Zeit, die Augen zu öffnen…
Predigttext: Lukas 9,57-62 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.Vorbereitende Gedanken
1. Annäherung „Oculi nostri ad dominum deum“ – so tönt es in Lateinisch aus dem Introitusantiphon am 3. Fastensonntag. „Meine Augen sehen stets auf den Herrn“ (Ps 25,15). Wenn es tatsächlich stets und immerfort so wäre, bräuchten wir keinen Sonntag Okuli. Just mitten hinein in die Bußzeit stellt die kirchliche Tradition den Sonntag der Augen. Als müssten die Augen während der vierzigtägigen Umkehr- und Fastenzeit eigens und für sich noch einmal zum Verstand gebracht werden. Sonntag Okuli. Buße der Augen. Kurskorrektur und neues Ausrichten der Perspektive auf das Gottesreich, das uns entgegenkommt. Unser Sehorgan – Gegenstand besonderer Betrachtung an Okuli. Leuchte des Leibes, Spiegel der Seele oder auch oft genug matter Widerschein unseres Selbst. Höchst anfällig für Verblendung und Verschleierung. Wie bei Kain, der über seinen Menschenbruder nicht nur die Nase rümpft, sondern „finster seinen Blick senkt“ (Gen 4,5). „Vom Ernst der Nachfolge“ überschreibt die Lutherbibel diesen Abschnitt. Sehhilfe für konsequente und kompromisslose Nachfolge. 2. Kontexte Okuli – Buße der Augen, Buße der Augen, die auf den Tod starren. Prophetinnen und Propheten haben den Durchblick auf die Wirklichkeit der Gotteskraft durch alle Todesverfallenheit hindurch. Der Prophet Hesekiel und die Geschwister Scholl waren solche: Bei Hesekiel heißt es in Kapitel 24 in einer Passage, die nicht weniger dramatisch ist als unsere Evangelienstelle: Verse 15-24. Der Prophet ist fleischgewordenes Protestwort gegen die Normalität des Todes und seiner Riten – im Namen Gottes des Herrn im Leben und im Sterben. Eine andere Prophetin der Gotteskraft inmitten aller Todesverfallenheit, eine Botschafterin des Reiches Gottes ist Sophie Scholl, Studentin in München, Widerstandskämpferin gegen das Todesregime des Nationalsozialismus in Deutschland; 1943 bei einer Flugblattverteilung in der Universität verhaftet und 4 Tage später, am 22. Februar mit ihrem Bruder Hans zusammen zum Tode verurteilt und hingerichtet. In ihrer Todeszelle fand man auf die Rückseite der Anklageschrift von ihr geschrieben das eine Wort „Freiheit“. 3. Liturgievorschläge EG 449 Die güldne Sonne Psalm des Tages: Ps 34 oder Ps 25 („Meine Augen ...“) EG 181.6 Laudate omnes gentes Alttestamentliche Lesung: 2.Kön 2,1-18 (Elia und Elisa) Epistellesung: Eph 5,1-8 EG 84 O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben EG 789.5 Oculi nostri ad dominum Deum / nostrum EG 97 Holz auf Jesu Schulter EG 157 Laß mich dein sein und bleibenLiebe Gemeinde,
Es sind drei kurze Szenen, an denen uns der Abschnitt im Lk deutlich vor Augen stellt, worin eine Kurskorrektur für die Augen bestehen kann. Denn darauf deutet der Sonntag Okuli: Kurskorrektur für die Augen. Drei kurze Weggeschichten. Dreifache Hilfe, die Perspektive zu klären und neu auszurichten auf das, was Jesusnachfolge heißen kann.
