Gott braucht keine „Maulchristen“ oder: Gottes Dienst und Gottesdienst

Eine Predigt von Martin Luther mit einem Nachwort von Heinz Janssen

Predigttext: Lukas 6, 36-42
Kirche / Ort:
Datum:
Kirchenjahr: 4. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Martin Luther

Predigttext: Lukas 6, 36-42

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben. 38 Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedrückt, gerüttelt und überfließend Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen. 39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger ist nicht über seinen Meister; wenn der Jünger vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. 41 Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und des Balkens in deinem Auge wirst du nicht gewahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuvor den Balken aus deinem Auge und siehe dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest! (Predigt aus: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hg. v. Kurt Aland, Bd. 8, Martin Luther, Die Predigten, 2. Aufl., Stuttgart 1965, 287-290. - Überschrift und Zwischenüberschriften: Heinz Janssen, redaktion@predigtforum.de)

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I. Die Lehre des Evangeliums – Rechter Glaube heißt: Dem Nächsten tun, wie uns Gott getan hat

Dieses Evangelium lehrt uns, dass wir rechtschaffene Christen sein und nicht allein mit Worten den Glauben und das Evangelium rühmen sollen, wie jetzt die Welt »Evangelisch « sein will.

Jedermann weiß von Christus viel zu sagen, aber in der Tat und im Werk ist nichts dahinter. So täuscht also der größte Teil derer sich selbst, die das Evangelium haben und hören, und fahren zum Teufel mit ihrem Glauben und Christus, denn sie haben ihn nicht recht erfaßt.

Solcher Gefahr wollte Christus gern wehren und uns recht glauben lehren. Er stellt uns deshalb nicht ein fremdes, unbekanntes, sondern unseres Vaters und unser eigenes Beispiel vor, das wir selbst erfahren haben, dass er so mit uns gehandelt hat. Das ist, als wollte er sagen: Ihr glaubt dann recht, wenn ihr eurem Nächsten tut, wie euer Vater im Himmel euch getan hat.

Ihr seid alle eurer Sünden halber im Gericht Gottes und in Verdammnis gewesen. Was hat nun euer Vater im Himmel getan? Ist es nicht wahr, er hat euch weder richten noch verdammen wollen, sondern euch alle eure Sünde vergeben, sein Gericht ganz aufgehoben, Hölle und Verdammnis hinweggetan und euch in Gnaden angenommen?

Da sollt ihr ihm nun dankbar dafür sein und eurem Nächsten auch so tun, wie euer Vater euch getan hat, ihr sollt barmherzig sein, nicht richten noch verdammen, sondern vergeben und geben, wie euer Vater im Himmel euch vergeben und gegeben hat. Tut ihr das, so ist es ein Zeichen, dass ihr die Vergebung eures Vaters im Himmel, der euch alle eure Sünde und Schuld vergeben hat, wahrhaftig und fest glaubt und bei solcher Vergebung bleibt.

Tut ihr es aber nicht, sondern wollt mit dem Schalksknecht dort Gnade empfangen und sie hier nicht anderen auch beweisen, so sollt ihr wissen, dass ihr nur Maulchristen und nicht rechtschaffene Christen seid. Und Gott wird euch wiederum aus der Barmherzigkeit in das Gericht und die Verdammnis werfen und euch aller Güter berauben, die er euch gegeben hat, und euch alle Schuld, die er euch erlassen hat, wieder auf den Hals legen; das sollt ihr für gewiß haben.

Der Vater im Himmel wird so zu euch sagen: Ihr Schalkschristen, ich habe euch mein Wort, Taufe, Sakrament, ewiges Leben und Seligkeit, gut Gewissen und Freudigkeit gegeben, danach Leib, Leben und alle Güter. Da hättet ihr auch so gegen euern Nächsten tun sollen, hättet auch Zorn und Rache gegen ihn aufhören sollen, wie ich meinen Zorn und Gericht gegen euch aufgehoben habe. Das sollte das Wahrzeichen gewesen sein, daran ihr hättet erkennen sollen, ob ihr es wahrhaftig glaubt oder nicht, dass ich meinen Zorn und Gericht aufgehoben hatte.

