“Der du die Zeit in Händen hast”
Zum 100. Geburtstag von Jochen Klepper
Homiletische Vorüberlegung
Jochen Klepper, vor hundert Jahren am 22. März 1903 in Beuthen/Oder geboren, ist mit seiner jüdischen Familie in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember 1942 in den Tod gegangen. Er ist ein „christlicher Schriftsteller im jüdischen Schicksal“ (Wecht). Sein Theologiestudium brach er ab und wurde Schriftsteller. 1931 heiratete er Hanna Stein (*1890) – eine verwitwete Jüdin, 13 Jahre älter als er, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte, Brigitte (*1920) und Renate (*1922). Beide Lebensentscheidungen fanden vor allem bei seinem Vater, Pfarrer in seiner Heimatstadt, kein Verständnis. Der Roman „Der Vater. Roman des Soldatenkönigs“, 1937 erschienen, machte Jochen Klepper berühmt, was die Reichsschrifttumkammer aber nicht davon abhielt, ihn auszuschliessen. Einzige Begründung: Er habe noch kurz vor der Wende (1933) eine Jüdin mit zwei volljüdischen Töchtern geheiratet und könne nicht gewähren, „durch schriftstellerische Veröffentlichungen auf die geistige und kulturelle Entwicklung der Nation Einfluss zu nehmen.“ Mühsam gelang es Klepper, unter „Bedingungen“ wenigstens weiter schreiben und veröffentlichen zu können – er musste alle Manuskripte zur Begutachtung vorlegen und sich genehmigen lassen. Das 1956 mit dem Titel „Unter dem Schatten deiner Flügel“ in Auswahl veröffentlichte Tagebuch legt ein beredtes Zeugnis ab von den Arbeitsvorhaben und Plänen, Enttäuschungen und Kämpfen der Familie Klepper. Jede Tagebucheintragung beginnt mit einem biblischen Wort. Noch kurz vor Kriegsanfang konnte die älteste Tochter Brigitte nach London emigrieren, die anderen gerieten immer mehr in die Enge. Jochen Klepper, der sich von keiner Richtung vereinnahmen liess und in den „Stillen im Lande“, über die er schrieb, seine Vorbilder sah, lässt einen Blick auf einen Menschen zu, der am Ende keinen Ausweg mehr weiss. Am 10. Dezember 1942 erfährt Klepper auf dem Reichssicherheitshauptamt von Adolf Eichmann, dass die Stieftochter Renate, von ihm liebevoll Renerle genannt, nicht ausreisen darf. Der drohenden Deportation zuvorkommend, nehmen sich Jochen Klepper, seine Frau Hanna und Renate das Leben. Vom 10. Dezember ist auch die letzte Tagebucheintragung: „Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt: In dessen Anblick endet unser Leben“. Jochen Klepper ist heute weitgehend unbekannt. Seine Lieder aber werden gesungen. Ein Lied: „Der du die Zeit in Händen hast“ soll in diesem Gottesdienst den roten Faden spannen. Was 1937 schon sehr früh als Neujahrslied bezeichnet wurde, im Gesangbuch auch unter dem Stichwort „Jahreswende“ steht, hat ursprünglich – im Tagebuch – keine Überschrift. Wir können das Lied also in einem grösseren Kontext lesen und verstehen: Einmal im Leben Jochen Kleppers, dann aber auch als Vermächtnis und Verheissung für die vielen anderen, die sich – ohne seine Geschichte zu kennen – in diesen Worten aufgehoben und geborgen wissen. In der Predigt soll auch das „Umfeld“ dieses Gedichtes vorgestellt werden. Wichtig ist eine Änderung in der 6. Strophe: Originalfassung: Der du allein der Ewige heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unserer Zeiten: Laß – sind die Tage auch verkürzt, wie wenn ein Stein in Tiefen stürzt – uns dir nur nicht