis des Alten Testaments Gott in seiner Bezogenheit zum Menschen sein will (vgl. Johannes 1,9-13). Das ist hier in diesem Ich-bin-Wort mit Jesus identifiziert. Von daher ist es naheliegend, die Frage, inwiefern Christus als das Licht der Welt mein Leben erhellt, mit einer aktualisierenden Beschreibung der Rechtfertigungsbotschaft zu beantworten, ohne den theologischen Begriff selbst zu nennen oder auf die aktuelle Diskussion um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre jetzt wieder im Vorfeld zum Ökumenischen Kirchentag eigens hinzuweisen. Schließlich regen die Worte „nachfolgen“ und „wandeln“ dazu an, den individuellen Lebensvollzug des Menschen als Weg und damit als ein Gehen und Verharren transparent zu machen. Zielgedanke: „Christus, das Licht der Welt...Wer ihm begegnet, der sieht auch den Vater...“ (EG 410,1).Gliederung der Predigt:
I. Die besondere Weihnachtsszene: Das Tuch ohne Kind II. Christus, das Licht der Welt III. Tappen im Dunkeln IV. Licht des Lebens V. Am Leuchten wird das Licht erkannt VI. Die besondere Weihnachtsszene: Jetzt ist er unterwegsLiebe Gemeinde!
I. Die besondere Weihnachtsszene: Das Tuch ohne Kind
Ungläubiges Erstaunen bei einer Besuchergruppe vor der Weihnachtsszene eines spätgotischen Schnitzaltars in der Kirche der Evang.-lutherischen Gemeinde zu St Peter-Ording: „Da fehlt ja das Kind!“. Alles ist da: Maria, die Engel, das Tuch für das Kind, Ochs und Esel, Josef und die Hirten.
Alles ist da. Es fehlt nur das Kind. Ist es gestohlen? Ist das Kunstwerk unvollendet? Oder aber: Hat man hier das Kind bewusst ausgespart? Dann wäre es ein Bild für den ersten Sonntag nach Weihnachten. Und dieser Abschnitt aus dem Johannesevangelium deutete das Fehlen als Botschaft für uns in der Zeit nach dem Fest: Aus dem Kind, dessen Geburt so überstrahlt ist vom Licht und der Klarheit der Herrlichkeit Gottes, ist ein Mann geworden.
II. Christus, das Licht der Welt
Jetzt, zu dem besonderen Zeitpunkt des Laubhüttenfestes steht er am Vorhof des Tempels zu Jerusalem. Dort aber bringt er das bei seiner Geburt bereits aufscheinende Licht in eine besondere Beziehung zu seiner Person und zu seiner Sendung, wenn er nun sagt: „Ich bin das Licht der Welt“.
Ein unerhörter Anspruch! Für die umher stehenden Pharisäer eine unglaubliche Anmaßung. Denn Ort und Zeitpunkt, zu denen Jesus in dieses Wort das Geheimnis seiner Person und seines Auftrags kleidet, unterstreichen noch das Unerhörte. Es ist das Ende des ersten Feiertags des Laubhüttenfestes, des Festes der Lichterfreude. Riesige Leuchter überragen die Umfassungsmauer des Tempels und verbreiten ihr Licht über die ganze Stadt. Im Talmud, der Beschreibung zeitgenössischen Lebens, heißt es hierzu: „Es gab da kein Gehöft in Jerusalem, das nicht vom Licht erleuchtet wurde“.
In einem unserer Weihnachtslieder heißt es am Schluss: “…dein Licht sei meine Weihnachtswonne und lehre mich die Weihnachtskunst, wie ich im Lichte wandeln soll, und sei des Weihnachtsglanzes voll“ (EG 40,5).
III. Tappen im Dunkeln
Die Frage freilich: Wie will das Licht, das Christus ist, mein Leben erhellen?
Es liegt etwas Majestätisches aber zugleich auch etwas Einladendes in diesem Wort Jesu: „Ich bin das Licht der Welt…“ Im Johannesevangelium werden immer wieder solche „Ich-bin-Worte“ aus Jesu Mund berichtet. Das „Ich bin“ ist eine Redeweise, mit der zwar Jesus Aussagen über sich selbst einleitet. Aber diese Selbstaussagen sind immer auf etwas bezogen, was die Angeredeten brauchen. Wenn Jesus an anderer Stelle sagt: „Ich bin der gute Hirte“, dann schließt das sofort auch das andere mit ein: Und ihr braucht doch einen, der euch auf Plätze führt, wo ihr nahrhafte Kost und frisches Wasser findet. So weist auch hier das „Ich bin das Licht der Welt“ sofort auch auf das andere hin: Ihr braucht Licht, damit ihr nicht in der Finsternis wandelt.
