Was das (wahre) Leben ist – oder: Wie soll man selig werden?

Eine Trinitatispredigt von Martin Luther mit einem Nachwort von Heinz Janssen

Predigttext: Johannes 3, 1-15
Kirche / Ort:
Datum:
Kirchenjahr: Trinitatis (Dreieinigkeitsfest)
Autor/in: Martin Luther

Predigttext: Johannes 3,1-15

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Der kam zu Jesus bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Laß dichs nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann solches zugehen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Predigt aus: K. Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Predigten, Bd. 8, 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 263-268)

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Ich kann nicht wissen, warum man dieses Evangelium auf den heutigen Sonntag der heiligen Dreifaltigkeit gelesen hat, weil nichts Besonderes von diesem Artikel darin abgehandelt wird.

I. Von der geistlichen Geburt – oder: Die Unzulänglichkeit des Gesetzes

Der eigentliche Inhalt dieses Evangeliums ist von der geistlichen Geburt und Aufhebung des Gesetzes, daß wer gen Himmel kommen wolle, der müsse etwas Besseres und Höheres haben als das Gesetz und des Gesetzes Werke, nämlich, er müsse von neuem geboren werden. Das predigt Christus hier dem Pharisäer Nikodemus und sagt: Wollt ihr Pharisäer gen Himmel kommen, so müßt ihr andere Menschen werden, als ihr bisher gewesen seid. Das wird es nicht tun, wie ihr bisher getan habt. Es geht nicht so zu, wie ihr denkt, wenn man gen Himmel kommen will. Das ist die Frage und das Hauptstück in diesem Evangelium: Wie soll man selig werden.

So hebt Christus hier auch bei der Antwort auf diese Frage an und sagt: Willst du selig werden? Mose tut es nicht; und sogleich darauf stellt er fest, was es sei, das solches tue: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.« Das ist die Definition: Wer da selig werden will, der muß von neuem geboren werden. Ist er nicht von neuem geboren, so kann er nicht selig werden.

Das ist die Frage: Was vermögen wir? Was vermag Mose? Wie gehen wir ein zum Leben? Wie kommen wir in das Reich Gottes? Antwort: In das Reich Gottes und zum Leben kommen wir nicht durch das Gesetz, nicht durch unsere Werke, nicht durch unseren freien Willen und menschliche Kräfte, sondern durch die Wiedergeburt.

Das Gesetz ist nicht ein Gesetz des Lebens, sondern das Leben ist: wiedergeboren werden. Darum ist die Frage in diesem Evangelium: Ob das Gesetz gerecht und selig mache oder nicht? oder, ob es genug sei zur Seligkeit, daß man Mose und die Propheten habe, mit dem Gesetz und mit dem Treiben des Gesetzes? Da sagt hier Christus »Nein« zu: das Gesetz sei nicht genug, sondern man müsse von neuem geboren werden.

II. “Der natürliche Mensch kann Gottes Sache nicht begreifen“

Da wird Nikodemus irre und kann das nicht verstehen, wie denn keine menschliche Vernunft daraus kommen noch das fassen kann, daß die Seligkeit außerhalb des Gesetzes sei. Es steckt in unserer Natur und ist uns angeboren, daß jedermann gern will, Gott solle ihn als einen frommen Mann ansehen, der viel Gutes getan habe. Sobald uns Gott diesen Ruhm entzieht und uns als Sünder beschuldigt, tadelt und anklagt, an denen nichts Gutes sei, so heben wir an, wider Gott zu murren. Aber es heißt: »Wer nicht von neuem geboren wird, der kann das Reich Gottes nicht sehen.« Der ganze Mensch muß neu und anders werden. Der Baum muß zuvor gut werden, ehe er gute Früchte bringt: also muß der Mensch zuvor gut und fromm werden, soll er etwas Gutes tun.

Daß Nikodemus spricht: »Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?« das reimt sich nicht zur Sache. Denn Christus redet von der geistlichen Wiedergeburt, aber Nikodemus versteht es von der leiblichen, fleischlichen Geburt.

Zwar ist dem Nikodemus diese ganze Predigt vor seinen Ohren eitel ungereimt Ding gewesen; denn menschliche Vernunft kann die geistliche Geburt und so hohe Sachen Gottes nicht begreifen, wie Paulus (1. Kor. 2, 14) sagt: »Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen.«

Der Evangelist Johannes hat es einfältig beschrieben und die Juden damit verspotten wollen, daß sie so grobe Gesellen waren und stolz daher prahlten und sprachen: Wie? Sollten wir nicht fromm sein und in das Reich Gottes kommen, die wir die Beschneidung und das Gesetz Moses haben?

Doch meint Nikodemus, er vernehme es sehr gut. Er will deshalb, so wie ich meine und seine Worte nicht anders verstehe, Christus in seinen Worten fangen und also sagen: Du sagst, wer da in das Reich Gottes kommen wolle, der müsse von neuem geboren werden; wahrlich, das wäre eine schöne Sache, daß ein alter Mann sollte wieder in seiner Mutter Leib gehen, neu und jung werden.