entgleiten! Änderung/Fassung „Kyrie“ bzw. EG: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten. Jochen Klepper im Gottesdienst kann nur heissen: biblischen Spuren nachgehen, mit fremden Ohren noch einmal anders hören, was Gott redet (eine Sehnsucht von Jochen Klepper: „Herr, wann wirst du endlich wieder reden“) – und Menschen zu gedenken, deren Hoffnungen noch nicht erfüllt sind. Jochen Klepper achtete sorgsam auf Worte. Als sein Leben immer enger wurde, vertraute er seinem Tagebuch an, dass ihm auch die Freunde immer fremder wurden, die sich in Worte flüchteten, um die Gegenwart nicht aushalten zu müssen. Er, der immer so klar dachte (und die lutherische Theologie auch in ihrer Dogmatik zu würdigen wusste), suchte am Ende nur noch die Liebe Christi, die Menschen doch drängen müsste …Literatur in Auswahl:
Unter dem Schatten deiner Flügel. Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 – 1942 von Jochen Klepper, hrsg. von Hilde Klepper, Auswahl, Anmerkungen und Nachwort von Benno Mascher, Stuttgart 1956; Jochen Klepper, Kyrie. Geistliche Lieder, Berlin 1938 (mit erweiterten Neuauflagen) Sekundärliteratur: Rita Thalmann, Jochen Klepper. Ein Leben zwischen Idyllen und Katastrophen, München 1977; Emiko Dorothea Araki, Jochen Klepper – Aufbruch zum ewigen Haus. Eine Motivstudie zu seinen Tagebüchern, Christliche deutsche Autoren des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von E. Blattmann, Bd. 3, Frankfurt-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1993; Martin Wecht, Jochen Klepper. Ein christlicher Schriftsteller im jüdischen Schicksal, Studien zur Schlesischen und Oberlausitzer Kirchengeschichte 3, Düsseldorf und Görlitz 1998.Lieder:
EG 452 Er weckt mich alle Morgen EG 64 Der du die Zeit EG 453 Schon bricht des Tages Glanz EG 379 Gott wohnt in einem Lichte Während der Predigt werden verschiedene Folien mit einem Overheadprojektor auf eine Leinwand projiziert.Liebe Gemeinde,
heute, 23. März, ein Neujahrslied? Gut, wir denken an Jochen Klepper. Er hat das Lied geschrieben. Gestern wäre er 100 geworden. Aber ein Neujahrslied? Als Klepper das Lied fertig hatte und in sein Tagebuch schrieb, trug es aber keine Überschrift. Über Wochen hatte sich der Dichter mit dem Thema beschäftigt. Er war existentiell betroffen: Wenn er von des „Jahres Last“ spricht, die abgenommen und in Segen verwandelt werden soll, dann ist es zunächst sein Jahr 1937.
Nach langer Arbeit und Entbehrung war sein Buch „Der Vater. Der Roman des Soldatenkönigs“ im Februar erschienen und schickte sich an, ein Bestseller zu werden. Aber schon am 25. März 1937 wurde er aus der Reichsschrifttumkammer ausgeschlossen, da er – wie es in der Begründung heisst – „nicht geeignet“ sei, „durch schriftstellerische Veröffentlichungen auf die geistige und kulturelle Entwicklung der Nation Einfluss zu nehmen.“
Klepper hatte eine jüdische Frau und zwei jüdische Stieftöchter. Die beiden Mädchen hatten – zufällig – ihre Mutter und Jochen Klepper zusammengebracht. Erst war er Untermieter, dann Lebensgefährte und Ehemann. Über die Beziehung – sie war 13 Jahre älter als er – haben sich viele das Maul zerrissen. Seine Familie hat Jahre gebraucht, um darüber wegzukommen. Das Verhältnis Jochens zu seinem Vater, Pfarrer in Beuthen/Oder, war bis zuletzt belastet: eine Jüdin mit zwei Kindern, und dann auch noch soviel älter.
