Gottes Ringen um den Menschen
Liedpredigt zu „Sollt ich meinem Gott nicht singen...“
Kyrie-Psalm
Kyrie eleison Gott, Deine Schöpfung, die Menschen, die Tiere und die Pflanzen – der Krieg zerstört Deinen Segen, der Krieg entzweit, der Krieg macht stumm, der Krieg bringt Tod. Kyrie eleison Gott, Deine Wohltaten, Deine Liebe, Wahrheit und Frieden – wann erkennen wir Deinen Weg, unter allen Völkern Dein Heil? Kyrie eleison Gott, Dein Segen, Dein Atem, Licht und Leben – wann wird es sein, dass kein Volk mehr auf ein anderes mit Waffen losgeht, dass niemand mehr lernt, Krieg zu führen und auch die täglichen Kleinkriege ein Ende haben? Kyrie eleison Gott, Dein guter Geist, Deine Gebote, Dein Wille und Recht – wann danken wir es Dir, wann bringen Dir die Völker, alle Völker, ungeteilte Beachtung? Kyrie eleison Gott, Dein Garten Eden, die Erde, das Wasser, die Berge – sie zu bebauen und zu bewahren hast Du uns Menschen beauftragt. Erhalte uns Deinen Segen, wende Dich nicht von uns ab, dass wir die Früchte Deines Gartens noch ernten können und alle Völker Freude am Leben finden und Dir danken. Kyrie eleison (Heinz Janssen, nach Psalm 67 und Jesaja 2,1-5, verfasst am Abend des 7. Tages nach Kriegsbeginn)Liebe Gemeinde!
„Sollt ich meinem Gott nicht singen, sollt ich ihm nicht dankbar sein…?“ – auf dieses Lied von Paul Gerhardt möchte ich heute am 11. Tag nach Kriegsbeginn mit Ihnen hören (hoffentlich geht der Krieg ganz schnell zu Ende). Seine Beschreibung, wie Gott um den Menschen ringt, berührt mich, in diesen Kriegstagen besonders. Der Mensch muss nicht des Menschen Feind sein. Gott hat Brücken gebaut, die uns helfen, einander gerecht zu werden, nicht nur im individuellen Lebensbereich. (Die Gemeinde hat bereits vor der Predigt die ersten vier Verse gesungen und lässt das Gesangbuch aufgeschlagen).
Paul Gerhardt gehört neben Martin Luther zu den bedeutendsten Dichtern des evangelischen Kirchenliedes. In seinen etwa einhundertunddreißig Liedern, von denen sich neunundzwanzig in unserem evangelischen Gesangbuch finden, war er bemüht, die biblische Botschaft für die Menschen seiner Zeit weiterzugeben, indem er zeitgenössische Theologie und persönliche Glaubenserfahrungen einbezog.
Paul Gerhardt wurde am 12. März 1607 in Gräfenhainichen geboren. Er starb am 27. Mai 1676 im Alter von 69 Jahren in Lübben.
„Sollt ich meinem Gott nicht singen, sollt ich ihm nicht dankbar sein?“ So beginnt dieses Lied, eines seiner schönsten Lieder. P.G. stellt eine rhetorische Frage. Sie drängt nach einer bejahenden Antwort. Die aufsteigende Melodie betont, dass es nur ein beherztes Ja zum Lobgesang und zur Dankbarkeit gegenüber Gott geben kann. Die Erfahrung der Liebe Gottes bewegt Paul Gerhardt dazu. Seiner Dankbarkeit will er durch Singen Ausdruck verleihen.
Die Entstehung dieses Liedes fällt in die persönlich und beruflich wohl glücklichste Zeit seines Lebens. Im Jahre 1651 wurde er zum Probst in Mittenwalde berufen. Es war nach einigen Jahren Hauslehrertätigkeit bei seinem zukünftigen Schwiegervater in Berlin seine erste hauptberufliche Stelle. Ein Jahr darauf folgte die Heirat mit Anna Maria Berthold. In diese Zeit ist auch der Höhepunkt seines dichterischen Schaffens zu datieren. Es entstanden z.B. die Lieder: „Ich singe dir mit Herz und Mund“ (EG 324); „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“ (EG 351); „Befiehl du deine Wege“ (EG 361). Das sind Lieder voller Dankbarkeit, Gottvertrauen und Zuversicht, zu denen auch das Lied „Sollt ich meinem Gott nicht singen“ gehört.
