Vom Herrschen und vom Dienen
Exegetisch-homiletische Vorüberlegungen
Markus hat in der Erzählung des Weges Jesu nach Jerusalem die dreifache „Ankündigung von Jesu Leiden und Auferstehung“ mit Szenen verbunden, in denen den Jüngern die Augen geöffnet werden müssen. Mit der „Heilung eines Blinden bei Jericho“ (Mk. 10,46-52) schliesst Markus bezeichnenderweise die Erzählreihe ab. Mk. 10,35-45 folgt der 3. „Ankündigung“. Homiletisch sollen drei Szenen beleuchtet werden, die – unterschiedlich gewichtet – in der Perikope vorkommen: Die beiden Brüder, Jakobus und Johannes, mit ihrem Wunsch, „rechts“ und „links“ von Jesus in seiner Herrlichkeit zu sitzen – der „Unwillen“ der übrigen zehn Jünger darüber – das Wort Jesu von „dienen“ und „herrschen“. Die Predigt nimmt ihren Einstieg bei Gesichtsausdrücken der Zehn, wendet sich dem „Jüngergespräch“ zu und schliesst mit dem Ausblick auf den Anteil, den „wir“ auf dem Weg Jesu haben. Ein besonderes Augenmerk ist auf den (belasteten und missverständlichen) Begriff „dienen“ gelegt; die „Dienstanweisung“ für den Diener Caurus von Conrad Celtis soll helfen, Schichten freizulegen und ursprüngliche Bedeutungen zu entdecken.Literatur:
Kommentare von J. Gnilka (EKK) und W. Schmithalts (ÖTK), H.W.Beyer, Art. Diakonia“, ThWNT II (1935), 81ff.; J.N. Collins, Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, Oxford 1990; H.J. Benedict, Beruht der Anspruch der evangelischen Diakonie auf einer Missinterpretation der antiken Quellen? PTh (89) 2000, 349-364; Gedicht von Conrad Celtis: in Summa Poetica. Griechische und lateinische Lyrik von der christlichen Antike bis zum Humanismus, hg. C. Fischer, München 1967, 679Predigttext: Markus 10,35-45 (Übersetzung nach Martin Luther)
Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, daß du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, daß ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, daß wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wißt nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: cIhr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wißt, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.I.
„Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.“
Ich soll die erste Szene ausleuchten. Im Drehbuch habe ich das Wort „unwillig“ angestrichen. Unser Regisseur ruft die Zehn auf die Bühne. Behende springen sie in den Lichtkegel, albern noch herum. Wie sollen sie sich stellen? Wie sich geben? Der Regisseur fragt: Wie seht ihr aus, wenn ihr irritiert seid? Ich richte das Licht auf die Gesichter. Aufgerissene, grosse Augen – Augen, die zusammengekniffen werden; hochgezogene Brauen – gerunzelte Stirne; gepresste Münder – und Münder, denen ein „O“ entschlüpft. Die Zehn brauchen nichts sagen. Nur die Gesichter sollen sprechen, die Spannung ausdrücken – ja, die Verärgerung.
Wenn auch kein Laut von den Zehn kommt, sie können nichts verbergen. Sie sind enttäuscht und überrumpelt. Ein ganzes Repertoir läuft, zusammengerafft, ab: Zwei aus ihrer Mitte, die mit Jesus Sonderabmachungen treffen wollen, sich die Plätze „rechts“ und „links“ an seiner Seite schon einmal sichern, Fakten schaffen. Glaubten sie nicht, die beiden zu kennen? Gehörten sie nicht zusammen?
Markus schweigt vorsorglich. Wenn ich wissen will, was in den Köpfen der Zehn vorgeht – muss ich von meinem eigenen Kopf reden. Waraum machen die beiden das? Ich will nicht in die zweite Reihe! Ich kann mich doch nicht abhängen lassen! Von denen doch nicht! Was denken die sich! Sind die was Besonderes? Das wollen wir doch mal sehen!
Der Evangelist ist ein Meister der Inszenierung.
Ich soll die erste Szene ausleuchten. Es bleibt nicht beim Drehbuch. Irgendwie muss auch mein Gesicht ins Bild. Ich bin nicht nur Beleuchter.
II.
„Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, daß du für uns tust, um was wir dich bitten werden.“
Die zweite Szene soll ins Bild. Jesus ist schon da. Jakobus und Johannes, zwei Brüder, drängen sich zu ihm hin. „Meister, wir wollen!“ Der Regisseur lässt die Szene noch einmal spielen. Dynamischer, bitte, sagt er. Schon in den Schritten darf kein Zweifel sein, kein Zögern, kein Überlegen. „Ihr wollt etwas!“
Was sie wollen? Ihre Chance! Ihre Zukunft! Sie sind mit Jesus allein. Jetzt oder nie: Rechts und links von ihm zu sitzen – in seiner Herrlichkeit – war schon immer ihr Traum. Nur geredet haben sie darüber nie. Sie sind mit Jesus gezogen, haben ihm zugehört, ihm zugesehen. In ihren Ohren und Augen spiegelte sich seine Überlegenheit. An seiner Seite waren sie stark. In seiner Nähe winkte ihnen das Reich Gottes. Nicht, dass ihnen die ablehnenden Worte und Gesten vorborgen geblieben wären, die kritischen Rückfragen von denen „da oben“ und die gefährlich einfache Wundersucht der „armen Teufel“ da unten – nein, manchmal nagte der Zweifel auch an ihnen. Aber dann hörten sie wieder die Botschaft Jesu von dem Reich, das nahe herbeigekommen sei – und sahen sich „rechts“ und „links“ von ihm. Sie brauchten diese Nähe – und die Gewissheit, in seiner Nähe zu bleiben. Die anderen zehn waren auf einmal weit weg, so weit weg wie die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegneten. „Meister, wir wollen“.
Jetzt kommt er zu Wort. Ich soll das Licht auf ihn fallen lassen. Die Jünger geraten ins Halbdunkel. Was Jesus sagt, geht über ihre Köpfe und Herzen hinweg. Ihr wisst nicht, was ihr wollt – sagt er. Aber sie wehren sich. Gewiss, der Meister in ihrer Mitte sieht einen anderen Weg als den, den sie schon für sich ausgemacht haben. Aber widerlegt das Hoffnungen, Träume? Mehr als einmal haben die Jünger von Jesus gehört, dass er nach Jerusalem geht, fallen gelassen wird, zum Tode verurteilt, verspottet, angespieen, gegeisselt, aufgehängt. Mehr als einmal haben sie aber auch von ihm gehört, dass er nach drei Tagen auferstehen wird. Woran sollen sie sich denn halten, wenn alles eine Sache von Tagen ist? Tod und Leben so dicht beieinander liegen?
Nur: was Jesus sagt, führt die Jünger auf einen Weg, dessen Tragweite sie nicht ermessen. Jesus verheisst ihnen, den Kelch mit ihnen zu teilen. Er verspricht ihnen, dass auch sie mit der Taufe getauft werden, mit der er getauft wird. Eindrücklich ist von Leiden und Sterben die Rede. Das ist auch Nähe, das ist auch Gewissheit – mehr noch: das ist Gemeinschaft. Paulus hat das ganz dicht und spitz formuliert: mit ihm sterben, mit ihm auferstehen.
„Zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.“
Dazu sagen die Jünger nichts – sind ihnen die Worte – endlich – ausgegangen?
Ich richte das Licht auf die drei.
Was die Jünger wollen, selbstbewusst und offen vorgetragen, hat Jesus ihnen verwandelt.
Wo sie „rechts“ und „links“ von ihm sitzen wollen, schenkt Jesus ihnen einen gemeinsamen Weg.
Wo sie mit ihren Gedanken schon ans Ende gekommen sind (sprich: die Herrlichkeit sehen), reicht er ihnen den Kelch.
Wenn wir bedenken, dass Jesus, bevor die beiden Jünger sich an ihn wandten, seine dritte Leidensankündigung ausgesprochen hat – ist das eine besondere Begegnung zwischen ihm und den beiden Brüdern. Von ihnen wird zwar auch sonst erzählt, dass sie Jesus besonders nahe und verbunden sind, aber in diesem Zwiegespräch klärt sich ihr Weg.
III.
„Zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist.“
Figuren, Gesichter und Worte wurden ins rechte Licht gerückt. Ich sehe Menschen vor mir, die eine exklusive Nähe zu Jesus suchen und sich seiner Freundschaft vergewissern wollen – und Menschen, die darüber unwillig werden, enttäuscht sind, ihrer Verärgerung Luft machen. Das sind menschliche Erfahrungen. Ich höre: „Wir wollen“ – ich höre aber auch: „ihr wisst nicht, was ihr wollt“. Die Sehnsucht, auf der siegreichen Seite zu stehen, an Triumphen teilzuhaben, „rechts“ und „links“ im Bild zu sein – wenn dann die Bilder gezeigt werden – ist mir nicht fremd. Aber Jesus hat da einen anderen Weg vor Augen. „Rechts“ und „links“ von ihm – werden die Schächer hängen. Jesus am Kreuz verspricht einem von ihnen: „Amen – ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“
Jesus hat das den Jüngern offen gesagt. Der Menschensohn dient – und gibt sein Leben als Lösegeld für viele. Das ist eine andere Herrlichkeit als die, die den beiden vorschwebte, als sie mit Jesus eine Exclusivvereinbarung zu treffen hofften.
