Die Arbeiter im Weinberg

Predigttext: Matthäus 20, 1-16
Kirche / Ort: Emmauskirche / Aachen
Datum: 16.02.2003
Kirchenjahr: Septuagesimae (70 Tage vor Ostern)
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext Matthäus 20,1-16 (übersetzt von Walter Jens)

Das Reich der Himmel: Ein Gutsherr zog am Morgen aus, um Männer zu finden, die gegen Lohn in seinem Weinberg arbeiteten; und als er sie fand und handelseinig mit ihnen wurde – einen Denar für den Tag -, schickte er sie zu seinem Garten. Um die dritte Stunde ging er wieder hinaus und sagte zu den Männern, die auf dem Markt herumstanden und keine Beschäftigung hatten. „Kommt, geht auch ihr in meinen Weinberg; ich will euch geben, was recht ist“, und die Männer gingen hin. Auch um die sechste und neunte Stunde ging er wieder hinaus und machte es genauso wie vorher; und als er um die elfte Stunde immer noch Männer fand, die herumstanden, sagte er zu ihnen: „Was steht ihr hier den ganzen Tag herum, ohne etwas zu tun?“ Die Männer antworteten ihm: „Uns hat niemand Arbeit gegeben.“ Da sagte der Herr: „Kommt, geht auch ihr in meinen Weinberg.“ Später, als es Abend wurde, sagte der Gutsherr zu seinem Verwalter: „Ruf die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn: den letzten zuerst, den ersten zuletzt.“ Da kamen die Arbeiter, die in der elften Stunde eingestellt worden waren, und erhielten ihren Lohn: jeden einen Denar; und als die ersten an der Reihe waren, glaubten sie, ihr Lohn wäre höher, doch als man auch ihnen nur einen Denar auszahlte, wurden sie unwillig und murrten über den Gutsherrn: „Die letzten hier haben nur eine einzige Stunde gearbeitet, und dennoch hast du ihnen das gleiche gegeben wir uns, die wir die Last des Tages getragen haben und die Hitze aushalten mussten.“ Da sagte der Gutherr zu einem von ihnen: „Hör, Freund, ich tu dir kein Unrecht. Sind wir nicht handelseinig geworden? Einen Denar für den Tag: so war es ausgemacht zwischen uns! Also nimm dein Geld und geh! Ich aber will den letzten hier das gleiche geben wie dir. Darf ich mit meinem Geld nicht tun, was ich will? Oder blickst du deshalb so böse, weil ich grosszügig bin?“ Die Letzten: die Ersten, die Ersten: die Letzten – so wird es sein.

Exegetisch-homiletische Vorüberlegung

Matthäus hat das Gleichnis in einen „weisheitlichen“ Rahmen gesetzt, der die Gedankenführung erweitert: Es ist das Wort von den Ersten, die zu Letzten werden, und Letzte, die zu Ersten werden. Das Gleichnis selbst zieht diese – allgemein gehaltene - Umkehrung nicht, sondern erzählt, dass Gottes Güte die Letzten den Ersten gleichstellt. Das Gleichnis endet mit einer Frage, die die Hörer einbezieht. Der Aufbau des Gleichnisses ist kunstvoll, es gibt Steigerungselemente (Stunden) und zwei dialogische Szenen: In der ersten spricht der Weinbergbesitzer die Arbeitssuchenden in der letzten Stunde an, in der zweiten die Arbeiter, die einen vollen Tag nachweisen können; die erste Szene spielt auf dem Arbeitsmarkt, die zweite an der Arbeitsstelle. Die Predigt versucht, die im Gleichnis erzählte Botschaft, auch auf dem Hintergrund der Arbeitswelt, wie sie heute vorliegt, vorzustellen. Dabei ist es hier nur möglich, die allgemeine Situation einzubeziehen. Weitere Konkretionen müssten folgen. Wichtig ist, die Arbeitswelt in den Gottesdienst zu bringen.

Literatur:

Der Kommentar von U. Luz mit vielen Bezügen zur Auslegungsgeschichte und die Gleichnisauslegung von L. Ragaz.

