Pfingsten einmal ganz anders

Unspektakuläre Erfahrungen mit dem Glauben keineswegs defizitär

Predigttext: Johannes 14, 23-27
Kirche / Ort: Melanchthonkirche / Heidelberg
Datum: 08.06.2003
Kirchenjahr: Pfingstsonntag
Autor/in: Pfarrer Dr. Herbert Anzinger

Predigttext: Johannes 14,23-27 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Jesus antwortete und sprach zu ihm [nämlich zu einem aus dem Jüngerkreis namens Judas – allerdings nicht dem mit dem Beinamen Iskariot]: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat. Das habe ich zu euch geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.

Exegetische und homiletische Vorbemerkungen

Pfingsten gehört zu den am wenigsten verstandenen christlichen Festen. Nur ein Viertel der deutschen Bevölkerung, so lese ich heute in der Zeitung, weiß noch um die Bedeutung dieses Festes. Der Heilige Geist lässt sich eben nicht dingfest machen. Da tut es gut, einen Predigttext zu haben, der diese Erfahrung offenbar voraussetzt und dennoch aufzeigen kann, wie der Geist Gottes als Platzhalter für Jesus in unseren Herzen wirkt. Johannes 14,23-27 steht im Kontext der Abschiedsreden Jesu, in denen die Situation der johanneischen Gemeinde nach dem Tod und der Auferstehung Jesu reflektiert wird. Zu dieser Situation gehört, dass die Gemeinde sich einer feindlichen Umwelt ausgesetzt sieht und sich nach Vergewisserung sehnt. Die entscheidende Aussage ist, dass Jesus im Medium des Geistes gegenwärtig bleibt. Der Geist nimmt die Funktion eines Parakleten wahr, eines Anwalts, der im Sinne Jesu berät und das Denken und Handeln anleitet. Er stellt damit sicher, dass die Kontinuität zwischen Jesus und seinen Nachfolgern gewahrt bleibt. „Im Wort des Geistes, also in der Verkündigung der Jesustradition bleibt Jesus bei den Seinen“ (J. Becker: Das Evangelium nach Johannes, ÖTK 4/2, 561). Johannes versteht das Pfingstereignis als Wohnungsnahme des dreieinigen Gottes im Menschen – ein Vorstellungshorizont, der ohne ekstatisch-charismatische Verzückungen und Verkrampfungen auskommt und ganz nüchtern und sachlich beschreibt, wie es möglich ist, dass Jesus auch heute noch das Leben derer, die ihm nachfolgen wollen, bestimmt. Ein solcher Zugang erleichtert uns das Verständnis der Wirkung des Heiligen Geistes, weil er bei den nichtaußerordentlichen, „normalen“ Erfahrungen derer ansetzt, die vermutlich unter meiner Kanzel sitzen werden. Mir ist wichtig, ihnen anhand des Predigttextes zeigen zu können, dass ihre unspektakulären Erfahrungen mit dem Glauben keineswegs defizitär sind.

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An Pfingsten feiern wir das Kommen des Geistes Jesu. Manchmal geschieht dies urplötzlich und unvermutet. So wie in dem Pfingstwunder, von dem die Apostelgeschichte berichtet. Wo der Geist Gottes die Anhänger Jesu im Sturm erobert. Wo er seine Gemeinde mit einem Mal Feuer und Flamme sein lässt, die Botschaft Jesu weiterzusagen. Und wo er inmitten und anstelle des herrschenden Sprachenwirrwars eine Verstehens-Gemeinschaft stiftet.

Aber einmal Hand aufs Herz: Wann und wo erleben wir denn so etwas? Sicher, manchmal springt in einem Gottesdienst, bei einem Vortrag, bei einer Gemeindeveranstaltung, der Funke über. Wir sind begeistert, euphorisch, neu motiviert. Aber machen wir uns nichts vor: Das sind Ausnahmen. So außergewöhnlich wie damals in Jerusalem, fünfzig Tage nach der Auferstehung Jesu, teilt sich der Geist Gottes nicht immer mit. Manchmal, ja sogar meistens, geschieht Pfingsten unter uns auf eine weniger spektakuläre Art und Weise. Wenngleich das Wunder das gleiche ist.

