Lebensnotwendige Ethik
Erstaunliche und hoffnunsvolle Gemeinsamkeiten in den sechs großen Weltreligionen
Predigttext: Lukas 6,36-42 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder messen. 39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. 41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!Gedanken zur Predigt
Lukas 6,36-42, eine Perikope aus der lukanischen Feldrede Jesu, gehört zu den unbestritten wichtigsten biblisch-ethischen Texten. Wichtig ist mir, den Zusammenhang des neutestamentlichen Textes mit den Inhalten des Ersten Testaments, der Bibel Jesu, zu benennen. Zur Exegese verweise ich auf E. Schweizer, NTD 3, Göttingen 1982, S. 80-83 (Schweizer grenzt die Perikope anders als üblich ab: V.37-42). Meine Fragestellung in der Predigt zielt auf elementare ethische Gemeinsamkeiten in den großen Weltreligionen. Angeregt dazu hat mich eine durch Hans Küng initiierte Ausstellung in unserer Kirche mit dem Thema „Das Ethos in den sechs großen Weltreligionen“. Ist nicht die ethische Frage, die Besinnung auf das Potential in der eigenen religiösen Tradition und die Entdeckung der diesbezüglichen Gemeinsamkeiten in den großen Religionen neben der mystischen Dimension die besondere Herausforderung des dritten Jahrtausends nach Christus? In der Predigt sind einige Zitate aus ethischen Texten anderer Religionen aufgenommen. Ich lasse sie durch eine/n Sprecher/in lesen. Das Predigtlied („Selig seid ihr“) nimmt die Seligpreisungen der Bergpredigt Jesu auf.Liebe Gemeinde!
Was wir tun sollen und was wir nicht tun sollen – soll ich als der Gemeindepfarrer jetzt eine Moralpredigt halten? Hat Jesus eine Moralpredigt gehalten oder war es Lukas so wichtig, eine christliche, d.h. eine auf Christus zurückführende Moral aufzuschreiben?
I.
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.
Und richtet nicht. Verdammt nicht. Vergebt“, sagt Jesus.
Wissen wir Menschen nicht, was gut und richtig ist? – Wir sind nicht die Unbarmherzigen, spenden wir doch für die Notleidenden der Welt Millionen. Verdammen, verfluchen oder verfolgen – nein hier in Heidelberg nicht. In dieser Universitäts-, Touristen- und Industriestadt trifft sich die Welt. Wir sind offen.
„Mit dem Maß, mit dem ihr meßt, wird man euch wieder messen“, sagt Jesus weiter. Messen, wo es angebracht ist – schön. Wir messen unsere Kräfte im Wettstreit. Besser sein als der oder die andere. Dabei geht es um unseren Wohlstand. Für meine Firma, für meine Existenz auf dem Arbeitsmarkt – wie weit gehe ich? Gehen viele weltweit dafür nicht über Leichen?
„Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?“, so fragt Jesus.
Der Balken im eigenen Auge. Hier geht es um die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Es geht um den Aufruf, sich selbst zu ändern und um das Verstehen der Tatsache, dass ich nicht die Aufgabe habe, den anderen Menschen zu ändern.
Natürlich müssen Eltern und andere Vorgesetze die jungen Menschen erziehen, sie lehren, was gut für sie und zugleich gut für ihre Mitmenschen, auch für die Natur, ist. Selbstverständlich muss ich eingreifen, wenn menschenverachtende Dinge geschehen, und für eine Besserung kämpfen.
II.
Der Balken im eigenen Auge ist eine bildhafte Beschreibung unserer eigenen und persönlichen Unvollkommenheit. Wir werden mit diesem Bild darauf hingewiesen:
Ich und Du – wir haben bei allem Lernen und Bemühen nur ein (kleines) Stück allen Wissens,
Ich und Du – wir verstehen die Ereignisse nur aus unserem bescheidenen Blickwinkel heraus, wie er uns jetzt gerade gegeben ist. Der Balken versperrt einen Teil der Sicht.
Ich und Du – wir mögen es noch so sehr versuchen, werden ohne Schuld nicht auf dieser Welt leben. Wir brauchen die gegenseitige Vergebung, die Barmherzigkeit.
So fing auch unser heutiger Predigttext an: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! So fordert uns Jesus auf. Es ist die christliche Lebensethik! Und ich gehe noch einen Schritt weiter und sage: Es ist eine religiöse Ethik, eine Ethik aller großen Weltreligionen! Was Jesus sagt, gehört zum „Weltethos“ (H. Küng). Ein ungeheuerlicher Schritt für die Menschen der Welt, wenn sie dieses Weltethos leben würden!
III.
Jesus hat uns als Menschen, die sich an ihm orientieren, in eine Ethik hineingenommen, die in anderen Religionen genauso gültig ist! Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Religionen, weil ganz unterschiedliche Traditionen. Aber darum geht es jetzt nicht – die Unterschiede sind seit Jahrtausenden bekannt. Heute geht es mir um die Gemeinsamkeiten. Entdecken wir sie!