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Liebe Gemeinde,

dick gedruckt steht über dem Gleichnis die Überschrift: Die Arbeiter im Weinberg. Ich kann über sie reden, ihre Geschichte erzählen, verwundert die Augen reiben. Richtig ist: In diesem Gleichnis werden Menschen vorgestellt, die arbeiten gehen – und auf Arbeit warten. Aber was die Überschrift nicht verrät: Das Gleichnis stellt einen Chef vor, der nicht nur ungewohnte Wege geht, sondern auch mit seiner Güte den Weinberg in Aufruhr versetzt. Und am Ende der Geschichte werde ich, der Zuhörer, einfach hineingezogen: “Blickst du deshalb so böse, weil ich großzügig bin?“

Die Überraschungen kommen immer am Schluss. Eigentlich wollte ich mich heraushalten, wie ich mich immer heraushalte, wenn es Konflikte gibt, in die ich nicht verwickelt bin und die meine Interessen nicht berühren. Ich könne, entschuldige ich mich, die Gesamtsituation nicht überblicken. Nur nichts Falsches sagen. Hüte dich, sage ich mir. Aber die Geschichte, wie Matthäus sie überliefert, ist so kunstvoll aufgebaut, dass ich fast nicht merke, am Ende mitten drin zu sein. “Blickst du deshalb so böse, weil ich großzügig bin?“.

I.

Die Geschichte geht so:
Die erste Stunde. Sonnenaufgang. Auf dem Marktplatz warten Menschen. Sie suchen Arbeit. Jeden Tag stehen sie hier. „Arbeitsmarkt“ eben. Der Weinbergbesitzer kommt. Er bringt Arbeit mit. Heute hat er viel davon zu vergeben. Es ist nicht jeden Tag so. Was zu machen ist? Keine Ahnung. Nur: Arbeit. Arbeit ist Leben. Wählerisch ist hier keiner. Bescheiden geht es nur um das tägliche Brot. Um den Denar, von dem die Geschichte erzählt. Ein Denar – das ist das Existenzminimun. Grosse Sprünge sind da nicht zu machen, sagen die Leute. Und jeder weiss, was gemeint ist. Also, heute in den Weinberg. Der Tag verspricht, schön zu werden. Zwölf Stunden Arbeit. Und wenn die Sonne untergeht, wird es ein guter Tag gewesen sein. Nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die Familie. Sie bangt immer mit. Ein Denar!

Drei Stunden später, sechs Stunden später, neun Stunden später: Die Geschichte liebt die Steigerung. Da stehen immer noch Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Seit wann sie hier stehen? Kein Wort davon. Sind sie womöglich zu spät gekommen? Haben sie schon etwas anderes gemacht? Waren sie womöglich von Anfang an zu viel? Ich weiß ja, warum ich so frage. Gründe suche ich, auch Gründe, abzuwehren. Wenn sie´s selber schuld sind, erst jetzt zu erscheinen? Sich regen, bringt Segen. Wer arbeiten will, findet auch welche … Die Geschichte erzählt nur, dass der Weinbergbesitzer, heute wohl der bedeutendste Arbeitgeber am Ort, geben will, was recht ist. Klar. Stunde mal Stundenlohn. Schreibt euch eure Zeiten auf, sage ich. Keiner von euch hat auch nur eine Stunde zu verschenken.

Und dann, eine Stunde vor Feierabend: „Was steht ihr hier den ganzen Tag herum, ohne etwas zu tun?“ Die Männer antworteten ihm: „Uns hat niemand Arbeit gegeben.“ Da sagte der Herr: „Kommt, geht auch ihr in meinen Weinberg.“ Ich werde stutzig. Noch eine Stunde vor Schluss? Macht ein Arbeitgeber so etwas? Ich habe ja schon viel erlebt. Das nicht. Die Wegezeit abziehen, das Umziehen abziehen – was bleibt dann noch? Aber die Leute haben lange ausgeharrt. Fast den ganzen Tag. Die Enttäuschung: „Uns hat niemand Arbeit gegeben“. Ein verlorener Tag. Kein Denar. Die Vernunft sagt: Geh nach Hause. Der Weinbergbesitzer: Komm in meinen Weinberg.

II.

In dieser Geschichte, die Jesus erzählt, treffen wir auf unsere Begriffe und Zeitungsmeldungen, die grossen Worte und den Brustton der Überzeugungen. Von Arbeitsmarkt ist bei uns fast jeden Tag die Rede, die Arbeitslosenzahlen werden wenigstens einmal im Monat verkündet, und Schuldzuweisungen sind zu einem Ritual geworden. Desaster müssen erklärt werden. Arbeitsplatzbesitzer werden Arbeitslosen gegenübergestellt, Interessenvertreter gegeneinander ausgespielt – und die Gesichter von Menschen verschwinden in Statistiken, Theorien und Stammtischgeschwätz.

