Von Krise zu Krise, von Klarheit zu Klarheit
Predigttext: Lukas 5,1-11 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)
1 Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth 2 und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. 3 Da stieg er in eines der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. 4 Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! 5 Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. 6 Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische und ihre Netze begannen zu reißen. 7 Und sie winkten ihren Gefährten, die im anderen Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, sodass sie fast sanken. 8 Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. 9 Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, 10 ebenso auch Jakobus und Johannes, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen. 11 Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.“Vorbemerkungen
Es ist die Aufgabe eines Exegeten, einen biblischen Text in seiner Textwerdung zu beobachten und diese Beobachtungen in seine Meditation einzubeziehen. Eduard Schweizer tut das in seinem NTD-Kommentar und kommt dann zu dem Ergebnis: „Gewisse Unausgeglichenheiten lassen gerade erkennen, was dem Evangelisten und den Tradenten vor ihm derart wichtig war, dass sie Spannungen in Kauf nahmen“ (Göttingen 1982, S. 68). Und dann fügt er hinzu: „Die Wahrheit, die sie in der Form einer solchen Geschichte verkünden wollen, hängt nicht daran, wie sie sich im einzelnen historisch abgespielt hat, wohl aber daran, ob das darin Gesagte das Entscheidende an Jesus heraushebt und ihn so charakterisiert, wie er in seinem ganzen Wirken und Erleben wirklich war und für uns ist“. Es sei hier an den Satz Martin Kählers erinnert, der in seinen Aufsätzen zur Bibelfrage schreibt: „Die historisch-kritische Arbeit an der Bibel zerstört unerbittlich das Vorurteil, dass hier ein Wunderbuchstabe für die Offenbarung bürge“ (Martin Kähler, Aufsätze zur Bibelfrage, hg. v. E. Kähler, Theologische Bücherei, Band 37, München 1967, S. 89). Dass Jesus so, wie es Lk 5,1-11 erzählt, seinen Jünger Petrus berufen hat, steht für mich außer Frage und will in einer Predigt zu diesem Text bezeugt werden. Dass Petrus dann in der Nachfolge Jesu von Krise zu Krise geführt wurde und dass er dabei von Mal zu Mal in die immer klarere Erkenntnis Christi hinein wuchs, kennzeichnet sein Leben als Jünger und Apostel. Zugleich aber lockt und provoziert diese Geschichte, darüber nachzudenken, wie Berufungen heute geschehen. Bei Hausbesuchen in der Gemeinde erzählen Gemeindeglieder häufig von den Krisen ihres Lebens. Manchmal ist es bedrückend, wie sich im Leben eines Menschenkindes Krankheit an Krankheit und Sterbefall an Sterbefall gereiht haben und das Leben so belastet wurde. Kann die Geschichte von der Berufung des Petrus da helfen, die eigenen Krisen anzunehmen, sich in Gott geborgen zu wissen, zu erfassen, dass auch heute die Berufung Jesu ergeht und auch heute Menschen in der Erkenntnis Christi von Klarheit zu Klarheit geführt werden können? In Simon-Petrus hat Jesus von Nazareth einen Menschen gefunden, auf den er setzen konnte und der mit ihm zusammen zum Fundament der Kirche wurde (vgl. Mt 16,18; Eph 2,20; Offb 21,14). Auch heute sucht Jesus Christus Menschen, auf die er setzen kann und die in ihrem Glauben, Hoffen und Lieben fest werden. (Hingewiesen sei auch auf die Meditation von Hans-Joachim Iwand zu Lk 5,1-11 in H. J. I., Predigt-Meditationen, 3. Auflage, Göttingen 1966, S. 447-454.)Liebe Gemeinde!
Je mehr ich über diese Geschichte von der Berufung des Petrus nachdenke, desto mehr staune ich über das, was damals am See Genezareth zwischen Jesus und Petrus geschah. Hier greift sich Jesus einen jungen Mann und formt ihn dann zu einem der Menschen, mit denen er seine Gemeinde gebaut hat. Behutsam und zupackend zugleich tritt er in das Leben dieses Menschen. Zum Schluss dieser Geschichte ist Simon-Petrus durch und durch bereit, Jesus zu folgen.