Weil ihr aber eurem Nächsten nicht tut, wie ich euch getan habe, so will ich euch wiederum tun, wie ihr eurem Nächsten tut. Ihr seid nicht barmherzig gewesen. Im habe euch alle eure Sünde vergeben, habe euch mein Wort und Taufe gegeben, und ihr habt dagegen eurem Nächsten das hundertste Teil nicht tun wollen. Wohlan, so will ich euch auch alle Gnade und Barmherzigkeit nehmen, meine Vergebung, ewiges Leben und Seligkeit, die im euch geschenkt hatte, wieder zu mir ziehen, will euch ebenso nicht vergeben, wie ihr eurem Nächsten nicht vergebt.

Ich hatte euch mit meiner Gnade und Barmherzigkeit geziert, geschmückt und gepriesen; weil ihr mich aber nicht ehret noch preiset, sondern mit eurem unchristlichen Leben und Wandel vielmehr verunehret, schändet und lästert, will ich euch auch nicht ehren noch preisen.

So predigt unser lieber Herr Jesus Christus hier den falschen Christen. Denn die lassen sich gern von Gnade und Vergebung der Sünde predigen, dass der Vater im Himmel um seines Sohnes Jesus Christus willen Gericht und Verdammnis aufgehoben hat, Tod und Hölle, Schuld und Pein, böses Gewissen und alles Unglück und an deren Stelle Gnade, Leben, Seligkeit, gutes Gewissen und das Himmelreim geschenkt hat, ohne unser Verdienst und Werk.

Solche Predigt, sage ich, hören die falschen Christen gerne. Aber dass sie ihrem Nächsten auch Barmherzigkeit, Liebe, Güte, Freundlichkeit und alles Gute erzeigen sollen, da wollen sie nicht hinan.

II. Das Maß der Barmherzigkeit im Umgang mit unserem Nächsten

Das ist eine wunderbare Predigt, in welcher man sieht, dass Gott sich schier mehr des Dienstes gegen den Nächsten annimmt als seines eigenen Dienstes. Denn in seiner Seele, und soviel es ihn betrifft, vergibt er alle Sünde und wills nicht rächen, was wir wider ihn getan haben.

Umgekehrt aber, wenn wir uns gegen unseren Nächsten übel verhalten, so will er mit uns auch uneins sein und gar nichts vergeben. Deshalb muß man das »Messen« hier auf die Zeit nach dem Glauben und nicht vor dem Glauben beziehen. Denn ehe du zum Glauben gekommen bist, da hat Gott mit dir nicht nach deinem Verdienst, sondern nach Gnaden gehandelt. Er hat dich zu seinem Wort kommen lassen und dir Vergebung deiner Sünden zugesagt. Das ist das erste Maß, mit dem wir gemessen werden, da wir angefangen haben zu glauben.

Weil wir nun solch Maß von Gott empfangen haben, sagt er: Gedenke daran, und miß du andere Menschen auch so. Tust du es aber nicht, so soll es dir ebenso gehen, wie du anderen tust. Du bist ihnen ungnädig, ich will dir auch ungnädig sein. Du richtest und verdammst sie, ich will dich auch richten und verdammen. Du nimmst ihnen und gibst nichts, ich will dir auch nehmen und nichts geben.

Da fängt das Maß nach dem Glauben an, dass sich unser lieber Herrgott der Werke gegen den Nächsten so sehr annimmt, daß er zurückrufen will, was er zuvor Gutes getan hat, wenn wir unserem Nächsten nicht auch Gutes tun wollen. Wer da gedenkt, Gott treulich zu dienen, der tue deshalb seinem Nächsten, wie Gott ihm getan hat. Das ist: er richte nicht, er verdamme nicht, er vergebe und gebe gern, sei seinem Nächsten freundlich und hilfreich, wo er kann.