Das Gleichnis kommt mit wenigen Worten aus. Wir sehen Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Wir hören sie erzählen. Sie erzählen von dem tagtäglichen Warten – und von dem Glück, genommen zu werden. Sie erzählen von der Angst, am Abend immer noch dazustehen und leer nach Hause zu gehen. Sie erzählen von der Hoffnung, dass, gerechnet über viele Tage, Monate und Jahre, etwas übrig bleibt. Es ist eine sehr menschliche Geschichte, die einlädt, die vielen kleinen und großen Geschichten aus dem Arbeitsleben zu erzählen: die fünfzigste Absage, die betriebsbedingte Kündigung, der ständige Stress mit der kontinuierlichen Entwicklung, die Lücken im Lebenslauf – und die Anforderung an sich selbst, immer der Erste zu sein, am Ball bleiben zu müssen, sich nicht abhängen lassen zu können. In den Bildern des Gleichnisses: Du musst von Anfang an dabei sein. “Präsenz“ heißt ein modernes Wort dafür, „Durchsetzungsvermögen“ ein anderes.

Das Gleichnis kommt nicht nur mit wenigen Worten aus: es ist viel ehrlicher und befreiender als unsere Analysen und Kommentare. Diese Geschichte ist ein Meisterwerk. Dass sie mehr ist – und auch mehr will – erschliesst sich in der Gestalt des Weinbergbesitzers, der in einfachen Strichen gezeichnet wird: Er kommt morgens in aller Frühe, er kommt mehrmals am Tag – und als der Tag eigentlich schon beschlossen werden kann, kommt er noch mal und holt Menschen ab, die aufgegeben haben. Er kommt! Was ein Weinbergbesitzer sonst noch macht, spielt in dieser Geschichte nicht einmal eine Nebenrolle.

III.

Mit einer Einschränkung: Am Abend wird abgerechnet. Der Verwalter, nur hier erwähnt, soll die Löhne auszahlen. Offen wird erzählt, was er tun soll, von oben abgesegnet: Die zuletzt Eingestellten sollen zuerst drankommen – und auch einen Denar erhalten. Zwei Überraschungen auf einmal. Dabei habe ich doch mit meiner Lebens- und Berufserfahrung einen so schönen Rahmen um diese Geschichte gezogen, zwar unsichtbar, aber nicht weniger wirkungsvoll. Für diese Pointe fehlen mit die Worte. Jeder bekommt einen Denar. Den Ertrag eines vollen Arbeitstages! Ich sehe verwundert zu, wie der Verwalter zu den Leuten geht und zum Schluss auch zu denen kommt, die von der ersten Stunde an dabei waren, im Gleichnis „Erste“ genannt.

Ich versuche, die Stimmen aufzufangen und in den Gesichtern zu lesen. Der Widerspruch liegt förmlich in der Luft. Die Menschen reden von der Last des Tages, von harter Arbeit und auch von dem Ausgebranntsein. Kenne ich doch, denke ich. Misstrauisches Beäugen, böse Blicke. Kann überhaupt wahr sein, was zu sehen ist? So kann die Welt doch nicht stimmen! Ach, was lob´ ich mir da unsere moderne Vertraulichkeit!

Die Geschichte erzählt nüchtern, auf jedes Wort bedacht, von dem, was der Weinbergbesitzer zu sagen hat. Geradezu sich steigernd: Wir haben doch die Vergütung vertraglich geregelt – euch geschieht kein Unrecht. Und dann: was die anderen bekommen, muss ich nicht mit euch ausmachen. Schließlich, auf den Punkt gebracht: Oder blickst du deshalb so böse, weil ich großzügig bin?“ Ich gebe allerdings zu: Was soll ein Mensch auf diese Frage antworten? Jede Argumentation ist hier an ihr Ende gekommen. Es gibt nichts mehr zu diskutieren. „Also nimm dein Geld und geh!“.

IV.

Die Geschichte, liebevoll mit Details versehen, alles Unwichtige weggelassen, lässt am Schluss einen Blick auf die Augen zu. Eine ungewohnte Perspektive, aber mit Zukunftsaussichten. Das Gleichnis lässt die Augen auf den Weinbergbesitzer ruhen, der seine Güte rechtfertigt und den kritischen Rückfragen begegnet.