Christus antwortet: Lieber Nikodemus, ich rede nicht von der Mutter Leib, wie Mose redet, sondern ich rede von einer anderen und geistlichen Geburt, die nicht aus Fleisch und Blut geschieht, sondern aus Wasser und Geist. Wer das glaubt, der hat das ewige Leben.

III. Vergängliches und ewiges Leben – oder: Die eherne Schlange und Christus

Gleichwie die Juden dies zeitliche, vergängliche Leben hatten, wenn sie die eherne Schlange, in der Wüste auf dem Pfahl erhöhet, ansahen, so haben das ewige, unvergängliche Leben alle, die Christus so ansehen, daß sie glauben, er sei ihnen zugute gestorben und von den Toten auferstanden. So werden wir von des Teufels Biß und Gift geheilt.

Gleichwie die Juden mannigfaltig von den feurigen Schlangen gebissen wurden, keiner ward heil und gesund, er sah denn die eherne Schlange an, welche Mose auf Gottes Befehl auf einem Pfahl erhöhet hatte: so werden wir auch auf mancherlei Weise vom Teufel angefochten und geplagt und haben mancherlei Gift an uns, fallen hier in diese, dort in jene Sünde über das hinaus, daß uns der Teufel durch die Erbsünde gebissen und an Leib und Seele verwundet, vergiftet und verderbet hat. Und unser keiner vermag von solchem Schaden und tödlichem Gift los zu werden, er sehe denn Christus an, auf welchen Gott unser aller Sünde geworfen hat.

Dies Stück und Bild von der ehernen Schlange, darin Christus abgemalt ist, ist etwas leichter und besser zu verstehen.

IV. „Der Wind bläst wo er will“ – oder: „ubi et quando visum est Deo“

Das vorige Stück aber, das der Herr mit dem Nikodemus disputiert, ist schwer und nicht so leicht zu verstehen, besonders von den Kindern und einfältigen Leuten. Denn diese Weise hat der Herr, daß er mit den Klugen und Weisen schwerverständlich und aus der Weisheit redet. Weil denn nun Nikodemus ein Pharisäer und dazu ein Meister und Lehrer in Israel ist, redet der Herr mit ihm scharfsinnig von der Wiedergeburt, stößt alles zu Boden, was die Seligkeit belangt, Natur, Vernunft, freien Willen, menschliche Kräfte, ja auch das Gesetz Gottes, und sagt: Dies alles hilft nicht; wer in das Reich Gottes kommen will, der muß von neuem geboren werden.

Er redet in einem Gleichnis von dem Winde: »Der Wind«, spricht er, »bläst, wo er will und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist«. Das ist, als wollte er sagen: den Wind hörst du wohl blasen, aber du weißt nicht, woher er kommt, wo er anfängt und wo er aufhört.

Gleichwie du nun den Wind mit deiner Vernunft nicht fassen kannst, was er sei, und ob du schon sein Sausen äußerlich hörst, kannst du dennoch weder seinen Anfang noch Ende wissen, noch merken, wie fern von dir er angefangen hat, oder wie weit hinter dir er aufhört, so wirst du viel weniger mit deiner Vernunft begreifen, wie die Wiedergeburt zugehe, durch die ein Mensch zu Gottes Reich geboren wird.

Das Wort, das ich rede, hörst du wohl, aber du weißt weder Anfang noch Ende davon. Gleichwie du nicht weißt, wo der Wind anfängt und wo er aufhört, so weißt du auch nicht, wo das Wort herkommt und wo es hinaus will.

Die leibliche Stimme und das äußerliche Wort hörst du wohl, aber des Wortes Kraft siehst du nicht, was es ausrichtet, wie der Geist mit und bei dem Worte wirkt. Darum muß das Wort geglaubt sein, wider alles Sehen und Fühlen der Vernunft. Wenn man viel disputieren will, wie es zugehe, so ist es aus.

V. Gottes (Heils-)Gabe(n) und unsere Aufgabe(n) – oder: Genesung und ewiges Leben durch Christus

Doch muß man gleichwohl auch fromm sein und gute Werke tun, gleichwie die Juden in der Wüste arbeiten und etwas tun mußten: einer mußte den andern warten und ihn pflegen, da sie von den feurigen Schlangen gebissen worden und krank waren usw. So müssen wir auch in diesem Leben arbeiten, unsern Beruf und Amt ausrichten, unserm Nächsten dienen usw.

Aber damit verdienen wir nicht die Seligkeit, sondern die Seligkeit und das ewige Leben kommt uns allein durch das Ansehen des erhöhten und gekreuzigten Christus. Gleichwie es der Juden Warten, Pflegen, Arbeiten nicht getan hat, daß sie vom Biß der feurigen Schlange heil wurden und lebten, so tun es auch unsere Werke nicht, daß wir von des Teufels Gewalt errettet werden und ewig leben.