Zugleich ist dieses eine Geschichte, die uns anleitet, über den Gang unseres eigenen Lebens heute nachzudenken. Wir werden gelockt, zu fragen: Wo geschieht unter uns oder in meinem Leben Ähnliches? Wo hat Jesus Christus unter uns Menschen berufen, gepackt und geformt? Wie findet Jesus heute Menschen, auf die er setzen kann?
1. Eine Bitte um einen kleinen Dienst
Ich erinnere mich an ein Erlebnis während meiner Siegener Zeit. Es klingelte an meiner Wohnung. Draußen stand ein Mann, den ich flüchtig kannte. Vielleicht war es der Vater eines Konfirmanden. Vielleicht hatte ich ihn im Zusammenhang mit einer Beerdigung kennen gelernt. Ich weiß es nicht mehr. Er war innerlich bewegt und wollte mir etwas mitteilen.
Von Beruf war er Anstreichergeselle, und jetzt hatte er etwas Besonderes erlebt. Zusammen mit seinem Meister und mit den anderen Gesellen hatte er in den letzten Wochen die mehr als 700-jährige Martinikirche in Siegen gestrichen und ausgemalt. Eine Innenrenovierung war nötig geworden. Ihre Firma hatte man ausgesucht, den Innenanstrich zu machen. Und er war dabei und hatte mit seiner Hände Arbeit und mit dem, was er als Anstreicher konnte, da mitmachen können.
Dabei war ihm bewusst geworden: Eine Kirche zu streichen ist etwas anderes, als eine Wohnung oder einen Büroraum oder eine Schule frisch zu machen. Er hatte sich hier mit seinem Können einbringen können. Er hatte mitmachen können bei der Renovierung dieser alten Kirche in seiner Stadt. Das hatte ihn ganz tief berührt. Und das wollte er mir sagen. Ob es Menschen bei der Renovierung der Marienkapelle hier in Hahlen in den letzten Monaten ebenso ergangen ist?
Jesus wusste, wie gut das Menschen tut, wenn sie sich für einen anderen Menschen oder für Gott einsetzen können. Als er wieder einmal am See Genezareth von vielen Menschen umringt war und ihnen predigen wollte, sah er, wie junge Männer bei ihren Schiffen saßen und ihre Fangnetze säuberten.
Da sprach er einen von ihnen, eben den Simon, an und bat ihn um einen kleinen Dienst. Und Simon ließ sich bitten und fuhr Jesus mit seinem Boot einige Meter auf den See hinaus. Dann harrte er dort die ganze Zeit aus, in der Jesus zu der Volksmenge sprach. Es passte ihm nicht unbedingt an diesem Morgen. Er war müde und wollte mit seiner Arbeit fertig werden. Aber einem freundlichen Menschen schlägt man eine Bitte nicht ab. Und so stand er mit seinem Schiff Jesus zur Verfügung. Mit diesem kleinen Dienst fing im Leben des Petrus alles an.
2. Ein Fortschreiten von Krise zu Krise
Jesus hatte hier einen Menschen angesprochen, der an diesem Morgen richtig frustriert war. Zusammen mit seinen Arbeitskollegen war er hinausgefahren, hatten die ganze Nacht gefischt, und die Netze waren leer geblieben. Müde und kaputt saßen sie jetzt da. Frustriert kommt von lateinisch „frustra“ und bedeutet „vergeblich“.
In den Netzen hatte sich viel an Gerümpel verfangen. Es kostete Arbeitszeit, diese Netze wieder zu säubern. Gleich würden sie mit leeren Händen nach Hause kommen. Für ihre Familie hatten sie nichts zu essen. Und erst recht hatten sie nichts, um es auf den umliegenden Märkten verkaufen zu können. Ob es ihnen in der nächsten Nacht besser gehen würde, wussten sie jetzt nicht. Da kam dieser Fremde und bat den Simon, ihm einen Gefallen zu tun. Auch das noch!
