„Unverschämtes Beten“

Themapredigt zum Sonntag Rogate

Predigttext: Lukas 11, 5-8
Kirche / Ort: Hartum bei Minden
Datum: 25.05.2003
Kirchenjahr: Rogate (5. Sonntag nach Ostern)
Autor/in: Pastor Hartmut Frische

Predigttext: Lukas 11,5-8 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

5 Und Jesus sprach zu ihnen: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; 6 denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, 7 und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen, und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. 8 Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, soviel er bedarf.

Vorüberlegungen zur Predigt

„Im Rahmen des Gebetskatechismus Luk.11,1-13“ (J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, 1965, S.15) steht ein Gleichnis Jesu, dessen innere Dynamik sich einem nur erschließt, wenn man sich den hier beschriebene Vorgang entschlüsselt und zu sich sprechen lässt. . Helmut Gollwitzer schreibt in seiner Auslegung: „Schon ein menschlicher Freund wird, wenn schon nicht durch Freundestreue, so doch durch dringliche Bitten bewogen, als Freund zu handeln; wie viel mehr wird der als Vater handeln, der das Urbild aller Väterlichkeit ist Eph.3,14ff; Jes.63,16).“ (Die Freude Gottes, 8. Auflage, S.130) Erlaubt ist es, hinzuzufügen, was Gottfried Voigt in seiner Meditation zum Predigttext zu schreiben wagt: „Gott gibt mehr als wir bitten, weil er in dem größeren Horizont denkt und handelt, der mit umfasst, was wir auch als Glaubende nur von ferne ahnen können.“ (Der rechte Weinstock, 1968, S.209) Die Gebetskatechese Jesu in Luk.11 geschieht wirklich im Rahmen des Reiches Gottes. Schließlich ist darauf hin zu weisen, dass das Bedeutungsspektrum des Wortes aneideia in V. 8 wirklich von Scheu und Scham, über Unverschämtheit und Zudringlichkeit bis hin zu dem Wort Frechheit geht. Jesus ruft zum „unverschämten Beten“ auf. Menschen sollen in ihren Nöten mit allem, was in ihnen ist und mit ihrer ganzen Leidenschaft in ihrem Beten zu Gott kommen.

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Liebe Gemeinde!

Die Wendung vom „unverschämten Drängen“ beim Beten gehört zu einer Geschichte Jesu, die ganz und gar nicht spektakulär ist. Man kann sie leicht überlesen. Sie handelt von einem Geschehen mehr im Verborgenen.

Was Jesus hier erlaubt und gebietet, ist kein Programm, und es ist kein Prinzip. Es ist nicht organisierbar und es ist nicht propagierbar. Den Drang zum unverschämten Drängen und Beten entdeckt man aus einer inneren Not heraus.

Es heißt in Luk.11: „Und Jesus sprach zu seinen Jüngern: Wenn jemand unter euch einen Freund hat und ginge zu ihm um Mittenacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, dann wird er doch wegen seines unverschämten Drängens willen aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.“

Was geschieht hier in dieser kleinen Jesus-Geschichte?

1. Jesus beschreibt Gott als einen behaglich wohnenden Familienvater – und uns als zwei Freunde, die Hilfe brauchen

Dieser Familienvater hatte am Tage hart gearbeitet. Seine Frau war im Haus und um das Haus herum sehr beschäftigt gewesen. Die Kinder waren in der Schule. Zusammen hatten sie zu Abend gegessen. Der Vater hatte noch seine Pfeife geraucht. Es war dunkel geworden. Man hatte den schweren, dicken Riegel vor die Tür geschoben. Und dann war einer nach dem anderen schlafen gegangen.

Es klingt alles sehr bieder. Dieser Vater und seine Familie sind Menschen, die ihre Geborgenheit gefunden haben. Bei ihnen muss man damit rechnen, dass sie diese Geborgenheit nicht gerne stören lassen. Wie es Jesus hier beschreibt, soll Gott so sein.

Nun gibt es einen zweiten Mann. Er ist unterwegs. Ganz gewaltig hat er sich verspätet. Die Dunkelheit war schon lange herein gebrochen. Vielleicht hatte er sein Heim, seine Familie und alles, was ihm lieb und wert war, verloren. Noch wusste er nicht, wo er bleiben sollte. Aber für diese Nacht hatte er eine Adresse. Da war ein Freund, bei dem er anzuklopfen wagte. Er würde ihm geben, was er brauchte.