Strophe 1 – Gott ist lauter Liebe
Gott ist lauter Liebe – so könnte die Überschrift über die erste Strophe lauten.
Gott meint es gut mit mir, so spricht es P.G. hier aus. Es ist „nicht als lauter Lieben, das sein treues Herze regt“. Alle, die in Gottes Dienst stehen, sich darin „üben“, dürfen sich von Gott getragen wissen. Der 1.Vers mündet wie die acht weiteren mit Ausnahme des letzten Verses in die staunende Erkenntnis „Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit“. Was spricht P.G. damit aus? Die Worte erinnern an das dritte Kapitel des Buches des Predigers aus dem Ersten Testament, der Hebräischen Bibel. Dort heißt es: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit…“ (Prediger 3,1f.). Alles in dieser Welt Vorfindliche hat also seine Zeit und sein Maß, es ist vergänglich, sei es noch so schön und wertvoll. Nur Gottes Liebe ist ewig, beständig, sie überdauert, bleibt. Aber alles in dieser Welt Vorfindliche ist umgeben von Gottes Liebe und ist in ihr geborgen. „Gott ist Liebe“, verkündigt der 1. Johannesbrief (4,16).
Strophe 2 – Gott gibt Schutz und Geborgenheit
Über die zweite Strophe möchte ich die Überschrift „Gott gibt Schutz und Geborgenheit“ setzen. Hier teilt P.G. seine persönliche Gotteserfahrung mit: „Wie ein Adler sein Gefieder über seine Jungen streckt, also hat auch hin und wieder mich des Höchsten Arm bedeckt…“ Anschaulich vergleicht P.G. Gott mit einem seine Jungen beschützenden und bergenden Adler. Schutz und Geborgenheit waren es, die P.G. durch Gott erleben durfte. Er versteht sich als Gottes Geschöpf, sein Kind, von Gott ins Leben gerufen und begleitet. Der Vergleich Gottes mit einem Adler ist ihm aus der Bibel vertraut: Wie ein Adler seine Jungen ausführt, so breitete Gott seine Fittiche aus und trug sein Volk auf seinen Flügeln (5. Mose 32,11). Es waren allerdings immer nur Augenblicke, „hin und wieder“ bestimmte Zeitpunkte, in denen P.G. diese glückliche Erfahrung mit Gott hatte. Geht es uns anders? – Aber daran gilt es sich immer wieder zu erinnern. Gottes schützender „Arm“ voller Schöpferkraft war bereits, bevor ein Mensch darüber nachdenken kann, im Mutterleib an ihm wirksam, als Gott ihm sein „Wesen…und sein Leben“ gab. „Du hast mich gebildet im Mutterleib“, heißt es in Psalm 139 (V.13), der hier anklingt. Tragen wir Menschen heute der Tatsache genug Rechnung, dass wir nicht „Lebensschöpfer“, sondern Geschöpfe Gottes sind? – Orgelmeditation
Strophe 3 – Gottes Ringen um den Menschen – Gottes Sohn
Gottes Ringen um den Menschen – Gottes Sohn, ist das Thema in der dritten Strophe.
„O du unergründ’ter Brunnen…“ – Wie ein unergründlicher tiefer Brunnen, den kein Mensch, auch nicht der intellektuellste, ausloten kann, erscheint ihm Gott, wenn er bedenkt, dass Gott seinen Sohn für ihn in den Tod hingibt, um ihn vor dem „ew(i)gen Feuer“ zu bewahren und für sich zu gewinnen. Mit dem „ewigen“, “unauslöschlichen“ Feuer haben Johannes der Täufer und Jesus gedroht, als sie das Volk zur Buße, zu Besinnung und Umkehr riefen und es warnten, von Gott abzufallen (Matthäus 3,12; 18,8). Es ist das leidenschaftliche und leidensbereite Ringen Gottes um den Menschen, das P.G. zu Herzen geht. Gott will, dass kein Mensch verlorengeht. Im Johannesevangelium hören wir (3,16): „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewigen Leben haben“. Gott gebe mir ein Herz, dass mich sein Ringen um mich berührt und mich heilsam verändert.