In dieser Geschichte von der Berufung des Petrus bleibt es nicht bei dieser einen Krise. Als Simon dann Jesus in seiner wunderbaren Vollmacht erlebt, ist er bis aufs Mark erschüttert. Prallvolle Netze, sodass die Netze reißen und die Schiffe zu sinken drohen? Das hatte er noch nie erlebt. Das hatte es aber hier am See Genezareth auch noch nie gegeben. Das sprengte alle Begriffe vom Fischfang. Simon war völlig überwältigt. So etwas war zu viel für ihn.
Solch ein Wunder Gottes vor seinen Augen und solch eine Menge an Fischen ganz für ihn und seine Freunde – das war nicht zu begreifen. Simon fiel auf die Erde und sagte ganz demütig: Geh von mir weg! Ich bin nicht würdig, das anzunehmen. Ich bin zu schlecht, um mich so von Gott beschenken zu lassen. Ich bin ein sündiger Mensch.
Dieser Mensch wird von der Wirklichkeit Gottes so in Furcht und Schrecken versetzt. Zu der Krise, am Morgen mit leeren Netzen vom Fischfang heimkehren zu müssen, kommt diese zweite Krise hinzu. Jesus und Petrus passen nach der Vorstellung des Petrus nicht zusammen. Er wehrt Jesus ab.
Das Neue Testament erzählt noch häufiger von Krisen des Petrus:
– Als Jesus seinen Jüngern seinen Leidensweg erklärt und Petrus das verhindern möchte, fährt Jesus ihn an und sagt: Hebe dich von mir, Satan! Du bist mir ein Ärgernis. Was für eine Krise muss das für Petrus gewesen sein, dies so zu hören.
– Als Jesus im Prozess vor dem Hohen Rat in Jerusalem verhört wurde, verleugnete Petrus unten im Hof vor dem Dienstpersonal, Jesus zu kennen. Dann krähte der Hahn und Petrus weinte bitterlich.
– Als der auferstandene Christus seinen Jüngern am See Tiberius begegnete, nahm er sich den Petrus besonders und fragte ihn dreimal: Hast du mich lieb? Petrus wusste, dass er hier dem gegenüber sitzt, der ihn durch und durch kennt. Und dreimal antwortet er: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe.
– Und als es in den jungen Christengemeinden zwischen Paulus und den anderen um die rechte Freiheit des Christenlebens ging, widerstand Paulus auch dem Apostel Petrus von Angesicht zu Angesicht. Krach zwischen den Aposteln!
Das Leben des Simon-Petrus ist und bleibt ein Leben von Krise zu Krise. Immer neu wird er erschüttert. Immer neu stehen sein Leben und sein Glauben auf dem Spiel. Immer neu muss er Altes, Liebgewordenes, zurück lassen und mit Jesus neu aufbrechen. Immer tiefer lernt er den alten Adam in sich kennen. Hier schon bei der Berufungsgeschichte begann das.
„Mein Leben ist ein Leben von Krise zu Krise“, das kann manch einer von sich sagen. Und dann zählt er die Krankheiten, die Unfälle, die Enttäuschungen und die Schicksalsschläge auf. Die Sterbefälle in der eigenen Familie bleiben in lebhafter Erinnerung. Man kriegt sie nicht los.
Von Krise zu Krise werden viele Menschen geführt, die alt und gebrechlich werden. Krisen erleben Menschen, die arbeitslos werden, in die Schuldenfalle hinein geraten oder einer Sucht verfallen. Oft bei meinen Hausbesuchen, wenn Menschen anfangen, von sich zu erzählen, tut sich diese Reihe der Krisen auf.
Dass man in immer neue kritische Situationen hinein rutschen muss! Dass man immer wieder Stunden, Tage oder Wochen erlebt, wo alles auf dem Spiele zu stehen scheint! Gibt das jetzt eine Katastrophe oder komme ich hier glimpflich heraus? Und dann bricht die Warum-Frage aus einem geplagten Menschen mit Urgewalt hervor.
