Der Hirtenpsalm 23: Aus der Sicht eines Schafhirten
Psalm 23 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Ein Psalm Davids. Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. 2 Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. 3 Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. 4 Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. 5 Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein. 6 Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.Sechs schöne Verse haben den Psalm 23 beliebt gemacht. Mit seiner bilderreichen Sprache ist er wohl der bekannteste Psalm. Wenn Sie diesen Hirtenpsalm einmal laut beten, könnte es Ihnen fast vorkommen, als würden Sie sich den Mantel der Geborgenheit umhängen. Der Psalm scheint ein tiefes Vertrauen zu versprühen. So bekennt der Philosoph Immanuel Kant ganz offen:
„Ich habe in meinem Leben viele kluge und gute Bücher gelesen. Aber ich habe in ihnen allen nichts gefunden, was mein Herz so still und froh gemacht hätte, wie die vier Worte aus dem Psalm 23: ‚Du bist bei mir’.“
Aber nicht für alle Menschen ist dies ein Psalm der Zuversicht. Es gibt welche, die ihn ins Gegenteil verkehren, für diese wird ihr Leben aussichtslos. Da hat ein Polizist den Psalm einer Rauschgiftsüchtigen in einer Telefonzelle in London gefunden. Auf einem Zettel hatte dieses süchtige 16jährige Mädchen folgendes aufgeschrieben:
„König Heroin ist mein Hirte, mir wird immer mangeln. Er bringt mich hinab in den Schmutz. Er führt mich zum sorgenvollen Wasser. Er zerstört meine Seele. Er führt mich auf bösen Straßen. Ja, ich werde wandeln durch das Tal der Armut und das Böse fürchten, denn du, Heroin, bist bei mir. Deine Spritzen und Kapseln versuchen mich zu trösten. Er entleert den vollgedeckten Tisch vor dem Angesicht meiner Familie. Er raubt die Vernunft aus meinem Kopf. Mein Kelch von Sorgen fließ über. Wahrlich, Heroin hingegeben soll ich dahinschleichen alle Tage meines Lebens, und ich werde leben in dem Hause der Verdammten für immer.“
Ist das nicht eine maßlos traurige Bilanz, im Hause der Verdammten für immer zu leben? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass auch nur ein Jugendlicher so enden möchte!
Dagegen bietet uns der Hirtenpsalm 23 Zukunft an. Er präsentiert uns positive Perspektiven. Immer, wenn ich eine große Schafherde mit dem Schafhirten und Hirtenhund sehe – so wie neulich zwischen Sandhausen und Walldorf – muss ich unwillkürlich an den Psalm 23 denken. Der Text stammt von David; er war selbst Hirte und Sohn eines Hirten. Er kannte genau das Verhalten der Schafe. Er wusste um die vielen Gefahren, denen die Tiere ausgesetzt sind. In diesem Psalm vom guten Hirten bekennt er sich zu ihm, zu Gott.
Ich möchte Ihnen einige Gedanken zu diesem Hirtenpsalm mitteilen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue.“ Hierbei hat Philipp Keller, der Diplomlandwirt, Hirte und Schafzüchter, folgende Erfahrung gemacht. Er berichtet:
„Im Laufe der Zeit kam ich dahinter, dass sich meine Schafe nur dann wirklich sicher fühlten, wenn sie wussten, dass ich bei ihnen auf der Weide war. Die Gegenwart ihres Besitzers und Beschützers beruhigte sie wie nichts anderes, ganz gleich, ob es Tag oder Nacht war.“
Wie ist das in unserem Leben? Was beruhigt uns da, wenn Not, Krankheit und Unglück uns treffen? Niemand kann uns sagen, was morgen passiert. Eigentlich leben wir in ständiger Unsicherheit. Woher nehmen Sie die Kraft für Künftiges? Was gibt Ihnen Geborgenheit? Ich jedenfalls rechne damit, dass Gott meine Lage genau kennt und mich nicht im Stich lässt.