Denn sonst wirds uns gehen wie dem Schalsknecht in Matth. 18. Dem war eitel Gnade zugemessen, dass der Herr ihn freiließ und ihm alle seine Schuld ganz freiwillig schenkte. Da er aber seinem Nächsten nicht die hundert Silbergroschen schenken noch Geduld haben wollte, bis er sie bezahlte, da kamen die zehntausend Pfund wieder auf ihn, und er ward den Peinigern überantwortet, bis er alles bezahlte.

III. Ruf zur Umkehr – Bedenken des Bildes vom barmherzigen Vater

Nun ist es wohl wahr: es ist nicht möglich, dass wir uns immer nach dieser Regel verhalten können. Wir vergessen die Barmherzigkeit sehr oft, und wo wir freundlich sein sollten, da fluchen wir.

Wenn sich das nun zuträgt, dass wir dabei gegen den hier gegebenen Befehl Christi handeln, da lasse uns Acht drauf haben, dass wir uns vor allem vor der Pharisäer Sünde hüten und nicht ohne Gewissensbisse hingehen und so fortfahren, sondern dass wir bald umkehren, an dieses Bild gedenken und tun, wie uns unser Vater getan hat, dass wir auch vergessen und vergeben und uns durch keine Unbilligkeit noch Undank bitter machen lassen.

(Aus: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hg. v. Kurt Aland, Bd. 8, Martin Luther, Die Predigten, 2. Aufl., Stuttgart 1965, 287-290. – Überschrift und Zwischenüberschriften: Heinz Janssen, redaktion@predigtforum.de)

Nachgedacht – Zu Martin Luthers Predigt über Lukas 6,36-42
von Heinz Janssen, redaktion@predigtforum.de

Martin Luther beginnt seine Predigt über die Perikope aus der Feldrede Jesu, Lukas 6,36-42, wie so oft mit der Lehre des Evangeliums: Das Rühmen des Evangeliums allein mit Worten ist nicht genug. Es geht um die Tat des Glaubens, um den rechten Glauben. Der Glaube erweist sich im Umgang mit unserem Nächsten, in der Ethik, die sich auf Gott gründet. “Wer da gedenkt, Gott treulich zu dienen, der tue deshalb seinem Nächsten, wie Gott ihm getan hat.”

Christen sollen nicht „Maulchristen“, „falsche Christen“, sein und sich wie der Schalksknecht (Matthäus 18) verhalten, sondern an dem Bild des barmherzigen Vaters orientieren und bedenken, was Gott durch Jesus Christus für sie in „Wort, Taufe und Sakrament“ getan.

Gott hat für uns durch Christus „ewiges Leben und Seligkeit, gut Gewissen und Freudigkeit“ gegeben. Diese Gabe soll in unserem Umgang mit unserem Nächsten bedacht und umgesetzt werden. In der Art, wie wir einander „messen“ und beurteilen, soll sich Gottes Barmherzigkeit, seine vergebende Liebe, spiegeln:

„Da fängt das Maß nach dem Glauben an, dass sich unser lieber Herrgott der Werke gegen den Nächsten so sehr annimmt, daß er zurückrufen will, was er zuvor Gutes getan hat, wenn wir unserem Nächsten nicht auch Gutes tun wollen. Wer da gedenkt, Gott treulich zu dienen, der tue deshalb seinem Nächsten, wie Gott ihm getan hat“.

Im Schlussteil befasst sich Martin Luther mit der anthropologischen Grundgegebenheit: „Wir vergessen die Barmherzigkeit sehr oft, und wo wir freundlich sein sollen, da fluchen wir“. M. Luther rät zur Umkehr. Umkehr ist möglich durch die Erinnerung an das Bild des barmherzigen und vergebenden Vaters, eine
Hilfe, uns nicht bitter machen zu lassen.

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