Aber Hanna – so hiess seine Frau – bedeutete Jochen Klepper alles. Sie gab ihm Halt. Mit ihr konnte er die Schönheiten des Lebens teilen, Mode, Theater, Kunst und Musik. Schöngeister waren sie beide. In den ersten Jahren fütterte sie ihn durch. Es dauerte Jahre, bis er etabliert war. Mit dem „Vater“ schien der Durchbruch erreicht. Aber dann ging alles sehr schnell. Der Reichspropagandaminister hatte schon im Februar 1937 in einer Rede, unüberhörbar für alle, die deutsche Kultur für judenrein verkündet – die jüdisch Versippten nannte er in einem Atemzug.
(Bild: Hanna Klepper, verw. Stein, geb. Gerstel *1890)
Verfolgen wir den Weg dieses Liedes von des „Jahres Last“ zum „Segen“:
Am 25. September 1937 schreibt Klepper in sein Tagebuch: „Die Arbeit erhält ein derartiges Übergewicht, dass ich darin nur noch, in solcher Konzentration und Askese, ein von Gott auferlegtes Schicksal sehen kann. Möge sich nur Gott bekennen zu dem, was vor mit liegt. Wieder ganz in der Arbeit. Den Herrn der Ewigkeit um Zeit zu bitten, die er erfülle mit von ihm gewährtem Werk: das ist ein Gebet, das man erst in viel Verzweiflung lernt. Gott hat Zeit; und hat meine Zeit in Händen“.
Noch fehlt das Bibelwort, das Klepper seinen Liedern stets voranstellte. Aber schon am 19. Oktober notiert Klepper Psalm 102,24.25b:
„Er demütigt auf dem Wege meine Kraft; er verkürzt meine Tage. – Deine Jahren währen für und für.“ Ins Tagebuch trägt er ein:
„Daß ich gesund bin, steht fest; darum muß geschwiegen und gedankt sein. Ich fasse es nun beinahe nicht, daß ich mich, gesund, derart mühevoll durch die Tage quäle, ihr Ordnung aufrecht erhalte, ihr Arbeitspensum mit einem Kraftaufwand, der der Leistung nicht im entferntesten zu entsprechen vermag, zu bewältigen suche …“
Und schon am Tag darauf, am 20. Oktober:
„Wenn du der Stimme des Herrn, deines Gottes, gehorchen wirst, wirst du gesegnet sein, wenn du eingehst, gesegnet, wenn du ausgehst. 5. Mose 28,1.6 – Welche herbstliche Verklärung nach einem kühlen Nebelmorgen: goldene Blätter, rote Ahornwipfel wie Gewölk; kahles Geäst, taufeucht, sonnenbeglänzt: wie dunstiger Wald. Die lichten, bunten Stuben von zitterndem Glanze erfüllt, Licht wie von vielen Kerzen um den Sonnenuntergang in der Diele. – Und welcher kühle Silberglanz des Abends!
Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
Und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesu Christ
Die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.“
Und dann folgen die Strophen 2 bis 6
Abgeschlossen wird die Tagebucheintragung:
„Psalm 102,24-28.
Mit der Arbeit durch den Tag gequält“
Lied EG 64, 2 und 3 Da alles, was der Mensch beginnt
Die Überschrift „Neujahreslied“ hat dieses Gedicht, wie die Tagebucheintragung zeigt, später erhalten – und auch die Melodie -, aber Klepper dachte an eine zeitnahe Veröffentlichung zur Jahreswende. Schon wenige Wochen vorher konnte Klepper, von seinem Verleger gedrängt, erste Gedichte auf dem Reichskirchenmusikfest vorstellen. Unter dem Titel „Du bist als Stern uns aufgegangen“ waren sie erschienen – und wurden von den Menschen angenommen. Klepper entdeckt für sich das Kirchenlied.
Am 24. Dezember 1937 schickt Klepper seinem alten Lehrer, Prof. Herrmann, eine Abschrift seines Gedichtes „Der du die Zeit in Händen hast“ – und widmet ihm sein Neujahrslied.