“Und als sie auf dem Wege waren”, so erzählt Lukas. “Unterwegs” – damit beginnt alles; nur unterwegs, in Bewegung merke ich überhaupt, dass mit der Perspektive etwas nicht in Ordnung sein könnte. Nur unterwegs kann es zu neuen Einsichten kommen. Ja, aber das andere ist vielleicht auch richtig: Gefährlich ist es (meistens) nur unterwegs. Wer sitzen bleibt, vertut sich nicht so schnell mit dem richtigen Weg. Wer stehen bleibt bei seinem “Standpunkt”, tappt nicht irgendwo in die falsche Richtung – oder doch.? Jedenfalls Jesus fragen, kann nur der, der mitgeht, unterwegs – nur so geht’s. “Und als sie auf dem Wege waren – sprach einer zu ihm (Jesus): Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.”
Die 1. Szene: Der Begeisterte. Der mit leuchtenden, hellen, offenen Augen die Sachen anpacken will. Wir singen doch in unseren Gemeinden oft: Die Sache Jesu braucht Begeisterte …! Und jetzt kommt so einer, der vorauskuckt, der den Weg unter die Beine nehmen will – oder vielleicht doch nicht? Will er vielleicht eher in religiöser Euphorie schweben, doch so ein paar Zentimeter über dem Boden?
Kurze szenische Geschichten haben die Eigenart, dass sie nicht alles platt erklären, sondern den Blick offen halten für verschiedene Möglichkeiten, nicht nur die eine und einzige Version, den Menschen zu sehen… Jedenfalls ist Jesu Antwort überhaupt nicht religiös hochfliegend, sondern ganz uns gar ernüchternd, überhaupt nicht idyllisch, sondern knallharter Ausdruck seiner sozialen Lage – sein Wort zur sozialen Lage für ihn ganz persönlich, jetzt im Augenblick: “Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.”
“Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester”, aber ein nicht funktionierender Sozialstaat ist brutaler als die Tierwelt. Nach den neuesten Zahlen der Armutsberichterstattung könnten in der BRD gegenwärtig 40 000 Menschen diesen Satz Jesu buchstäblich mitsprechen: “Die Füchse haben …, aber die Söhne und Töchter des Menschen haben nicht.”
Die Sache Jesu braucht Begeisterte, ja aber mit geerdeter Begeisterung, solche, die den verändernden und bewegenden Geist Gottes zusammenschauen mit der realen sozialen Not unserer Zeit. Die Augen, die sich wirklich auf den Herrn richten, sehen durch ihn hindurch auf das Menschenkind ohne Obdach, ohne Brot, ohne Arbeit. Dorthin sehen unsere Augen an Okuli und nehmen unsere Beine mit auf den Weg Jesu. Das ist die erste Seh- und Gehhilfe an Okuli!
OCULI NOSTRI AD DOMINUM DEUM
Die 2. Kurzgeschichte über den Trauernden im Einzugsbereich des Todes. Aber was heißt hier Kurzgeschichte; Provokation! Zumutung! Skandal in Jesu Worten! Lukas erzählt nämlich weiter: „Und Jesus sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“
Zumutung des Evangeliums. Sollte Jesus wirklich gering schätzen, was wir Vater und Mutter als eine letzte Ehrung erweisen können: das würdige Begräbnis? Zu Jesu Zeiten so wichtig wie heute. Wenn ich mir vorstelle, es wollte uns einer ausreden, dass du und ich nicht mehr unseren Vater beerdigen dürften und unsere Mutter?! Sollte er das meinen? Gegen das 4. Gebot? Gegen die Pietät und das Ehrgefühl?
Ein ungeheuerer Stachel ist dieses Jesu Wort an den Trauernden, der ihm nachfolgen will, an den Nachfolgenden, der doch auch ein Trauernder sein kann. Unbarmherzig? Unmenschlich?