Strophe 4 – Gott führt, leitet und erleuchtet, Gottes Geist in seinem Wort
Gott führt, leitet und erleuchtet, Gottes Geist in seinem Wort – davon handelt die vierte Strophe. Aber was gibt mir Gewissheit, dass ich auf dem rechten Weg bin? P.G. weiß sich von Gottes Geist geführt, der ihn auf dem Weg „durch die Welt zur Himmelspfort“, zum Ziel, zur Bestimmung allen Lebens, leitet und „mit dem hellen Glaubenslicht“ erfüllt, das das Dunkel des Todes überstrahlt, entmachtet und die Angst überwindet. Gott gibt seinen Geist in seinem „Wort“. Wir hören es in der Bibel. „Geht hinein durch die enge Pforte“, spricht Jesus – „denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden“ (Matthäus 7,14). Ein Schauder hatte einst Jakob gepackt, als er von seinem Traum erwachte und inne wurde, dass Gott ihm so nahe war: „…hier ist die Pforte des Himmels“, rief er voller Furcht aus (Gen 28,17). Stimmen wir jetzt in die Strophen 5 bis 7 ein!
Strophen 5-7 Gottes umfassende Sorge für den Menschen
Gottes umfassende Sorge für den Menschen besingen die Strophen 5-7.
Strophe 5 „Meiner Seele Wohlergehen hat er ja recht wohl bedacht; will dem Leibe Not entstehen, nimmt er’s gleichfalls wohl in acht…“
Gott will das Wohlergehen des Menschen. Dem Wort „Wohl“ entspricht in der (Hebräischen) Bibel der Ausdruck „Schalom“, „Friede“, der sich immer auf das Wohl des ganzen Menschen, „Leib und Seele“, bezieht. Wie wichtig ist doch diese Sicht, wenn es heute um den „Frieden auf Erden“ geht! – Wenn eigenes Können nichts mehr ausrichten kann und wenn die Erfahrung der Ohnmacht lähmen will, darf der Mensch darauf vertrauen, dass Gott ihm zu Hilfe kommt und ihm Kraft gibt. „Der HERR ist meines Lebens Kraft“, betet der Psalmist (Psalm 27,1).
Strophe 6 Dankbarkeit für das tägliche Brot
Zum Wohlergehen gehört auch eine gute Ernährung, hören wir in der sechsten Strophe. Gott hat reichlich dafür gesorgt. Kein Mensch müsste hungern – auch heute nicht. Von der Dankbarkeit für das tägliche Brot sind die Worte P.G.s geprägt: „…wo ich nur mein Aug hinkehre, find ich, was mich nährt und hält…überall ist meine Weide“. – „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“, heißt es in der biblischen Schöpfungsgeschichte (1. Mose 1,31). Was hat der Mensch aus Gottes Schöpfung gemacht?
Strophe 7 Gottes Gegenwart
Aber Gott bleibt seiner Schöpfung, seinen Geschöpfen, treu.
„Wenn ich schlafe, wacht sein Sorgen und ermuntert mein Gemüt, dass ich alle liebe Morgen schaue neue Lieb und Güt…“, spricht P.G. in der siebenten Strophe aus. Gottes Sorge für den Menschen hört auch in der Nacht nicht auf, und Gott ist es, der ihn in einen neuen Tag hinein aufwachen und von neuem seine „Lieb(e) und Güt(e)“ schauen lässt. „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu“, hören wir in den Klageliedern des Jeremia (3,22f.). Das bedeutet nicht, dass den Menschen keine Ängste überfallen und krank machen können. Aber ohne Gottes Gegenwart und Geleit – so betont P.G. – „wär ich nicht aus so mancher Angst genesen“. „In der Welt habt ihr Angst“, spricht Jesus, „aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Johannes 16,33). – Lesen wir jetzt jeder und jede für sich die Strophen 8 und 9, während dazu ein Orgelchoral erklingt!
Strophen 8 – 9 Die Bedeutung schwerer, bitterer Zeiten im Leben
Die Strophen 8 und 9 gehen auf die schweren, bitteren Zeiten im Leben ein.
