„Kirche, wo bist du?“
Predigttext: Matthäus 5,13-16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
13 Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als daß man es wegschüttet und läßt es von den Leuten zertreten. 14 Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. 15 Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. 16 So laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.Liturgische und homiletische Vorüberlegungen
1. Zu Inhalt und Gestalt des christlichen Gottesdienstes Im christlichen Gottesdienst geht es darum, dass die Wirklichkeit des von Jesus Christus in Kraft gesetzten Reiches Gottes auf Erden neu erfahren wird. Das geschieht, indem die großen Taten Gottes, die in der Vergangenheit geschehen sind, in Erinnerung gerufen werden und indem die zukünftige Vollendung des Gottesreiches durch die großen Verheißungen Gottes vor Augen gestellt wird. Die Predigt ist ein Teil dieses gottesdienstlichen Geschehens, ein wichtiger Teil, aber nicht das Zentrum, die Achse, um die sich alles dreht. Darum ist es gut, ja m. E. notwendig, vor der Meditation des Predigttextes, den Gang, die Gestalt des Gottesdienstes, in den diese Predigt hineingesprochen werden soll, zu meditieren. Der Prediger spricht ja zu Menschen, die bestimmte Bibelworte gehört, bestimmte Gebete gesprochen und bestimmte Lieder gesungen haben, zu denen also Gott schon geprochen hat und die darauf Antwort zu geben versucht haben. Daran lässt sich anknüpfen. Die Gestalt eines Gottesdienst wird einmal geprägt durch die Tradition, d. h. durch die in der Kirche gewachsene Liturgie, durch den besonderen Charakter des betreffenden Sonntags im Kirchenjahr, durch die vorgesehenen biblischen Lesungen, durch die Predigtperikope, durch Wochenspruch, Wochenlied und Wochenpsalm; zum anderen durch die besondere Situation der Gemeinde, der Kirche und der Welt in der betreffenden Zeit, in dem Fall am 10. August 2003. 2. Zur Liturgie Der Wochenspruch Epheser 5,8b.9, zu Beginn gelesen, gibt Gelegenheit, den besonderen Charakter des 8. Sonntags nach Trinitatis kurz anzudeuten. Es geht um die Früchte, die auf dem Boden des in Christus begründeten Gottesreiches wachsen dürfen und wachsen sollen. Die Gemeinde nimmt das auf mit dem Gebetslied „Erneure mich, o ewigs Licht...“ (EG 390) Als Eingangspsalm scheint mir Psalm 67 besser geeignet als der Wochenpsalm, weil er deutlich macht, dass alles Wachstum auf Erden, das natürliche ebenso wie das geistliche, sich dem Segen Gottes verdankt. Darauf kann man bei der Ansage des Psalms hinweisen. Für Bußgebet und Gnadenzusage sind in allen Agenden gute Angebote gemacht. Das Loblied sollte direkt auf die Gnadenzusage antworten. Ich wähle EG 400 (Ich will dich lieben, meine Stärke), die Strophen 4+5. Die Schriftlesung Epheser 5,8-14 ruft ins Bewusstsein, was für eine besondere Gabe und Aufgabe es ist, dass wir als Christen, d. h. in dem Licht, das von Christus ausgeht, in der Welt leben dürfen. Von da möchte ich zu dem wunderbaren Lied „Vertraut den neuen Wegen...“ (EG 395) hinführen, indem ich kurz etwas von seiner Entstehungsgeschichte berichte. Als Antwort auf die Predigt und als Schlusslied wähle ich Strophen aus EG 262 „Sonne der Gerechtigkeit...“ 3. Zur Predigt Die Predigt hat zusammen mit dem Fürbittengebet in besonderer Weise die Aufgabe, das Zeugnis des Gottesdienstes in die Zeitsituation hineinzustellen. Die großen Zusagen an die Gemeinde, die der Predigttext enthält, machen schmerzlich die Diskrepanz bewusst zwischen der in diesen Zusagen enthaltenen Weltbedeutung der christlichen Kirche und dem Bild, das diese Kirche z. Zt. in der Öffentlichkeit abgibt bzw. dem Ansehen, das sie da genießt. Die Kirche, zumindest die Institution Kirche, hat z. Zt. eine „schlechte Presse“. Das muss uns zur Besinnung rufen. Liegt das daran, dass auch Gott und seine Verheißungen in der Welt oft eine „schlechte Presse“ haben oder nicht auch am Zustand unsrer Kirche? Wem gelten eigentlich die großen Zusagen unseres Textes und was steht ihrer Verwirklichung bei uns im Wege? Dem versuche ich in der Predigt nachzugehen.Liebe Gemeinde!