Während der erste Mann und seine Familie fest schlafen, – keiner kann ihnen das verübeln – während sich in seinem Schlafzimmer die warme Luft sammelt, die man in vielen Schlafzimmern findet, irrt der zweite Mann durch die Stadt, bis er an das Haus des Freundes kommt.

Er klopft an; sie begrüßen einander; natürlich wird er aufgenommen. Aber jetzt gibt es im Hause dieses Freundes einen großen Schreck. Das Nachtlager ist schnell bereitet. Aber es gibt nichts mehr zu essen. Mit knurrendem Magen schlafen zu gehen, das ist nicht das Wahre.

Was tun? Nun geht dieser dritte Mann um des zweiten Mannes willen, der bei ihm untergekrochen ist, zu dem ersten Mann und bittet ihm um Brot. Jetzt stolpert der dritte Mann um Mitternacht über die holprigen Straßen zu der Tür des ersten Mannes und klopft. Er muss fest klopfen, denn drinnen wird geschlafen. Dann hört er, wie sich drinnen etwas bewegt. Da ist einer aufgestanden. Der schwere Riegel wird weg geschoben. Die Tür geht auf. Und dann bittet der Freund den Freund um drei Brote.

Weil sich in der Nacht das wahre Wesen eines Mannes zeigt, sagt der aus dem Schlaf gerüttelte Familienvater. „Mensch klar! Ich hab’s sofort. Hier sind die drei Brote. Nimm sie, bereite sie zu. Es möge ihm schmecken!“ Und dann geht der Freund um des Freundes willen durch die Nacht zu seinem Haus zurück. Das Bitten hat geholfen. Das ist das erste: Jesus malt uns Gott als einen behaglich wohnenden Familienvater vor Augen. Und er beschreibt uns als zwei Freunde, die in ihrer Not Hilfe bei ihm suchen und Hilfe bekommen.

2. Im Gebet schließen sich die Urtiefen unseres Seelenlebens auf, und das in einer Zeit, in der viele Menschen Weltmeister im Verdrängen sind

Jesus erzählt eine Geschichte, die sich um Mitternacht abspielt. Das muss etwas bedeuten. Ganz einsam stolpern und tasten sich zwei Menschen, zuerst der eine, dann der andere, durch die Dunkelheit der Nacht. Sie suchen nach der Hilfe, die sie brauchen.

Wir werden erinnert an den Jakob am Jabbock, bei dem alles auf dem Spiel steht und der in der pechschwarzen Nacht, Stunde um Stunde, mit dem Engel Gottes ringt, bis ihm die Sonne aufgeht.

Wir werden ebenso an den Gebetskampf Jesu im Garten Gethsemane erinnert, in der er in großer Einsamkeit mit seinem Vater im Himmel sprach.

Wir denken an Paulus und Silas im Gefängnis, die in der Dunkelheit des Abends beten und dann um Mitternacht Gott loben können.

Ich denke an die Stelle, an der Jochen Klepper in seinen Tagebüchern schreibt: „Die seltenen, seltenen Gebete, die Gott einem gibt, weisen den Weg.“

Otto Michel, ein Theologieprofessor im vergangenen Jahrhundert, sagt einmal: „Ein Gebet, in dem ich mich nicht ausliefere, ist kein Gebet.“

Und Jesus gebietet in der Bergpredigt: „Wenn du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist.“ (Mt.6,6) Im persönlichen Gebet, meist im stillen Kämmerlein, schließen sich die Urtiefen unseres Lebens vor Gott auf. Dann bekommen wir das ganze Gestrüpp dessen, was unser Leben bisher gefüllt, was unsere Seele verletzt und was unser Verhalten geprägt hat, zu Gesicht.

Hier werden die sich oft so heftig gegen einander streitenden Gedanken bloß gelegt. Hier ringen die Fragen miteinander: War ich in dieser oder jener Begegnung der Täter, der sich schuldig gemacht hat? Oder war ich das Opfer, an dem sich andere schuldig gemacht haben? Oder war ich beides?