Strophe 8 Zeichen der Zuwendung Gottes in bitteren Zeiten
In den schweren, bitteren Zeiten des Lebens sieht P.G. „Zeichen“ des Gedenkens und der Zuwendung Gottes. Hart spricht er von „Gottes Strafen, seine(n) Schläge(n)“. Gott lenkt den von der Welt „hart gefangen“ gehaltenen Menschen „durch das Kreuz zu ihm“.
Im Hebräerbrief (12,6) lesen wir: „Wen der Herr liebhat, den züchtigt er“, und ähnlich heißt es in der Offenbarung des Johannes (3,19) von Gott: „Welche ich liebhabe, die strafe und züchtige ich“ – Worte, die leider oft mißverstanden wurden und eine schlimme Wirkungsgeschichte besonders für die Kindererziehung und für die Rechtfertigung von Schlägen hatten.
Die biblischen Aussagen haben aber einen anderen Sinn. Sie wollen nach schweren Erfahrungen zum Ausdruck bringen: Die Liebe Gottes ist nichts Weichliches. Gott mutet uns Leben mit allen Härten zu, aber Gott verlässt uns nicht, wenn es uns hart ergeht. „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“, spricht der auferstandene Christus (Mathäus 28,20).
Strophe 9 Trost für die Leidgeschüttelten
P.G. will die Leidgeschüttelten trösten: „Christenkreuz hat seine Maße“. Die Zeit des Leidens ist begrenzt. Wie nach dem Winter der (Frühling und der) Sommer kommen, so „erfreu(e)t“ Gott den Menschen, „wer’s erwarten kann“, nach bitteren Zeiten wieder.
Erinnern wir uns: P.G. schrieb dieses Lied im Jahre 1653, das zu den glücklichsten Jahren seines Lebens gehörte. Zu diesen zählt auch die überwiegende Zeit seines Pfarrdienstes an der Nikolaikirche zu Berlin (1657-1669). Gegen Ende seines dortigen Dienstes starben seine Frau und vier der fünf Kinder. In dieser schweren Zeit hört sein Liedschaffen abrupt auf.
Die oft vorgebrachte Interpretation, P.G. habe in seiner leidvollsten Zeit die schönsten Lieder geschrieben, ist also unzutreffend. Allerdings entstanden in der allgemein leidvollen Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) z.B. die Passionslieder „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (1647, EG 83),„O Welt, sieh hier dein Leben“ (1647, EG 84) und das Osterlied „Auf, auf, mein Herz mit Freuden“ (1647, EG 112).
Für die Verarbeitung seiner persönlichen Leiderfahrung, für seine „Trauerarbeit“, brauchte P.G. wie jeder Mensch Zeit. Er ist inzwischen zusammen mit seiner Schwägerin und dem ihm noch verbliebenen Sohn nach Lübben umgezogen, um die dortige Pfarrstelle anzutreten. „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, spricht Jesus (Matthäus 5,4).
Orgelmeditation
Strophe 10 – Die Dimension der Anbetung
„Weil denn weder Ziel noch Ende sich in Gottes Liebe find’t, ei so heb ich meine Hände zu dir, Vater als dein Kind…“
Wie am Anfang betont P.G. am Schluss seines Liedes wieder seine Beziehung zu Gott, den er im positiven Vaterbild erlebt und dem er seine ganze Liebe entgegenbringt. Er besingt die unendliche Liebe Gottes. Sie bewegt ihn zur Anbetung.
Anbetung erscheint ihm als die angemessenste Antwort auf den letztlich unfassbaren und unbeschreibbaren Gott. Doch kann ein Mensch diese Haltung gegenüber Gott bewahren? Treibt es ihn nicht immer wieder weg von seinem Ursprung, von seiner Mitte, von Gott? Darum ist die Bitte, die P.G. ausspricht, so wichtig: Gott wolle ihm „Gnade geben“, ihn mit ganzer Kraft immer und überall zu lieben, ihn „zu umfangen Tag und Nacht hier in meinem ganzen Leben…“
Was ist Dein Lied? Singe es! Und wenn es Dir nicht ums Singen zu Mute ist, lass es andere Dir singen! Gottes Liebe, seine Güte bleiben – in Ewigkeit. – Singen wir einander die letzte Strophe zu!