Wir Christen haben haben den heutigen Predigttext, die Bergpredigt bzw. Feldrede Jesu, und viele inhaltlich ähnliche Bibelstellen, welche aussagen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Also liebe, achte, ehre die Menschen – alle!
Das Judentum – dieser Religion gehörte Jesus an und wurde darin
groß – und seine Bibel, sie ist auch unsere Bibel. Wir haben einen ethisch so wichtigen Text wie die Zehn Gebote gemeinsam, und im 3. Buch Mose (19,8) steht der bereits genannte Aufruf: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Oder achten wir auf die Worte im Talmud: „Auf drei Dingen ruht die Welt: auf Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden“.
Im Islam, dessen fanatische Auswüchse uns solche Sorgen machen, gilt die Lehre des Koran, dort steht (Sure 2, 256; 3,104): „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ – „Aus euch soll eine Gemeinschaft (von Gläubigen) entstehen, die zum Guten aufrufen, das Rechte gebieten und das Verwerfliche verbieten. Das sind die, denen es wohlergeht“.
Vom Buddhismus sagt man, dass er unserem Religionsverständnis teilweise sehr nahe kommt. Hören wir die fünf Grundgebote dieser Religion: „Ich gelobe, mich des Tötens zu enthalten, ich gelobe, mich des Stehlens zu enthalten, ich gelobe mich, des unrechten Wandels in Sinnenlust zu enthalten, ich gelobe, mich des Lügens zu enthalten, ich gelobe, mich des Rausches zu enthalten“.
Die chinesische Religion ist von Konfuzius geprägt, er lehrt z. B. Tugenden wie: „Ein- und Unterordnung, (Mit-)Menschlichkeit, Pflichterfüllung, Wissen um das Rechte, Gegenseitigkeit, Toleranz, Ehrfurcht, Erfüllung der Kindespflichten“.
Menzius, ein anderer chinesischer Weiser sagt: „Der Gütige lässt die Art, wie er einen geliebten Menschen behandelt, auch dem ungeliebten zuteil werden“.
Zu den großen Weltreligionen gehört der Hinduismus, eine der ältesten Religionen. Hören wir aus dem Mahabharata: „Man sollte nicht nehmen, was dem anderen gehört, das ist eine ewige Verpflichtung“.
Hören wir auch die sieben modernen sozialen Sünden der Menschen nach Mahatma Gandhi: „Politik ohne Prinzipien, Geschäfte ohne Moral, Reichtum ohne Arbeit, Erziehung ohne Charakter, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Genuss ohne Gewissen, Religion ohne Hingabe“.
Haben Sie die Gemeinsamkeiten gehört? Die Ausstellung hier in der Kirche mit dem Thema „Das Ethos der sechs großen Weltreligionen“ hat sicher noch mehr Texte, die uns wegen ihrer Gemeinsamkeiten in den großen Religionen überraschen. Gehen Sie auf Suche. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Juli dieses Jahres zu sehen.
IV.
Uns steht in diesem dritten Jahrtausend nach Christus eine große Aufgabe ethischer Besinnung und Praxis bevor. Sie wird noch Generationen herausfordern, aber sie kann die Zukunft der Weltbevölkerung sein. Wir müssen dabei nicht in die Ferne schweifen. Es kann zwar sehr anregend sein, in die Länder mit anderen Religionen zu reisen und sich damit zu befassen. Wichtiger aber scheint mir, die eigenen religiöse Tradition wahrzunehmen, sich damit auseinanderzusetzen und sich auf die Wurzeln unserer nationalen, religiösen und kulturellen Herkunft zu besinnen. Ich habe ja nichts dafür getan, dass ich evangelisch bin. Meine Eltern haben mich in ihre religiöse Tradition hineingenommen und mich darin begleitet. Diese Einsicht schafft eine gute Ausgangsbasis für einen Dialog mit den Menschen anderer Religionen, für das Entdecken von Gemeinsamkeiten und für das Staunen darüber, was wir voneinander lernen können.
Eine Weltethik, die von allen Menschen anerkannt und gelebt wird – welch eine Vision. Der Lohn würde Gerechtigkeit, Friede und ein achtsamer Umgang mit der Natur sein.
Gott helfe und segne uns, dass auch durch jeden einzelnen und jede einzelne unter uns Gerechtigkeit, Friede und Achtsamkeit wachsen.
Und der Friede Gottes, der alle menschliche Vernunft weit übersteigt, durchdringe unsere innersten Regungen, Gedanken und Pläne und lenke sie in eine gute Richtung, die das Leben, die Würde und die Freiheit des anderen Menschen schützt und Gottes umfassende Schöpfung bewahrt.
Amen.