Und dann heißt es: „Er führet mich zum frischen Wasser.“ Der Schafhirte Keller erinnert sich an folgende Begebenheit:
„Ich stand unter der glühenden Sonne Afrikas und sah zu, wie die Hirten die Herden an den unterirdisch verlaufenden Fluss heranführten, um an das Wasser heranzukommen. Holzstege führten zum Wasser hinab, doch allein konnten die Tiere nicht ganz bis an das Wasser herankommen. Unten in der Wasserstelle stand der Besitzer mit nacktem Oberkörper und schöpfte Wasser für seine Herde. Das war eine anstrengende Arbeit. Der Schweiß rann ihm in Strömen vom Leib. Als ich so dastand und zusah, wie die Tiere ihren Durst an dem kühlen Wasser löschten, ging mir wieder ganz neu auf, dass das Wohl der Tiere von dem Fleiß des Eigentümers, des Hirten, abhängig war. Die Schafe konnten nur zufrieden gestellt werden, weil er seine ganze Kraft einsetzte und weder Mühe noch Schweiß scheute.“
Trifft nicht in unserem Leben ähnliches zu? Es gibt sicherlich einige unter uns, die in ihrer Biografie so manche Durststrecke durchlaufen haben. Da waren Situationen, in denen man nicht wusste, wie es weitergehen soll. Doch dann kam von irgendwo ein Licht her, ein Licht in Form eines hilfreichen Engels, da war das wohltuende Wort eines lieben Freundes, den Gott genau zur richtigen Zeit geschickt hat. Und es ging weiter, man konnte wieder nach vorn schauen.
Und dann heißt es: „Er erquicket meine Seele.“ Wenn dem Hirten ein einzelnes Schaf wegläuft, sucht er manchmal stundenlang danach. Der Schafhirte Keller berichtet davon:
„Oft fand ich es schließlich irgendwo hilflos auf dem Rücken liegen. Dann rannte ich los, so schnell ich konnte, um dem Schaf zu helfen, denn jede Minute war kostbar. Sobald ich das auf dem Rücken liegende Schaf erreicht hatte, war mein erster Gedanke: Schnell aufrichten. Dadurch wurde der Druck der Gase im Pansen etwas gelindert. Ich unterhielt mich regelrecht mit dem Tier und sagte: ‚Wann wirst du endlich lernen, auf deinen eigenen Beinen zu stehen? Ich bin froh, dass ich dich diesmal gefunden habe, du Schlingel!“ Langsam gewann das Schaf sein Gleichgewicht wieder zurück. Schließlich sprang es davon und gesellte sich zu den anderen. Das Schaf war aufgerichtet worden und hatte eine neue Chance bekommen.“
Wohl dem, dessen Seele im Gleichgewicht ist. Der hat’s gut! Wenn ich mal ausgerutscht und weggekippt bin und hilflos auf dem Rücken liege, wie gehe ich dann damit um? Ich habe zwei Möglichkeiten: entweder bejammere ich mich selbst und pflege mein Elend – oder ich bitte um neue Lebenskraft und bete: Erquicke meine Seele! Und ich werde bestimmt aufgerichtet!
Und dann heißt es: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir.“ Der Psalmist David weiß, wovon er spricht. Er kannte die Landschaft aus erster Hand. Er ließ seine Herde nur dort grasen, wo er die Gegend zuvor ausgekundschaftet hatte. Er kannte alle Gefahren: reissende Flüsse, Steinschlag im Gebirge, Giftpflanzen, Raubtiere (also Löwen, Leoparden, Wölfe), Hagel- und Schneestürme. Bei jedem Wind und Wetter war er darauf vorbereitet, seine Herde zu schützen.
„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal…“ Mögen Stürme über mich hereinbrechen oder Fluten, wie auch immer geartet, mich fortreißen, ich kann gewiss sein: Ich habe Rückhalt und weiß mich gehalten, wenn ich falle. Es ist ein Gott, der mitgeht: „Du bist bei mir.“
Ist Ihnen übrigens aufgefallen, dass genau an dieser Stelle von der zweiten Person die Rede ist: Du bist bei mir! Vorher heißt es: Er weidet, er erquicket, er führt. Und jetzt: Du bist bei mir. Jetzt, wo es dunkel, rätselhaft wird in meinem Leben, undurchschaubar, geht es auf einmal „per Du“. Da rückt mir Gott so nahe, dass ich voller Vertrauen sagen kann: Du bist bei mir.