Du kannst den Scheinwerfer ausmachen, sagt der Regisseur. Bevor wir die letzte Szene nachstellen, müssen wir uns darüber unterhalten, was es heisst, „Diener“ zu sein. Im Drehbuch steht:
„Wer gross sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.“
Ich habe euch ein Gedicht mitgebracht, sagt der Regisseur. Er blättert in seinen Unterlagen – und findet die „Vorschriften und Richtlinien für den Diener Caurus“ von Conrad Celtis. Der soll von 1459 bis 1508 gelebt haben und ein kluger Mann gewesen sein.
Vorschriften und Richtlinien für den Diener Caurus
Dadurch allein erringest du meinen Beifall mein Diener,
Dass du meinem Wunsch, meinen Geboten gehorchst,
Dies sei dein oberster Grundsatz: dienen in Treue, und weiter:
Halte den Mund, sei still, was deine Arbeit auch sei!
Sauber die Kleidung, so will ich’s, und sauber das Werkzeug desgleichen,
Und was sonst noch das Haus irgend an Dingen enthält,
Dass du mir niemals lügst und niemals gar üppig und dreist bist,
Lächerlich, lächerlich gar, oder ein Narr oder Strolch!
Weiter missfällt mir, wer sich hingibt den Trieben der Venus,
Wer mit vielem Geschwätz mich zu beeinflussen sucht.
Niemals dulde ich Diener, die meine Geheimnisse suchen,
Sie zu erforschen bestrebt: würdelos sind sie und frech.
Schmeichler schicke ich fort, desgleichen, wer sich der Faulheit
Hingibt oder dazu Bauches Gelüsten gar frönt.
Lerne, wenn du gefragt wirst, klar und vernünftig zu reden,
Dass deine Antwort nicht, Diener, verwirre den Herrn.
Hände gefaltet, Füsse geschlossen, Rücken gerade,
Sieh deinem Herrn ins Gesicht: dann aber kehrt und marsch marsch
(Conrad Celtis, 1459-1508)
Wir sammeln Stichworte wie Eingebungen: gehorchen, den Mund halten, keine eigenen Bedürfnisse haben, diskret sein, nur zu reden, „wenn du gefragt wirst“ – und fast schon unübertroffen formuliert: Hände gefaltet, Füsse geschlossen, Rücken gerade – marsch marsch …
Wir lachen. Aber so habe ich mir einen Diener eigentlich immer vorgestellt. Ordentlich gekleidet, unterwürfig und treu-doof wie James. Ist das ein „Diener“? Mir wird angst und bange. Sollte Jesus …? Kann doch gar nicht sein. Aber wenn nicht so – wie dann?
Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „dienen“ ist macht- und geistvoll. Nichts Niedriges und Erniedrigendes haftet dem Wort an. Im Gegenteil: Wer dient, geht „dazwischen“! Ist wer, hat etwas zu sagen, kann sich nicht verstecken.
Das alte griechische Wort – einfach mit „dazwischengehen“ übersetzt – erlaubt weitreichende Assoziationen: Wer dient, vermittelt zwischen Parteien und Interessen, verbindet Räume und Ansichten, überbringt Botschaften und Grüsse, ja, vertritt die Interessen anderer und setzt sich für sie ein. Wer dient, muss sich ganz einbringen und steht mit seinem Namen und seiner Lebensgeschichte voll hinter dem, was er tut. Sich klein zu machen – oder machen zu lassen – ist genau das Gegenteil von dem, was „dienen“ meint.
IV.
Mach noch mal die Strahler an, sagt der Regisseur. Jesus geht nach vorne. Er ruft seine Jünger zu sich. Jetzt sind sie wieder zusammen. Zwölf. Nicht zwei plus zehn.
„Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht.“
Der Regisseur winkt. Sag das noch mal, eindringlicher. Und nicht so schnell.
„Wer gross sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.“
Man muss diese Worte laut hören! Es ist keins zuviel, keins zuwenig.
Der gemeinsame Weg, von dem Jesus spricht, hat in diesen Worten Konturen bekommen. Es ist ein Weg, der durch Leiden und Sterben ins Leben führt, es ist ein Weg, auf dem Jünger und Jüngerinnen Anteil erhalten an dem Dienst Jesu:
Wir übermitteln macht- und geistvoll seine Botschaft, wir gehen dazwischen, wenn Unrecht und Ungerechtigkeit Menschen bedroht, wir treten für die Schwachen und Sprachlosen ein.
Und wir sind dankbar, dass „rechts“ und „links“ von ihm, den wir unseren Meister nennen, Menschen sind, die seiner Nähe und seiner Verheissung ganz besonders bedürfen.
Wir können uns den Wunsch der beiden Brüder, verwandelt, zu eigen machen:
Meister, wir wollen ..
Es könnte sein, dass Gesichter zu sprechen anfangen:
Aufgerissene, grosse Augen – Augen, die zusammengekniffen werden; hochgezogene Brauen – gerunzelte Stirne; gepresste Münder – und Münder, denen ein „O“ entschlüpft.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.