3. Ein Wachsen in der Erkenntnis von Klarheit zu Klarheit
Das Neue Testament überliefert uns die Krisen des Petrus. Das war kein Supermensch, den Jesus in seinen Jüngerkreis berief. Und das war auch kein Superapostel, mit dem er die Grundlegung seiner Kirche schuf. Dieser Mensch hatte seine Ecken und Kanten. Oft platzte er mit dem, was er dachte, einfach so heraus. Mehrmals hat er richtig versagt. Er hat gesündigt, und eigentlich hatte er wie Judas sein Apostelamt verspielt. In ihm als Mensch lag es nicht begründet, dass er zu einem der Grundsteine der Kirche wurde.
Aber Jesus hat ihn gehalten. Die Bindung zwischen Jesus und ihm blieb fest und lebendig. Und welche Höhepunkte hat Petrus in der Nachfolge Jesu erlebt:
– Zusammen mit den anderen Jüngern wurde er ausgesendet, um im Namen Jesu zu missionieren. Gemeinsam gingen sie hinaus in die Städte und Dörfer Palästinas.
– Mit eigenen Augen hat er die messianischen Wunderzeichen gesehen, die Jesus tat.
– Er war einer der ersten Zeugen der Auferstehungsherrlichkeit Jesu.
– Jesus führte am See Genezareth mit ihm ein ganz intimes Gespräch.
– An Pfingsten in Jerusalem trat Petrus auf, wörtlich: Er wurde auf die Beine gestellt, predigte und bezeugte die Auferweckung Jesu.
– Und dann wurde Petrus eine der Säulen der Urgemeinde in Jerusalem.
Petrus blieb in den Krisen ein Gott vertrauender Mensch. Er blieb ein Mensch, der über seine Fehler weinen konnte. Er nahm die Korrekturen Jesu und die Korrekturen der Schwestern und Brüder an. Er ließ sich von Jesus formen. Er ließ sich hinein ziehen in die Klarheit der Christuserkenntnis. Und er wurde jemand, der klarer und klarer sah, wie der Weg der Gemeinde Jesu ging und wie diese Gemeinde zu führen war.
Hier in dieser Berufungsgeschichte ganz am Anfang erkennt er in diesem Wanderprediger aus Nazareth den Sohn Gottes, dem auf wunderbare Weise die Fische im See Genezareth zu Gebote stehen und der ihm, dem unbekannten Fischer von Kapernaum, eine solche Fülle schenkt. Ihm gehen die Augen auf, er sieht klar, mit wem er es zu tun hat, und er fällt vor diesem Jesus nieder. Hier hat ein Mensch seinen Herrn und Meister gefunden, der über ihn zu verfügen hat.
Und dann ist es ganz selbstverständlich, dass Jesus Simon-Petrus zum Menschenfischer macht und diesen jungen Mann in seine Lebensschule nimmt. In der darauf folgenden Zeit hat Petrus erlebt, wie Scharen von Menschen sich um Jesus sammelten, von ihm Zeichen und Wunder erwarteten und an ihn glaubten. Später hat er erlebt, wie die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus ihren Weg machte rund um das Mittelmeer von Land zu Land und von Volk zu Volk.
Ja, dieser Fischer vom See Genezareth kam in die damalige Welthauptstadt Rom und bezeugte Jesus und wurde dort wie Jesus gekreuzigt. Sein Evangelium wurde durch die Jahrhunderte hindurch von Kontinent zu Kontinent getragen. Wie heißt es in einem Lied unseres Gesangbuches: „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt, fährt durch das Meer der Zeit.“
Sein Leben erlebte Krise um Krise, aber er wurde auch von Klarheit zu Klarheit geführt. Durch Jesus lernte er Gott und seine Liebe zu uns Menschen immer tiefer kennen. Alles begann damit, dass Jesus ihn am See Genezareth bat, ihm für eine kurze Zeit sein Boot zur Verfügung zu stellen. Aus diesem kleinen Dienst wurde sein großer Dienst als Apostel Jesu Christi für die Welt.
So führt und formt Jesus einen Menschen, den er sich auserwählt hat. Es lohnt sich, wenn wir uns ihm, seinem Ruf und seinen Händen überlassen.
Amen.