Jetzt steht auch das Psalmwort oben.
Psalm 102, 24-28 Er demütigt auf dem Wege meine Kraft (Lutherübersetzung)
Jochen Klepper tritt in den Psalm ein und betet ihn mit anderen Worten nach. Es sind seine Worte, seine Erfahrungen, seine Hoffnungen.
Aber meine Gedanken gehen mit, umkreisen, was Klepper in Worte fasst:
Hat Gott Zeit – Zeit für mich? Was kommt von ihm zu mir? Was geht von mir zu ihm?
Was mache ich mit meiner Zeit? Gemeint ist nicht nur der Kalender, die Tageseinteilung, die Lebensplanung – gemeint ist alles, was ich in die Hand nehme, buchstäblich – und im übertragenen Sinne. Was ist des „Jahres Last“, die abgenommen und in Segen verwandelt werden soll?
Es ist, als ob das Lied auch auf das Psalmwort hinläuft, zielstrebig, ohne Umwege:
„Er demütigt auf dem Wege meine Kraft; er verkürzt meine Tage. – Deine Jahren währen für und für“. Das ist die Losung vom
19. Oktober 1937, ausgesucht von anderen, unabhängig von der grossen Geschichte, unabhängig auch von dem eigenen Geschick. Aber Jochen Klepper findet in der Losung einen Schlüssel. Mit ihm vermag er sein eigenes Lebens aufzuschliessen. Und er findet Worte, die er weit darüber hinaus anderen Menschen leiht.
Klepper redet davon, was ein Mensch beginnt –und was ihm geschenkt wird, was vor den eigenen Augen zerrinnt – und was vollendet wird. Klepper wägt das in seinem eigenen Leben ab, beobachtet sich und andere. In seinem Tagebuch, erst 1956 in Auswahl unter dem Titel “Unter dem Schatten deiner Flügel” von seiner Schwester Hilde herausgegeben, äußert er Zweifel und Ängste, was seine Arbeit betrifft.
Im Vergleich mit anderen hat er nicht viel aufzuweisen – und er leidet darunter. Die Kämpfe, in die er verwickelt wird, belasten ihn körperlich. An vielen Stellen begegnen wir einem Menschen, der zerbrechlich ist – und der das nicht verbirgt. Die Worte und Bilder aber, die Klepper aufgreift, entnimmt – entlehnt – er der Bibel. Dass wir im Winde treiben, ja, hinfahren durch „deinen Zorn“, ist ihre Rede. Buchstabiert von vielen Menschen.
Klepper entlehnt ihr aber auch die Gewissheit, dass Gottes Gnade „in unsere leeren Hände“ strömt. Und mit dem Wort „strömt“ ist der Überfluss, der Reichtum Gottes, auf einmal ganz nah. Er geizt nicht, er kleckert auch nicht, er hält auch nichts zurück.
Gott, so beim Wort genommen, verwandelt jeden Tag. Alles, was Klepper kunstvoll zusammenfügt, ist ein Psalm. Klage- und Loblied in einem. Grenzen lassen sich nicht ziehen. Hier fliessen Lebenserfahrungen und gut begründete Hoffnungen ineinander – und werden auf die Mitte ausgerichtet. Die menschlichen Erfahrungen – zu ihnen gehören Schuld und Vergänglichkeit – werden Gott anvertraut, der Anfang, Ziel und Mitte weiss. Jochen Klepper bettet seine Gedanken als Christ in das Psalmwort.
„Nun von dir selbst in Jesu Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.“
Klepper bleibt mit seinen Gedanken dicht an den biblischen Worten, das Psalmwort gibt auch die Richtung vor: menschliches Tun und Gottes Zeit gehen nicht ineinander auf und gehören doch zusammen, werden von IHM zusammengehalten. Er demütigt zwar, er verkürzt – aber seine Jahre währen für und für.