Wandeln! Gleich zweimal ist damit das etwas altertümlich klingende Wort „wandeln“ aufgetaucht; vorhin in dem erwähnten Weihnachtslied und jetzt hier in diesem Wort Jesu. Uns mag da zugleich auch einfallen, wie oft Martin Luther dieses in seiner Bibelübersetzung verwendet und davon geprägt es dann in unseren Gesangbuchliedern immer erscheint. Aber es steckt in diesem Wort ein tiefsinniges Bild, das uns eine elementare Grundbefindlichkeit unseres Lebens vor Augen führt. Denn Leben heißt ja unterwegs sein. Sich auf einem Weg befinden, nicht selten auch in einem mehr oder minder klaren Hin und Her. Genau das aber schließt diese Redewendung vom „wandeln“ ein.
Und was uns dabei bestimmt, findet gültigen Ausdruck in unseren freilich auch oft recht gedankenlos gebrauchten Redeweisen. So ist es doch höchst bezeichnend, dass wir die Erkundigung nach dem Befinden des anderen oft etwas salopp mit den zwei Fragen anstellen: „Wie geht’s?“ und „ Wie steht’s ?“. Gehen, aber auch Stehen gehören offensichtlich gleichermaßen zu unserem Dasein. Sie bedingen sich gegenseitig. Bei aller Bewegung, in der wir uns bei unserem Gang durchs Leben befinden, wir brauchen dabei immer auch die Orte, wo wir innehalten. Standorte, von denen aus wir uns Orientierung für den weiteren Gang verschaffen . Standpunkte, von denen aus wir wieder aufbrechen können, um Neuem zu begegnen.
Orte des Innehaltens, Standpunkte können auch zu Stellen werden, an denen letzte Fragen nach Antworten drängen: Was willst du mit deinem Leben? Wer bist du jetzt und überhaupt? Woher kommst du und wohin solltest du eigentlich gehen?
Man kann nicht sagen, daß diese Fragen heute keine Rolle spielen. Die übervollen Terminkalender der Psychotherapeuten sagen uns: Sowohl die Älteren und Alten, die ein oder zwei Weltkriege hinter sich haben, wie auch die Jüngeren und Jungen, die das Leben noch vor sich haben, sind heute von diesen Fragen umgetrieben. Die seit vielen Jahren empfohlene Selbsterfahrung wird heute wie noch zu keiner anderen Zeit befolgt. Man analysiert seine bisherigen Erfahrungen. Man steigt allein oder noch besser mit der Hilfe anderer in die eigenen Erlebnisgründe.
Und es ist einmal zuerst viel Dunkles, was dabei zu Tage tritt. Man sieht, wie gespalten und innerlich zerrissen man ist. Die innere Verdrehtheit kommt zu Gesicht. Die Dunkelheiten dieser Welt haben ihre Entsprechungen im eigenen Innern.
Erst richtig finster wird es, wo daraus Abscheu und Überdruss über das eigene Selbst erwachsen wollen. „Ich mochte nicht, wie ich aussah“, hadert ein Jugendlicher mit sich selbst, „ich mochte nicht, wie ich mich anzog, mich bewegte, was ich zustande brachte, was ich galt“.
Eine ältere Frau sieht eine Generation heranwachsen, welche das Leben nicht mehr versteht. Sie stellt fest und fragt: „Die Menschen wachsen und reifen nicht mehr wie Pflanzen froh aus dem Erdreich in ihre Bestimmung hinein. Haben sie ihres Ursprungs vergessen?“.
IV. Licht des Lebens
Tappen im Dunkeln. Wandeln in der Finsternis. Was heißt da: Licht des Lebens haben.?
Martin Luther hat selbst kostbare Jahre seines Lebens als ein entsetzliches Wandeln in Finsternis und Ungewißheit verbracht. Den Lichtblick, der ihn da heraus führte, beschreibt er dann später so: Das Vertrauen in den, der da sagt, dass er das Licht der Welt sei, gibt deswegen unerschütterliche Gewißheit, weil er uns uns selbst entreißt und uns außerhalb von uns selbst hinstellt.
Gemeint ist damit dieses: Ich finde Sinn und Bestimmung meines Lebens nicht in mir und in meinem Selbst. Ich kann mich nicht auf mein Befinden verlassen. Das wankt und schwankt, je nach dem, wie ich gerade drauf bin. Es muß etwas außerhalb meiner selbst sein, was mir Halt und Orientierung , Stütze und Bestimmung gibt. Halt und Bestimmung aber gibt mir das Wissen von einem Versprechen. Es ist das Versprechen Gottes an mich, dass er mich will!
Wir wissen es doch: Durch eine Liebeserklärung, die einen Menschen ins Herz trifft, wird er ein anderer. Diese Erfahrung aus unserem eigenen Leben ist gleichnisfähig für die Begründung meines Lebens außerhalb von mir selbst. Indem Gott mich will, bekommt mein Leben eine ganz neue Bedeutung. Jetzt gibt es einen, der mich beachtet, der auf mich achtgibt. Da ist einer, dem ich etwas wert bin. Das hält mich. Das verleiht meinem Leben ein ganz neues Gewicht
Wenn nun Jesus sagt: „Ich bin das Licht der Welt“, dann ist damit nichts Geringeres gesagt, als dass er in diesem Sinne das Licht meines Lebens geworden ist. Er ist Gottes Versprechen, daß Gott mich will.