Nehmen wir an, auch diese zweite, sehr drastische Szene möchte uns Hilfe geben für eine „Buße der Augen“, für eine Korrektur unserer Blickrichtung – zugegeben: eine Schocktherapie für solche, die ihre Augen wie selbstverständlich und ohne mit der Wimper zu zucken am Tod weiden. Eine Schocktherapie für solche, die ohne weiteres dem Sterben und Tod die Herrschaft überlassen, für die es das Normalste von der Welt ist, dass gestorben wird. Seht mal, sagen die, das ist doch unausweichlich: alles Leben geht auf den Tod zu; der Philosoph hat doch Recht, der sagt, dass das Sein ein Sein zum Tode sei; der Tod regiert die Welt, wer denn sonst – das ist das eiserne Gesetz des Lebens!
Aber da kommen wir wieder auf den Weg zurück, der hier gegangen wird – unterwegs -, den Weg nach Jerusalem, nicht die geplante Reise nach Jerusalem, die ganz hübsch ist, aber nicht einfach schon den Weg nach Jerusalem meint, den Jesus hier vorausgeht: den Weg ans Kreuz, in den Tod. Und dieser Tod, sagt Jesus, mein Tod, der geht jetzt vor, vor allen anderen Toden, die gestorben werden; jetzt im Augenblick kann es keinen anderen wichtigeren Tod geben, weil der Tod Jesu, auf den hin Jesus gerade auf dem Wege ist, ein Tod ist, der alle anderen Tode besiegen und verschlingen wird – das wird am Ostermorgen herauskommen! Schau, darum kannst du trauernder Nachfolgewilliger dich erst dann wirklich hilfreich den Sterbenden und den Toten widmen, wenn du jetzt gleich den Weg nach Jerusalem mitgehst, der im Osterlicht und Osterleben sein Ziel hat.
Jesus ist nicht unbarmherzig gegen den Trauernden, sondern gegen den Tod; ihm lässt er keine Chance, damit der Trauernde das Leben sehe.
Okuli – Buße der Augen, Buße der Augen, die auf den Tod starren; eine Buße, die nicht im Dutzend billiger zu haben ist. 0h nein. Diese 2. Szene endet nicht – wie die anderen auch nicht! – mit der Bemerkung: „Da machte er sich auf und folgte Jesus fröhlich nach!“ Kein Wort davon. Das bleibt offen! Es bleibt dieser ungeheure Anspruch stehen. Da kann und brauch’ ich vielleicht auch nicht immer mit!
Die Buße der Augen, die Jesus hier verordnet ist für Leute, die das Zeug zum Propheten haben. Das genau ist der prophetische Blick, der Durchblick auf die Wirklichkeit der Gotteskraft durch alle Todesverfallenheit hindurch, die wir jeden Tag vor Augen haben.
Der Prophet Hesekiel und die Geschwister Scholl, das waren solche:
Bei Hesekiel heißt es in Kapitel 24 in einer Passage, die nicht weniger dramatisch ist als unsere Evangelienstelle: Verse 15-24 …
Der Prophet ist fleischgewordenes Protestwort gegen die Normalität des Todes und seiner Riten – im Namen Gottes des Herrn im Leben und im Sterben.
Eine andere Prophetin der Gotteskraft inmitten aller Todesverfallenheit, eine Botschafterin des Reiches Gottes ist Sophie Scholl, Studentin in München, Widerstandskämpferin gegen das Todesregime des Nationalsozialismus in Deutschland; 1943 bei einer Flugblattverteilung in der Universität verhaftet und 4 Tage später, am 22. Februar mit ihrem Bruder Hans zusammen zum Tode verurteilt und hingerichtet. In ihrer Todeszelle fand man auf die Rückseite der Anklageschrift von ihr geschrieben das eine Wort „Freiheit“.
Komm, sagt Jesus, jetzt ist es Zeit, prophetisch durch den Tod hindurchzuschauen auf die Kraft des Gottesreiches. Die zweite Sehhilfe an Okuli.
