Produktives Leiden
Predigttext: Kolosser 1,24 (Übersetzung nach der Zürcher Bibel)
Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und fülle an meinem Fleische aus, was den Trübsalen Christi noch fehlt, zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist.Nachwort
Der Kolosserbrief gehört wie der Epheserbrief zu den heute sogenannten Deuteropaulinen, wobei findige Exegeten annehmen, er sei von einem Apostelschüler verfasst. Diese Hypothese führt dazu, dass die theologische Bedeutung der Briefe nicht genügend gewürdigt werden kann. Es ist verhängnisvoll für die Predigt, wenn die Hypothesen der Einleitungswissenschaft heute papalen Charakter annehmen. Wird das Schriftganze aufgesplittert, wird die Gemeinde arm. Kolosser 1,24 hängt in der Luft, wenn ich mich von der historischen Hypothese leiten lasse. Sie verbaut mir den Blick für die Verankerung dieser Stelle in der apostolischen Existenz. Diese wurzelt in der Kreuzestheologie, die durch Johannes 19,30 interpretiert wird. Der Predigtauftrag, den der Text gibt: Die Gemeinde auf die Höhe des Apostels zu heben, auf der die Leiden transformiert werden (vgl. 2.Korinther 4,15).Liebe Gemeinde!
„Es ist vollbracht“, konnte der am Kreuz sagen, bevor er sein Haupt neigte und den Geist aufgab (Johannes 19,30).
„Es ist vollbracht“ und das Leiden geht weiter. Warum sterben immer noch Menschen , verlassen von ihrem Gott? Genügt das Erlösungswerk Jesu nicht? Warum sterben immer noch Menschen? Und warum muss offenbar eine neue Leidenszeit über die Menschheit kommen?
Der am Kreuz hing, muss noch einmal kommen, um sichtbar zu machen, was er vollbrachte, das muss alle Welt sehen. Das ist noch verborgen und er hat versprochen: Er kommt, um alle Tränen abzuwischen – definitiv (Offenbarung 7,17). Bis dahin wird noch gelitten, es fragt sich nur wie.
Hören wir darum auf den Apostel:
„Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch und fülle an meinem Fleische aus, was den Trübsalen Christi noch fehlt, zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist“.
Beachten wir, er spricht von seinen Leiden in der Mehrzahl: „Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch“. Am Schluss des Briefes ruft er den Kolossern zu „Gedenket meiner Fesseln!“ (4,18). Über seinen Gesundheitszustand macht er keine Aussagen; aber wir wissen aus früheren Briefen, dass er seinen Herrn um Heilung bat und hören musste: „Lass dir an meiner Gnade genügen“ (2.Korinther 12,9). Offenbar aber sind sie für ihn, die Leiden alle, „vollbracht“.
Vergleichen wir einmal seine Leiden mit unseren Leiden, wird klar. Seine Leiden haben eine Richtung, die sie bei gewöhnlichen Sterblichen im allgemeinen nicht haben. Sie drängen nach vorn, hin zum endgültigen „vollbracht“. So werden sie produktiv. Paulus leidet nicht für sich privat, sondern für den Leib Christi, die Kirche. Er leidet dermaßen schöpferisch, dass ihm das Leiden Freude macht.
Und wie leiden wir? Sobald uns nur eine Zehe oder ein Zahn weh tut, nimmt uns der Schmerz gefangen. Krankheit isoliert. Was für den Leib gilt, gilt erst recht für die Seele. Wie viele Menschen werden zu Gefangenen ihrer selbst, weil sie schlimme Erfahrungen gemacht haben mit sich selbst oder mit anderen. Und diese Erfahrungen verhaften einen – wie der Polizist einen Übertäter verhaftet. Man dreht sich dann im Kreis um sich selbst. Wie der Gefangene im Gefängnishof kreist man immer um das gleiche Problem. Wer leidet – ob mit dem Leib oder der Seele – der leidet allemal zum eigenen Schaden und hat Schmerzen für sich selber. Er wird damit unproduktiv. Schlimm werden die Leiden erst recht, wenn man in den Leiden zum Staatsanwalt, Ankläger und zum Richter seiner selbst wird, der zu sich selber sagen muss: „Schrott. Du bist zu nichts mehr nütze“.