Ob das nicht der Lichtblick ist inmitten aller Dunkelheiten und Finsternisse, die doch keinem Menschenleben erspart bleiben? Auch ein Lichtblick in meiner Welt. Die Welt, das ist immer zuerst auch die Welt, wie ich sie erlebe, was mich von ihr angeht, was ich von ihr habe und was ich von ihr sehe. In diese Welt kommt nun Licht mit Gottes Versprechen, daß er mich mag und will.
Dieses Versprechen leuchtete noch einmal auf in der Klarheit, wie sie die harte, kalte, dunkle Hirtennacht über Bethlehem erhellte. Es leuchtete auf in der Geburt Jesu. Findet denn das Rätsel, daß das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht!“ wie kein zweites den ganzen bewohnten Globus umspannt, nicht darin seine Lösung, dass es in den schlichten Worten „ …Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus seinem göttlichen Mund,…“ das Geheimnis der Weihnacht von dem uns zugewandten Blick aus den Augen Gottes, dem ewigen Augen-Blick der Liebe Gottes in elementarster und zugleich treffendster Weise fasst?
Dieser dem Menschen zugewandte Augen- Blick der Liebe Gottes ist es schließlich, was die Welt in ihrer finstersten Nacht erhellte – damals, als Jesus am Kreuz angesichts aller Gottes- und Menschenfeindlichkeit seinen Vater um Versöhnung bat und Gott die Bitte seines sterbenden Sohnes erhörte. Damit hat er ihn ein für allemal in seiner Sendung als Licht der Welt bestätigt und damit auch als das Licht meiner Welt.
Die Schatten der Einrede, wie sie einst schon die Pharisäer erhoben, bleiben. Ist es denn auch wahr, dass sich in ihm die Menschenfreundlichkeit eines barmherzigen Gottes der Welt zeigt? Sind nicht schon so viele aufgetreten und haben gesagt, sie seien das Licht der Welt? Am Ende aber entlarvten sie sich als üble Menschheitsverführer und brachten Not und Elend.
V. Am Leuchten wird das Licht erkannt
Wir verstehen sehr wohl diese Skepsis und doch gilt: Braucht es einen Beweis, dass Gott in Christus ist? Erkennt man das Licht nicht am Leuchten? Wer wird auch den Kerzen am Christbaum bestreiten, dass sie Licht sind?
Freilich. Man erkennt Jesus als das Licht der Welt erst, wenn man ihm folgt. Dort erst scheint es auf, wo man sich darauf einlässt, in seinem Schein Ursprung, Bestimmung und Ziel seines Lebens zu schauen.
„Die Menschen wachsen nicht mehr in ihre Bestimmung hinein. Haben sie ihres Ursprungs vergessen?“, sagt und fragt die ältere Frau.
Ursprung und Bestimmung des Lebens haben stets zu leuchten begonnen, wo Menschen sich haben von Jesus ansprechen lassen und zu Herzen nahmen, was er sagte, zeigte und sagte.
Leuchtete etwa nicht das Leben eines Oberzöllners Zachäus verheißungsvoll auf, als er Jesus die Tür seines Hauses öffnete und mit ihm am Tisch saß? ( Lukas 19,1-10). Die Samariterin am Jakobsbrunnen (Johannes 4), die Ehebrecherin, deren Geschichte unmittelbar vor unserem Textabschnitt erzählt wird, – in welch neuem Licht muß deren scheinbar verkorkstes Leben aufgeleuchtet haben, nachdem Jesus mit ihnen gesprochen hatte! Die Worte der Bergpredigt erst! Wieviel Licht haben sie in das Dunkel der Welt gebracht! Und wenn Jesus uns im Vaterunser einlädt, dass wir mit Gott wie mit einem Vater reden dürfen, gibt das unserem Leben nicht eine Würde und Bestimmung, die es in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt?
„Wer mir nachfolgt, wird das Licht das Lebens haben und wird nicht wandeln in der Finsternis“, sagt Jesus selbst nicht ohne Grund, aber mit Augen, die einladend zwinkern – so, als wollten sie sagen: Kommt her und seht. Probiert es selbst aus. Immer wieder einmal. „…lasset fahrn, was euch quält; was euch fehlt, ich bring alles wieder“ (EG 36,5).
VI. Die besondere Weihnachtsszene: Jetzt ist er unterwegs
Ungläubiges Erstaunen angesichts des fehlenden Kindes im spätgotischen Schnitzaltar. Aber da ist nun noch diese andere Besonderheit in dieser Weihnachtsszene. Die Figuren des Bildwerks schauen gar nicht dahin, wo das Kind liegen sollte. Ihr Blick ist in den Kirchenraum gerichtet. Dorthin, wo die Gemeinde sich zum Gottesdienst versammelt. Dorthin halten sie auch das leere Tuch. Das Kind im Stall zu Bethlehem, umstrahlt von der Klarheit des Herrn, ist nur der Anfang. Der da gesandt ist, dass wir Licht auf unserem Weg durchs Leben haben, ist jetzt unterwegs. Und er geht uns auch heute voran auf unserem Weg heraus aus dem Fest in die Tage des zu Ende gehenden Jahres. Amen.