OCULI NOSTRI AD DOMINUM DEUM
Die 3. kurze Szene: Ich lese bei Lk:
„Und ein anderer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen, aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind.“
Der dritte Nachfolgewillige an Okuli, der sich einer Buße der Augen ausgesetzt sieht, der häusliche Typ. Wie ein häuslicher Typ überhaupt nachfolgen kann und auf den Weg zu bringen ist, ist ja schon nicht ganz einfach. Aber irgendwie haben wir es in 2000 Jahre Christentumsgeschichte ganz gut verstanden, die Häuslichkeit zu vereinbaren mit dem Nachfolgeruf Jesu. Irgendwie ging’s. Aber heute: Sonntag Okuli. Buße der Augen, Buße der Augen, die im eigenen „Häusle“ schon das Gottesreich sehen oder – wie man hier wohl sagt -im „Heusl“ schon die Gottesstadt auf Erden erblicken.
Aber es ist doch noch mehr als das. Es sind da doch auch die Menschen: „die in meinem Hause sind“, die Familie, die Menschen, die mich lieben und mich brauchen und die ich liebe und die ich brauche, die Vertrauten, die mir nahe stehen, auf deren Meinung ich etwas gebe!
Und da ist er wieder, dieser Stich ins Herz, dieses Radikale, diese Zumutung des Evangeliums. Der Prophet Elisa durfte sich von seiner Familie noch verabschieden, als er von Elia berufen wurde (1. Könige 19,19). Der Jünger oder die Jüngerin auf dem Weg nach Jerusalem nicht. Lots Frau auch nicht.. Da wird sie herausgerufen aus dem hoffnungslos behaglichen Sodom, gerufen auf den Weg nach Jerusalem, der zum Leben führt – und kann einfach nicht anders als sich unterwegs noch einmal umzuschauen, um nur noch ein einziges Mal all das kurz zu sehen, was sie zurückgelassen hat: die Poster an der Wand, den Sparstrumpf’, aber auch die Menschen dort in Sodom und die Hauskatze. Lots Frau ist die erste in der ganzen langen biblischen Geschichte, die nicht radikal genug nachfolgt, nicht radikal genug loslassen kann. So wird sie unterwegs eingeholt von der Todesstarre einer Welt, aus der sie schon fast ausgewandert war unter dem Ruf und dem Geleit Gottes. „Aber Lots Frau sah sich um und erstarrte zur Salzsäule“ – sie bleibt eine von der Gegend.
Billiger will es Jesus auch hier nicht machen mit der Buße der Augen an Okuli und spricht seinen Schlusssatz an die Nachfolgewilligen:
„Keiner, der seine Hand an den Pflug legt und zurückschaut, ist schon richtig ausgerichtet auf das Reich Gottes.“
„Noch nicht richtig positioniert“! – gut! Aber gerade dafür ist die Bußzeit da, dass korrigiert wird, dass Perspektiven zurechtgerückt, dass Richtungen präzisiert werden können – unterwegs.
Okuli – Buße der Augen. In früheren Jahrhunderten wurde der Bußsonntag der Augen an Okuli in der Tat so gefeiert, dass der Altar und damit der Blick auf die Christusfigur verhängt und verhüllt wurde. Aber wo soll dann die Orientierung her kommen für die Sehkorrektur.
Wir brauchen den Christus vor uns auf dem Weg.
Okuli, der offene Blick nach vorn heißt nicht: Augen zu und weiter so! Auch nicht und gerade das nicht: Augen zu vor unserer Vergangenheit und vor unserer Geschichte – wie viele immer wieder meinen – und weiter so in die neue nationale Zukunft! Das wäre ein schlimmes Missverständnis der Rede Jesu vom Pflug und den Händen und den Augen. Vielmehr: Wach und kritisch, den Blick ausgerichtet auf Gott und die in Jesus fleischgewordenen Maßstäbe seines Reiches die Welt beackern. Die Augen der Buße blicken voraus aufs Ziel, aber sie sind da noch nicht angekommen. Es ist immer Zeit zur Umkehr. Es ist immer Zeit, die Augen zu öffnen für Gottes Reich – gerade heute an Okuli. Amen