Hier werden frühere Erfahrungen durchgearbeitet. Ich schäme mich noch einmal für das, was ich falsch gemacht habe. Ich nehme mir die Not der anderen noch einmal zu Herzen. Wer kennt die Nächte nicht, in denen er wach liegt und grübelt und dann aufsteht und betet!

Viele Menschen müssen ihre Wege gehen durch dunkle Straßen und finstere Täler (Psalm 23,4) und wissen dabei nicht, ob sie wieder ans Licht kommen oder im Dunkeln vergessen werden.

Und dann kann es geschehen, dass jemand so im Gebet den Urtiefen seiner selbst begegnet ist und dann in der Gemeinde jemanden findet, bei dem er sich öffnen und bei dem er sich aussprechen kann. Und dann kommen diese beiden gemeinsam zu Gott und bitten, suchen und klopfen hier zusammen. Das ist das zweite: Im Gebet schließen sich die Urtiefen unseres Lebens auf und drängen dann zu Gott, damit er in ihnen hilft.

3. Das unverschämte Beten

Vom unverschämten Drängen ist in diesem achten Vers des Gleichnisses vom bittenden Freund die Rede. Genauso gut können wir sagen: Es geht um das Bitten und Beten ohne Scheu. Die Ehrfurcht vor Gott soll uns nicht befangen machen. Wir dürfen zu Gott kommen wie zu einem guten Freund. Gott ist nicht wie ein in seinem Inneren unzufriedener Mann, der gleich brummig reagiert und leicht auf achtzig zu bringen ist, wenn man zu ungewöhnlicher Zeit mit einer Bitte zu ihm kommt.

Gott ist eher wie ein Vater, dessen kleines Kind dabei ist, laufen zu lernen. Er streckt dem auf ihn zu kommenden Kind seine Arme entgegen. Aber er geht dann Schritte zurück, damit sein Kind von einem Mal zum anderen mehr Schritte zu gehen lernt. So lernt das Kind, seine Füße zu gebrauchen.

Solange sich Gott noch zurück hält mit seiner Antwort auf unser Gebet, können und müssen vielleicht falsche Motive zu Tage kommen und überwunden werden.

Solange es so aussieht, als schliefe und schlummere Gott (Ps.121) und als wolle er sich nicht stören lassen wie der Familienvater im Gleichnis Jesu, kann sich unser Wille noch klarer am Willen Gottes orientieren.

Solange Gott noch zu schweigen scheint, kann sich unser Gebet noch ganz anders an dem Horizont des Reiches Gottes ausrichten. Die indische Ärztin Mary Verghese erlitt bei einem Busunfall Verletzungen, die zu einer Lähmung ihres Körpers von der Hüfte an abwärts führte. Natürlich bat sie eindringlich um Hilfe und Heilung. Sie wurde nicht geheilt, aber dann entwickelte sie eine ungewöhnliche Fähigkeit, vom Rollstuhl aus in Spezialoperationen Menschen an ihren Gliedmaßen zu Recht zu helfen. So fand sie vor Gott zu einem Ja zu ihrem persönlichen Schicksal und erlebte viele erfüllte, gesegnete Jahre. Dorothy C. Wilson verfasste über das Leben dieser tapferen Frau eine Biographie mit dem Titel. „Um Füße bat ich – und er gab mir Flügel“.

Das hier verwendete griechische Wort gibt es her, vom unverschämten und zudringlichen, dreisten und frechen Beten zu sprechen. Unser Beten kann, wenn uns etwas wirklich auf dem Herzen liegt, so sein, als fielen wir Gott auf den Wecker. „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan“, so heißt es in dem Vers, der auf das Gleichnis Jesu folgt.

Ich denke an den blinden Bartimäus, der auf der Straße nach Jericho sitzt. Als Jesus vorbei kommt, ruft und schreit er. Er will nur eins: sehen können. Es macht nichts, dass er die öffentliche Ruhe stört und den Takt verletzt. So sollen wir ohne Scheu, eindringlich und unverschämt bitten und dabei damit rechnen, dass Gott uns erhört wie ein guter Freund.

(Gebet)

(Kanzelsegen:) „Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Amen.

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