Klepper erbittet von dem Herrn der Ewigkeit, wie er ihn nennt, erfüllte Zeit. Klepper spricht im Tagebuch von „gewährtem Werk“. Alles, was er sagen will, bezieht er so auf den Gott, dessen Stimme zu hören ist. Der Dichter empfängt. Er empfängt auch sein Lied. Es wächst ihm aus der hl. Schrift zu.
Lied EG 64, 4 und 5 Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist
Schauen wir noch einmal in das Jahr 1937.
Nach schwierigen Verhandlungen und Gesuchen wird der Ausschluss aus der Reichsschrifttumkammer gemildert.
Als Autor des zum Bestseller werdenden Roman „Der Vater“ – der sogar vom „Völkischen Beobachter“ (dem Hausblatt der Nazis) empfohlen wurde – erhält Jochen Klepper Anfang September 1937 die hart errungene „jederzeit widerrufliche Sondergenehmigung“, in Deutschland schreiben und veröffentlichen zu dürfen – unter der Auflage, die Manuskripte zur Begutachtung vorzulegen.
Am 27. Oktober 1937 reicht Klepper u.a. auch sein „Neujahreslied“ bei der Reichsschrifttumkammer ein. In der von Kurt Ihlenfeld herausgegebenen Zeitschrift „Eckart“ soll das Gedicht noch vor Jahresende erscheinen.
Alfred Richard Meyer, Referatsleiter der Abteilung IIC, schreibt am 18. November 1937 ein internes Gutachten. In ihm heisst es:
„Dieses Gedicht, das gewiss von Zeitschriften wie: ‚Eckart’ angenommen werden könnte, ist eine lyrische Paraphrase über den 102. Psalm und vertritt eine Gesinnung, die absolut jüdisch genannt werden muss. Es wird gesprochen von des Jahres Last, dass alles, was ein Mensch beginnt, vor seinen Augen zerrinnt, dass des Menschen Tag und Werk vergeht, dass der Mensch im Winde treibt, dass die Menschen ihre Tage in Schuld verbringen, dass sie in ihrer Zeit vieles versäumen und verfehlen. Gegen die Frömmigkeit dieses lyrischen Dichters soll gewiss nichts gesagt werden, aber das heutige Deutschland darf bestimmt ein Neujahrslied in einem anderen, positiveren Ton erwarten, der es nicht nötig hat, auf die knechtische Einstellung der Psalmen zurückzugreifen“.
Aufgrund der langen und demütigenden Hinhaltetaktik der Reichsschrifttumkammer riet man Klepper, sich direkt an den Präsidenten der Reichskulturkammer, Joseph Goebbels, zu wenden. In einem Bittbrief trug Klepper, widerwillig auch „Heil Hitler“ unterschreibend, am 12. Dezember 1937 seinen Fall vor. Wenn auch nicht eindeutig nachzuweisen ist, welche Wirkung dieses Schreiben hatte, so ist doch bemerkenswert, dass Klepper bereits am 27. Dezember seine eingereichten Manuskripte ohne Beanstandungen zurückgesamt bekam. Die einzige Auflage, die an Klepper herangetragen wurde, bestand in der Bitte um eine „Zusammenkunft für Mitte Januar“, die – so dokumentiert es das Tagebuch – am
12. Januar 1938 auch tatsächlich stattfand.
Jochen Klepper vertraut seinem Tagebuch noch am selben Tag an: „Man klagte mich ‚katholisierender Tendenzen’ an! Man wendet sich – ‚beratend, nicht eingreifend’ – gegen meine geistlichen Gedichte. Und nun wurde es ganz klar ausgesprochen: nicht gegen das, was Gott gilt, sondern ‚gegen die knechtische Haltung, wie sie der neue Geist bekämpft, der Gestalt Christi gegenüber’. Nicht meine Ehe, nicht meine polititsche Vergangenheit standen zur Diskussion: da haben generelle Maßnahmen gesprochen! Ich war nur glücklich, das es also sofort um das Zentrale ging. Das war ungleich mehr, als ich von dieser Stelle je erwarten konnte. Denn nun ist die Sache nicht mehr meine, sondern Christi Sache“.