Von einer anderen, ruhigeren Form des Pfingstwunders spricht unser heutiger Predigttext. Er versetzt uns zurück in die Zeit, in der Jesus von seinen Jüngern Abschied nahm. „Auch wenn ich jetzt zum Vater gehe, so sollt ihr euch nicht verwaist fühlen müssen“, tröstet Jesus sie, „ich will euch meinen Geist senden.“ Durch den Geist will er sich ihnen weiterhin offenbaren. Das provoziert die Frage aus dem Jüngerkreis (Joh 14,22), warum die Offenbarung nur der Gemeinde, nicht aber auch der Welt zuteil werde. Manchmal stellen auch wir uns diese Frage: Warum ist die Ostererfahrung nur den Glaubenden und nicht auch den Nichtglaubenden zugänglich? Wäre es nicht einfacher, Gott würde direkter, sichtbarer, objektivierbarer in unser Leben, in unsere Welt eingreifen? In Johannes 14, den Versen 23 bis 27, geht Jesus auf diese Frage ein:

(Verlesung des Predigttextes)

Jesus nimmt Abschied von den Jüngern, indem er sie schonend darauf vorbereitet, dass sie in Zukunft ohne seine leibhaftige Gegenwart auskommen müssen. Er wird sie nicht im Stich lassen. Er wird ihnen weiterhin nahe sein. Durch seinen Geist wird er bei ihnen und in ihnen sein. So wird er sich ihnen offenbaren. Wie dies geschieht, beschreibt Jesus in drei Schritten:

Durch den Geist wird er in ihren Herzen Wohnung nehmen.
Durch den Geist wird er sie an alles erinnern, was er sie gelehrt hat.
Und durch den Geist wird er ihnen den göttlichen Frieden bringen.

I. Durch den Geist nimmt Jesus Wohnung in uns

„Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Um ein Liebesverhältnis geht es also. Das wird gleich mit dem ersten Satz klar. Um ein Verhältnis wechselseitiger Liebe zwischen den Jüngern und Jesus selbst. So wie Liebende an den Lippen des anderen hängen, so sind die Jünger begierig auf jedes Wort, das Jesus ihnen sagt. Sie nehmen es ernst. Sie bedenken es. Sie halten sich daran.

So sind sie, so sind wir heute aufs Engste mit Jesus verbunden. Aber nicht nur mit Jesus allein, sondern – da Jesus mit dem Vater eins ist – zugleich auch mit Gott. In diesem Liebesverhältnis kommen wir als die Jünger Jesu in Gemeinschaft mit Gott. Und nun ist es fast so, wie es auch in menschlichen Liebesverhältnissen zu gehen pflegt: Wenn zwei sich lieben, so wollen sie immer zusammen sein, zusammen leben, zusammen wohnen.

So will auch Gott mit uns eine Wohn- und Lebensgemeinschaft bilden, indem er bei uns einzieht. In Gestalt des Geistes will Jesus in uns gegenwärtig sein. So wie zwei Liebende den anderen im Herzen tragen, an ihn denken, seine Wünsche zu erraten suchen, so auch der, der Jesus liebt. Jesus lieben heißt: sein Wort halten, seine Lebenseinstellung teilen, ein Leben in seinem Sinne führen. Wo dies geschieht, da ereignet sich Pfingsten.

Gott offenbart sich uns Menschen, indem er in intimen Kontakt zu uns tritt. So wie Gott in Jesus für uns Mensch geworden ist, um uns begreifbar zu werden, so nimmt Jesus durch seinen Geist in uns Wohnung, um ganz bei uns zu sein. Denn wie nur der Liebende erfahren kann, was Liebe bedeutet, so kann sich auch das Ostergeschehen nur dem erschließen, der sich ihm vertrauensvoll öffnet. Weil Gott ein Gott der Liebe ist, darum kann sich die Offenbarung dieses Gottes nicht außerhalb einer Liebesbeziehung vollziehen.