Weil Paulus seine Leiden als nützlich für andere, für seinen Christus, erkennt, kann er sich in seinen Leiden freuen. Es wäre doch schön, wenn wir das jetzt auch könnten. Ja, das können wir lernen: Da leiten uns die Väter im Glauben an, umzudenken.
Der Heidelberger Katechismus fragt nach dem einzigen Trost im Leben und im Sterben. Antwort: „Dass ich mit Leib und Seele, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilandes, Jesu Christi, eigen bin“ (1). Das heißt: Deine Zehe gehört nicht dir und dein Zahn – falls du noch einen hast – gehört nicht dir, du bist mit Zahn und Zehe, mit deinem ganzen Leib, Christi Eigentum.
Sei doch nicht so töricht zu meinen, deine Glieder gehörten dir, deine so leicht kränkbare Seele sei dein Privateigentum. Enteigne nicht andauernd deinen Herrn. Raube nicht deinen Körper, dem, der für dich gelitten hat. Nimm dem auch nicht deine Seele weg, der für dich den Geist aufgab. Nimm dir ein Beispiel am Apostel. Sage nicht zu schnell zu dir. „Ich bin ein unnützes Glied der menschlichen Gesellschaft.“ Starre nicht auf dein Nichtkönnen und Nichtvermögen. Bist du mit Leib und Seele Eigentum deines Christus, brauchst du nicht zu wissen, was er mit dir macht, wenn du einmal nicht mehr kannst und magst. Vielleicht wirst du dann für ihn erst recht brauchbar.
Paulus hat die Gemeinde von Kolossae persönlich nicht gekannt, was ihn nicht hindert, sein Leiden zu sehen im Horizont für die, die er nur vom Hörensagen kennt. Er hat die Zuversicht, dass er für Menschen, die er nur vom Hörensagen kennt, produktiv ist, dass er ihnen nützt und diese Zuversicht verändert seine Leiden.
Wenn ich seinerzeit als Pfarrer Krankenbesuche machte, sagten die Leute: „Es wird schon für etwas gut sein“. Ich war damals so töricht, diesen Spruch als Redensart zu überhören, anstatt mit dem Patienten zu fragen, wozu gerade sein Leiden denn gut sei. Kolosser 1,24 sagt’s für uns alle, wozu es gut ist, dass es der Gemeinde Christi nützt. Und das ist immer eine bestimmte Gemeinde. Mit dem Wissen, wozu das Leiden gut ist, keimt schon und wächst die Freude: Auch bei Nachtfrost kann eine Blume blühen.
„Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch“. Darum fährt er weiter: „und fülle an meinem Fleisch aus, was den Trübsalen Christi noch fehlt zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist“.
Es ist doch logisch. Wenn wir mit Leib und Seele Christi Eigentum sind, gehören auch unsere Leiden zu seiner Passion, sind unsere Leiden im zweiten Glied, second hand, auch seine Leiden. Als Eigentum des Christus sieht Paulus seine Leiden mit der Passion Jesu zusammen: „Denn immerfort werden wir bei Leibes Leben dem Tod überliefert um Jesu willen, damit auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Leibe“ (2.Korinther 4,11).
Calvin, ein Leidender auch er, konnte in seiner Auslegung den Vers umkehren, weil er die Leiden vom Reichtum der Gnade her sah. „Es ist das gemeinsame Los aller Kinder Gottes, das Sterben Christi an sich zu tragen: je reichere Gnadengaben jemand empfing, desto mehr wird er auch in diesen Dingen Christus ähnlich“.