Jochen Klepper empfand die Stellungnahme als Angriff, mehr noch: als Anklage. In seiner Situation mehr als verständlich. Er sah die neuen Herren die Zeit in die Hand nehmen und sich anschicken, alles neu zu formen: den neuen Menschen, das neue Deutschland, die neue Weltordnung.
Die Themen, auf die er angesprochen wurde, berührten ihn zutiefst. Da ist von „jüdischer Gesinnung“ die Rede, von „knechtischer Einstellung der Psalmen“ und von der nicht näher präzisierten Erwartung, der „lyrische Dichter“ möge für das heutige Deutschland einen anderen, positiveren Ton anstimmen.
Herr Meyer, der das Lied begutachtete, hatte die wesentlichen Gedanken gut getroffen. Die jüdische Gesinnung, von ihm ablehnend formuliert, gereicht dem Lied zur Ehre: es ist beste jüdische Überlieferung! Allen Kritikern und Bedenkenträger zum Trotz: auch die „knechtische Einstellung der Psalmen“ zeichnet das Lied aus. Ob das „heutige Deutschland“ – man wäge die Worte im Herzen und im Verstand – gut beraten ist, einen anderen, positiveren Ton zu erwarten?
Und auf einmal sind wir in der Geschichte mitten drin.
Hat Klepper denn nicht wirklich einseitig, vielleicht sogar überbetont, menschliche Vergänglichkeit und Schuld thematisiert? Könnte nicht mehr, anderes vom Menschen gesagt werden als dass „alles, was der Mensch beginnt, vor unseren Augen noch zerrinnt“ (V. 2)? Sein – von ihm geschätzter und anerkannter – Lehrer, Prof. Rudolf Herrmann, äußerte auch verhaltende Rückfragen – und Klepper hat sich ihnen gestellt. Zu ändern hatte er nichts, wie er fand.
Dass der Mensch – in Gottes Auftrag – die Welt gestaltet, für sich und andere Verantwortung übernimmt, Widerstand leistet und sich den mächtigen menschenverachtenden Vorgaben versagt – es fällt nicht schwer, andere Stimmen einzufangen.
Ich gebe zu, solche Fragen auch schon gestellt zu haben. Viele Jahre danach.
Nur: widerlegen sie Klepper? Weiter gefragt: Widerlegen sie die biblische Einsicht? Zu ihr gehört, was Klepper – positiv (!)- so in Worte fasst: Und diese Gaben, Herr, allein, laß Maaß und Wert der Tage sein, die wir in Schuld verbringen.“
In der Neujahrsnummer der „DAZ“ (Deutsche Allgemeine Zeitung) vom 1. Januar1938 konnte das Gedicht auf Seite 7 erscheinen. Einer der Redakteure, Hans Eberhard Friedrich, schrieb Klepper zu Weihnachten: „Ich bin sehr glücklich darüber, wirklich sehr glücklich und ich schließe dieses Jahr mit der freudigen Feststellung, Sie kennengelernt zu haben. Das ist keine liebenswürdige Phrase, lieber Herr Klepper, sondern eine wirkliche Freude erfüllt mich darüber, dass ich Sie kenne, der so glauben und so singen kann. Ich danke Ihnen. Das Bibelwort meines Lebens lautet: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe diese drei; die Liebe aber ist die größte unter ihnen! (1. Kor. 13,13)“.
Lied EG 64, 6 Der du allein der Ewge heißt
Wir haben gerade gesungen:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.
Das sind Worte voller Vertrauen. „Gnädig zugewandt“, „führe uns“, „sicher schreiten“. Doch ursprünglich lauteten die Worte anders, soll ich sagen: härter, weniger geglättet, weniger erbaulich? Jochen Klepper hatte diese letzte Strophe seines Liedes, als er sie in sein Tagebuch eintrug, so formuliert:
Der du allein der Ewige heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unserer Zeiten:
Laß – sind die Tage auch verkürzt,
wie wenn ein Stein in Tiefen stürzt –
uns dir nur nicht entgleiten!