II. Durch den Geist leitet Jesus unser Denken und Handeln

Wer seine Liebste, seinen Liebsten im Herzen trägt, der wird nichts denken, nichts tun wollen und können, was dem Geist dieses Liebesverhältnisses entgegen steht. Wer sich bewusst ist, dass Jesus in ihm wohnt, der wird aus seinem Geist heraus leben wollen.

Martin Niemöller, ehemaliger U-Boot-Kommandant und einer der führenden Männer der kirchlichen Opposition im Dritten Reich, der jahrlang als persönlicher Gefangener Hitlers im KZ saß, pflegte sich bei Entscheidungen zu fragen: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Die Antwort auf diese Frage gibt der Geist Jesu. Er sagt uns, wie wir im Geist Jesu handeln können, indem er uns an Jesu Wort und Tat „erinnert“: „Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

„Erinnern“ meint hier nicht den sentimentalen Rückblick auf die vergangenen schönen Zeiten, sondern die Vergegenwärtigung dessen, was Jesus gelehrt und gelebt hat. Im Kern ist es die Erinnerung an die Liebe, die in allem unser Tun und Lassen leiten und bestimmen soll. Denn das Liebesgebot ist das Vermächtnis, das der scheidende Jesus seiner Gemeinde hinterlassen hat. Über das Liebesgebot hinaus, gibt es kein anderes oder höheres Gebot Jesu.

An die Liebe will uns der Geist Gottes erinnern. Geschwisterliche Solidarität ist diejenige soziale Gestalt, in der die Geistesgegenwart Jesu in der Gemeinde zur Geltung kommt. Pfingsten wird es bei uns, wo die Liebe Jesu unseren Umgang untereinander und miteinander bestimmt.

III. Durch den Geist gibt Jesus uns Frieden

Wo Jesus im Geist gegenwärtig ist, da schwindet alle Furcht, aller Zweifel, alle Sorge. Wo Jesus im Geist gegenwärtig ist, da breitet sich Frieden aus: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht“. Es muss sich nicht fürchten, weil der Friede, den Jesus gibt, mehr und etwas anderes ist als der Friede, den die Welt bieten kann. Mehr als bloßer Interessenausgleich, mehr als die Abwesenheit von Streit.

Der Friede, den Jesu Geistesgegenwart vermittelt, ist nicht weniger als die Übereinstimmung des Menschen mit seiner geschöpflichen Bestimmung, seine Erlösung, seine Versöhnung mit Gott. Er fegt unsere Ängste und Sorgen weg. Er gibt uns Ruhe und Gelassenheit. Er macht uns Mut und gibt uns neue Hoffnung. Die Angst vor der Zukunft verschwindet, wenn der Friede Christi sich bei uns ausbreitet. Er gibt uns die Geborgenheit, die wir brauchen, um in dieser Welt zurechtzufinden trotz der Schicksalsschläge, die uns manchmal treffen, trotz der Enttäuschungen, die uns das Leben schwer machen.

Pfingsten einmal ganz anders. Anders jedenfalls als in der Apostelgeschichte. Wenngleich nicht weniger wirkungsvoll. Nicht in spektakulären Aktionen, nicht mit Brausen und Feuerzungen, nicht mit wundersamen Sprachbefähigungen, sondern im ruhigen, alltäglichen Bedenken und Tun dessen, was Jesus gewollt hat. Wir sind eingeladen, auf Jesu Verheißung seiner Geistesgegenwart zu vertrauen und sie heute an Pfingsten miteinander zu feiern. Denn Pfingsten ist das Fest der Geistesgegenwart Jesu in seiner Gemeinde.

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