Wer Anteil hat an dem, was er am Kreuz vollbracht, der nimmt auch teil am Unvollbrachten und trägt es dem entgegen, der kommt, um die Leiber und die Seelen neu zu schaffen. „…je reichere Gnadengaben jemand empfing, desto mehr wird er auch in diesen Dingen Christus ähnlich“.
Das sind große Worte. Wie können sie in unserem kleinen Leben gelebt werden? Antwort: Ganz einfach, indem du mit Gottes Hilfe die Isolierung durchbrichst, indem du aufhörst, für das eigene Leid zu leben und Anteil nimmst an fremdem Leid. Dazu nur zwei Hinweise in Erinnerung an Hiob: Als der seine Herden und Kinder verlor, mit seinem Geschwür in der Asche saß und sich kratzte und Gott fluchen sollte, sagte er: „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (2,10). Paradoxerweise ist das Annehmen von Leiden schon der Anfang ihrer Überwindung. Würde Paulus gegen die Fesseln revoltieren, könnte er nicht mit Silas um Mitternacht Loblieder singen.
„Und wer nicht schlafen kann, der bete mit mir an den grossen Namen“, ruft Gerhardt Tersteegen den Schlaflosen zu – und war ein großer Seelsorger.
Vor Jahr und Tag las ich einmal die Krankengeschichte einer Pfarrfrau, die krank zum alten Blumhardt kam, ohne dort Heilung zu finden. Im Hören auf die Predigt vom kommenden Gottesreich aber musste sie sich fragen, was sie denn für Gottes kommendes Reich tun könne. Entsinne ich mich recht, war sie bettlägerig. Wie kann ein Mensch, der nichts mehr tun kann und ohne Kraft daliegt, fremdes Leid tragen? – Damals war Zucker eine Rarität und die Pfarrfrau liebte es, Zucker zum Kaffee zu nehmen. Da kam sie auf die Idee, sich den Zucker vom Mund abzusparen, um einer armen Frau Freude zu machen. Ich denke, diese Frau lernte auf der Spur von Kolosser 1,24 zu leben, so dass Freude in ihr Leiden kam.
Ein zweiter Hinweis: Als ich kurz nach dem Krieg mit einem schweizerischen Hilfswerk nach Deutschland kam, trafen wir in Wipperfürth eine sächsische Adlige. Sie hatte alles verloren, kam als Flüchtling und fing sofort an, Hilfe für andere Flüchtlinge zu organisieren. So trafen wir auf einen Menschen, der vor Freude sprühte und sich nicht härmen musste um das Verlorene. Ich denke, auch sie war auf der Spur von Kolosser 1,24.
Zwei Schicksale. Wir wissen nicht, welches Leid auf uns noch wartet. Aber das eine ist gewiss: Jesus hat’s am Kreuz für jede Art von Leid vollbracht. Darum gehört jedes Leid, das auf uns wartet, zu seinem Leid, bis sichtbar wird für alle Welt, was er am Kreuz vollbracht und die Zeit anbricht, in der es keine Ängste mehr gibt und keinen Krieg, weil sein Reich auf unserer Erde aus seiner Verborgenheit herauskommt und das Leiden aufhört: „Dein Reich komme“. Die Kirche hat den Auftrag, dieses Kommen vorzubereiten, ja zu beschleunigen (2.Petrus 3,12). Das Reich Gottes ist doch nicht nur eine Idee oder Utopie, sondern das Reale aus Gott, das kommen soll. Bis es da ist, muss gelitten werden, damit das Leiden in der Welt aufhöre.
Leiden wir im Leben und im Sterben als Eigentum unseres Heilandes, gibt es in allen Leiden neue Freude, die der Apostel in seinen Fesseln und Krankheiten hatte:
„Jetzt freue ich mich in den Leiden für euch
und fülle an meinem Fleisch aus,
was an den Trübsalen Christi noch fehlt,
zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist.“
Amen.