Vor dem Gleichnis steht: Das Reich der Himmel. Doppelpunkt. Jesus erzählt die Geschichte Gottes, der in seiner – von Menschen nicht mehr einholbaren – Güte immer wieder kommt, Menschen abholt und ihnen das ganze Leben schenkt. Der eine Denar ist nicht nur das Existenzminimum, er steht für das geschenkte Leben, für Zukunft. Am Abend bringen Menschen den vollen Tag ein, unabhängig von allem, was gezählt und gemessen wurde. Das ist die Verheißung. Die Unterschiede zwischen Ersten und Letzten, denen da oben und denen da unten, von vorne und hinten, verlieren ihre Kraft und Bedeutung, sie trennen auch nicht mehr. Was dabei zu gewinnen ist, ist der gütige Blick.

Wagen wir noch einmal einen Blick zurück:
„Erster“ schreien Kinder. Aus dem Spiel kann schon bei ihnen Ernst werden. Ich weiß: Sie müssen um den ersten Platz kämpfen. Viel hängt davon ab: vom Selbstwertgefühl bis zur Stellung im Leben. „Ich war zuerst hier“, sagen Menschen, die ihren Platz verteidigen. Das hört sich nach Kindergarten an, drückt aber Befürchtungen aus. Im Sport ist „Erster“ das Traumziel. Die Hymne wird gespielt. Der Letzte wird nicht gefeiert. Der Letzte macht das Licht aus.

Was Menschen als gerecht ansehen, wird auch nach diesem Gleichnis diskutiert werden – und vermutlich nie entschieden werden können. Für Leistungen, die Tag für Tag – mit Mühe und Arbeit – erbracht werden, wünschen wir uns, anerkannt zu werden. Andere Menschen warten darauf, von uns gut beurteilt zu werden.

Über eine angemessene Vergütung und über Leistungsanreize wird ohnehin intensiv gesprochen, wenn überkommene Ordnungen nicht mehr finanzierbar sind und neue, konkurrenzfähige, entwickelt werden müssen. Davon können wir auch in der Kirche viele Geschichten erzählen. Wir geben dann zu: es gibt Konkurrenz. Einige sind vorne plaziert. Andere halten sich hinten auf. Und den „scheelen Blick“ – so übersetzt Martin Luther – gibt es auch. Wir werden sogar traurig feststellen: Der „scheele Blick“ steht oft für das nicht geführte Gespräch, die Enttäuschung, nicht gehört oder „abgeholt“ zu werden. Wenn es um die Verteilung der knappen Ressource Geld geht, wird – auch in der Kirche – von einigen gerne auf Leistungen, lange Arbeitstage und bessere „Performance“ verwiesen. Ohne Vergleichen geht das nicht auf, ohne böse Blicke auch nicht. Das Gleichnis ist also nicht tauglich für meine Welt? Womöglich nur ein Beitrag mehr, die Kunst zu üben, sich schlecht zu fühlen?

Vor dem Gleichnis steht: Das Reich der Himmel. Doppelpunkt. Jesus erzählt die Geschichte Gottes, der in seiner – von Menschen nicht mehr einholbaren – Güte immer wieder kommt, Menschen abholt und ihnen das ganze Leben schenkt. Wer das nicht als Vertröstung versteht, vertagt oder kleinmacht, wird mit der Geschichte, die den Originalton Jesu aufbewahrt, die Augen neu entdecken. Die eigenen besonders, die der anderen aber auch. Die viel beschworene Objektivität lässt sich nicht einmal in den grossen Theorien entdecken. Die Güte kann nicht objektiv sein, zu keiner Theorie mutieren, nicht austariert werden. Es ist tatsächlich so, wörtlich zu nehmen und ohne Einschränkungen gelten zu lassen. „Oder blickst du deshalb so böse, weil ich großzügig bin?“. Darüber sollte kein Diskussionsbedarf mehr ausgemacht werden, kein Streit zu führen sein. Am Ende ist das Evangelium offen: für Menschen, die nicht mehr „Erste“ sein müssen und als „Letzte“ nicht alleingelassen werden.

V.

Rudolf Alexander Schröder gab 1938 Lieder von Johann Heermann heraus, die 300 Jahre vorher erschienen und in Vergessenheit geraten waren. „Sonntag- und Fest-Evangelia, durchs ganz Jahr auf bekannte Weisen gesetzt“.

Johann Heermann dichtete:

Doch viel, die jetzt die Ersten sind,
Die dürfen wohl schnell und geschwind
Sich zu den Letzten wenden.
Wie auch, die itzt zu letze gehen,
Die könnten leicht zum ersten stehn:
Gott hat´s in seinen Händen.

Darum so prahl und prange nicht,
O Mensch, für Gottes Angesicht
In deinen guten Werken.
Mit Demut bau auf Gnad und Gunst,
Mit deinem Tun ist´s gar umsonst,
Des solltu mit Fleiss merken.

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