Hier ist es wieder, eindringlich und gesättigt mit Lebenserfahrung: das Bild von den verkürzten Tagen aus dem Psalm. Dramatisch, geradezu unabänderlich verbunden mit dem Bild eines in die Tiefe stürzenden Steins. Und am Schluss die Bitte, Gott nur nicht zu entgleiten. Ihm, der allein der Ewige heisst, der Anfang, Ziel und Mitte weiss . Er ist da, fängt auf, trägt. Aber im Gebet spricht ein Mensch die Hoffnung, gewiss auch die Sorge aus, dass er einen Menschen – im tiefen Fall – nicht verfehlt. Ein Bild, das noch mehr in sich birgt: Gott ist ganz unten. Er ist da, wo ich – so sagt es der Volksmund – lande. Schon am Anfang seines Gedichtes steht der Name und die Geschichte Jesu Christi.
„Nun von dir selbst in Jesu Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.“
Ahnte Jochen Klepper, wie es mit ihm, seiner Frau, seinen Kindern weitergehe würde? Was nach 1937 für Klepper und seine Familie kam, beschreibt er in seinem Tagebuch. Der Ring wurde immer enger gezogen, die Spielräume immer kleiner – und Jochen Klepper sah zu. Wie ein Chronist seines eigenen Lebens schreibt er, was ihnen begegnet und wie sie reagieren. Ein späterer Kritiker nannte Jochen Klepper ein – „deutsches Schaf“.
Über jeder Tagebuchaufzeichnung steht ein biblisches Wort, die Losung des Tages, Gottes Wort. Zehn Jahre – von 1932 – 1942 – führte Klepper Buch.
Die älteste Stieftocher, Brigitte, konnte noch kurz vor Kriegsbeginn 1939 nach London emigrieren. Für Renate, von Klepper liebevoll „Renerle“ genannt, zerschlagen sich später alle Hoffnungen. Selbst die Erwartung, als Soldat respektiert zu werden, erfüllt sich nicht. 1941 wird er entlassen –„unehrenhaft“. Jüdisch versippt, darf er nicht für das Vaterland kämpfen – oder fallen.
Am 10. Dezember 1942 hat Klepper das letzte und hoffnungslose Gespräch mit Adolf Eichmann im Reichssicherheitshauptamt. Für seine jüdische Frau und seine jüdische Stieftochter – ihre Taufe schützt sie nicht –bliebe nur die Deportation nach Osten – sprich: KZ. Jochen Klepper wusste, was auf sie zukam – es wussten alle.
Seine letzte Tagebucheintragung ist vom 10.12.1942:
„Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott. Wir gehen heut Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt:
In dessen Anblick endet unser Leben.“
Das ist der tiefe Fall. –
Laß – sind die Tage auch verkürzt,
wie wenn ein Stein in Tiefen stürzt –
uns dir nur nicht entgleiten!
Wagen wir noch einmal einen weiten Blick zurück:
Am 26. April 1903 wurde Joachim Georg Klepper – er nannte sich später Jochen – von seinem Vater getauft. Es war der Sonntag Misericordias Domini. Als Taufspruch wählte der Vater Jesaja 43,1: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“
Jochen Klepper hat an diesem Wort gehangen. Nahezu jedes Jahr erwähnt er in seinem Tagebuch Tauftag und Taufspruch.
Die letzte Tagebuchaufzeichnung ist vom Taufspruch gehalten, beglaubigt und besiegelt. Und das Gedicht: „Der du die Zeit in Händen hast“, für uns singbar gemacht, gibt nur mit anderen Worten wider, was Gottes Zusage war – und ist.
Es ist gut, sich an Jochen Klepper zu erinnern.
EG 453 Schon bricht des Tages Glanz