Das ist die Summe von diesem Evangelium. Der Artikel soll es ganz und alles sein, daß wir an Jesus Christus glauben, für uns gekreuzigt; der ist unsere Schlange, von Gott aufgerichtet, den sollen wir ansehen, auf daß wir durch ihn genesen und ewig leben.

Unser lieber Gott und Vater wolle uns um seines lieben Sohnes Jesus Christus willen durch seinen Heiligen Geist bei dieser Lehre erhalten und von Tag zu Tag darin wachsen lassen, daß wir in rechter Erkenntnis Christi und im Glauben zunehmen und endlich selig werden mögen, Amen.

(aus: K. Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Predigten, Bd. 8, 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 263-268)

Nachgedacht – Zu Martin Luthers Trinitatispredigt von Heinz Janssen

Gleich zu Beginn seiner Predigt über Johannes 3,1-15, die ich unter der Überschrift „Was das (wahre) Leben ist – oder: Wie soll man selig werden?“ in fünf Teile gliedere, stellt Martin Luther fest, dass er im Predigttext von der Trinität, um die es ja eigentlich am Trinitatisfest gehen sollte, nichts finden kann.

I.

Den Hauptinhalt des Evangeliums sieht M. Luther in der geistlichen Geburt (Wiedergeburt) und in der Aufhebung des Gesetzes Moses.

Die Geschichte von der Begegnung des Pharisäers Nikodemus mit Jesus von Nazareth konfrontiert uns nach M. Luther mit der Frage, wie man selig werden soll.

II.

Der natürlichen Menschen – so hebt M. Luther unter Berufung auf 1. Korinther 2,14 hervor – kann die (Heils-) Notwendigkeit der neuen Geburt nicht begreifen. M. Luther versteht das Evangelium als eine Beschreibung dieses theologischen bzw. christologischen Sachverhalts. Der Evangelist Johannes habe die Juden damit „verspotten“ wollen, die im Hinblick auf das ersehnte Heil auf ihre Beschneidung und das Gesetz Moses pochten. Liegt hier eine antijudaistische Auslegung M. Luthers vor?

Der Pharisäer Nikodemus scheint den metaphorischen Sinn der Rede Jesu von der neuen Geburt nicht zu verstehen. Oder täuscht der bibelkundige und gelehrte Pharisäer dies nur vor? Ist seine Frage „Wie kann ein Mensch von neuem geboren werden?“ wirklich ernst gemeint und nicht vielmehr pure Ironie? M. Luther meint, dass er „Christus in seinen Worten fangen“ wollte.

III.

Einen Schwerpunkt in M. Luthers Predigt bildet die typologische Gegenüberstellung der ehernen von Mose auf Gottes Geheiß erhöhten Schlange (4. Mose 21,4-9) und des von Gott erhöhten Christus. In ihnen stehen sich vergängliches und ewiges Leben gegenüber. Im Bild von der ehernen Schlang ist – so M. Luther – „Christus abgemalt“. Durch Christus werden die gewohnten (dogmatischen) Denkschemata umgestoßen: Natur, Vernunft, freier Wille, menschliche Kräfte, ja auch das Gesetz Gottes, helfen nicht, um das Heil zu erlangen

IV.

Ist nach M. Luther die Jesu Rede von der neuen geistlichen Geburt bzw. Wiedergeburt „schwer und nicht so leicht zu verstehen“, so ist sein Gleichnis vom nicht festlegbaren Wehen des Windes einleuchtender. Das Gleichnis soll veranschaulichen, wie wenig es „mit deiner Vernunft“ zu „begreifen“ ist, „wie die Wiedergeburt zugehe, durch die ein Mensch zu Gottes Reich geboren wird“. Weil der Wind in Jesu Rede ein Symbol für das unverfügbare „Wehen“ des Heiligen Geistes ist (das hebräische und griechische Wort ruach/pneuma lassen noch etwas von dieser Dynamik erkennen), „muß das Wort geglaubt sein, wider alles Sehen und Fühlen der Vernunft“.

V.

M. Luthers Predigt mündet in die Gegenüberstellung von Gottes (Heils-)Gabe(n) und unsere Aufgabe(n) in Beruf und Nächstenliebe, um nocheinmal den Hauptinhalt des Evangeliums herauszustellen: „Das ist die Summe von diesem Evangelium. Der Artikel soll es ganz und alles sein, daß wir an Jesus Christus glauben, für uns gekreuzigt; der ist unsere Schlange, von Gott aufgerichtet, den sollen wir ansehen, auf daß wir durch ihn genesen und ewig leben“. Man beachte die kühne Formulierung „Jesus Christus…der ist unsere Schlange, von Gott aufgerichtet…“

Wie so oft schließt die Predigt mit einem Segenswunsch, „daß wir…endlich selig werden mögen“.

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