Und nun geht es in der Du-Form weiter: „Dein Stecken und Stab trösten mich.“ Für das Schaf ist der Stecken oder Knüppel seines Besitzers lebenswichtig. Denn mit dem Knüppel ist der Hirte jederzeit imstande, seine Herde unter Kontrolle zu halten und sie zu schützen. Der Schafhirte Keller berichtet von einer Szene im afrikanischen Kenia, wo er einmal Elefanten fotografierte. Dabei begleitete ihn ein Massai-Hirte, der eine Keule bei sich trug:
„Wir kletterten eine Anhöhe hinauf und sahen im dichten Gebüsch unter uns eine Herde Elefanten. Um sie in das offene Land zu treiben, entschlossen wir uns, einen Felsbrocken zu lösen und ihn den Abhang hinunterrollen zu lassen. Während wir an dem mächtigen Brocken zerrten, kam plötzlich eine Kobra zum Vorschein, die sich in einem Loch versteckt hatte und uns angreifen wollte. Im Bruchteil einer Sekunde schlug der aufmerksame Hirte mit seiner Keule zu und tötete die Schlange auf der Stelle. Er hatte die Waffe keine Minute aus der Hand gelegt… Der Knüppel in der Hand des aufmerksamen Hirten hatte uns an diesem Tag das Leben gerettet.“
Und dann heißt es: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Der Schafhirte Keller war mit seinen Kindern oft tagelang damit beschäftigt, das Weidegelände von Giftpflanzen zu befreien. Er erzählt:
„Diese Arbeit musste jeden Frühling aufs Neue getan werden, ehe die Schafe auf die Weide gelassen wurden. Durch das viele Bücken war es eine äußerst mühsame Beschäftigung und doch in gewissem Sinne ein ‚Tischzubereiten angesichts meiner Feinde’. Sollten meine Schafe überleben, musste es einfach getan werden.“
Und dann der Vers: „Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.“ Ich habe mich immer gefragt, was das heißt: Du salbest mein Haupt mit Öl. Selbst theologische Kommentare geben hierzu keine schlüssige Antwort. Bis ich erfahren den Sinn dieses Psalmverses erfahren habe. In der Sommerzeit machen die vielen Insekten den Schafen das Leben schwer. Es sind die Bremsen, sog. Kriebelmücken, Stechmücken und viele winzige Parasiten. Sie attackieren die Schafe und treiben sie sogar an den Rand des Wahnsinns. Die Schafe rennen in ihrer Qual mit dem Kopf gegen Bäume, Steine und Buschwerk und schlagen wie wild um sich. Der Schafhirte Keller erzählt:
„Bei den ersten Anzeichen dafür, dass die mörderischen Fliegen kommen, musste ich die Köpfe der Tiere mit einem Abwehrmittel einreiben. Ich habe immer ein Hausmittel bevorzugt, dass sich aus Leinöl, Schwefel und Teer zusammensetzt. Damit habe ich den Schafen den Kopf und die Nase eingerieben, um sie vor den vor den Nasen-Fliegen zu schützen. Kaum hatte ich die Salbe aufgetragen, waren Angst und Raserei wie weggeblasen. Die Schafe begannen wieder ruhig zu fressen und legten sich bald zufrieden ins Gras.“
Oft genug erleben ja auch wir unsere eigene Reizbarkeit. Meistens sind es Kleinigkeiten, die uns ärgern, und uns manchmal sogar zur Weisglut bringen können. Dann ist es viel wert, einen Menschen zu haben, der quasi Öl für mich ist und einen Wandel in mir hervorruft.
Abschließend fällt mir jener ältere Herr ein. Er lag im Sterben. Wenn seine Angehörigen ins Zimmer kamen, schickte er sie fort und sagte: „Ich komme zurecht.“ Er lag immer auf der rechten Seite. Wenn man ihm anbot, ihn einmal umzudrehen, wehrte er ab und bemerkte: „Dann kann ich ihn ja nicht mehr sehen.“ An der Wand hing nämlich ein Bild aus alten Tagen, dargestellt war Jesus, der gute Hirte. Der Alte kannte auch den dazugehörigen Psalm „Der Herr ist mein Hirte.“ Und das heißt: Der Herr ist meine Orientierung, ist mein Wegweiser. Wer in seinem Leben diese Orientierung hat, hat’s gut. Ich wünsche sie Ihnen.