„Ihr seid DAS Salz DER Erde….ihr seid DAS Licht DER Welt“ – man muss das einmal so betonen, um sich der ganzen Tragweite dieser Worte Jesu bewusst zu werden. Das heißt ja nicht nur: Ihr habt eine wichtige Funktion in der Welt, die mit der Wirkung von Salz und Licht verglichen werden kann, sondern ihr seid DAS Salz, d. h. ohne euch wäre das Leben auf der Erde fad, ohne Würze, unbekömmlich; und ihr seid DAS Licht, d. h. ohne euch wäre das Leben in der Welt dunkel, finster, hoffnungslos.
Große Worte oder: Der Predigttext und unsere kirchliche Realität
Große Worte, nicht wahr?! Kann man das wirklich von uns Christen, von unsrer Gemeinde und Kirche, sagen? – Vor kurzem ist ein Buch erschienen, eine Sammlung von kurzen Aufsätzen, mit dem Titel „Kirche, wo bist Du?“ Darin schreibt der Journalist Christian Nürnberger: „Die urchristlichen Gemeinden waren eine Kontrastgesellschaft. Sie unterschieden sich weithin sichtbar von ihrer Umwelt…Es sieht aber so aus, als ob diese Kraft sich jetzt allmählich erschöpft…Wenn auch die protestantischen Kirchen weiter so dahindümpeln wie in den letzten Jahren, dann werden beide Kirchen ( gemeint ist: die protestantische ebenso wie die katholische) zu unbedeutenden, belanglosen Sekten degenerieren.“ – „Ihr seid das Salz der Erde…ihr seid das Licht der Welt…“ – gilt das auch für diese dahindümpelnden protestantischen Kirchen?
Das „World Economic Forum“ mit Sitz in Davos hat kürzlich eine Umfrage in 47 Ländern der Welt durchgeführt, in der nach dem Ansehen verschiedener öffentlicher Institutionen, unter ihnen auch der Kirchen, gefragt wurde. Dabei kam in Deutschland die Institution Kirche auf den letzten Platz! – „Ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt“ – gilt das auch für die heute so schlecht angesehene Institution Kirche in unserem Land?
Gerade ist noch ein Buch neu erschienen mit dem Titel „Volkskirche ohne Volk“. Der Verfasser, der frühere Bundesverteidigungsminister Hans Apel, untersucht darin zunächst die Kirchenaustritts-Bewegung seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts und kommt zu dem Ergebnis, dass seither die protestantische Kirche in Deutschland ein gutes Drittel ihrer Mitglieder verloren habe. Dann erklärt er, warum er selbst, als überzeugter Christ, aus der „Nordelbischen Landeskirche“ ausgetreten ist. Es gibt, so schreibt er, „in der Evangelischen Kirche zunehmend das, was Helmut Thielicke ‚die Toleranz der Charakterlosigkeit und Verschwommenheit‘ nennt…Die Kirchenoberen passen sich an. In solch einer Kirche friert meine Seele“. – „Ihr seid das Salz der Erde…ihr seid das Licht der Welt…“???
Was ist da eigentlich geschehen? Wie kommt es, dass unser Predigttext so gar nicht mehr mit unsrer kirchlichen Realität zusammenzustimmen scheint? Statt dass die Leute durch uns dazu gebracht werden, Gott im Himmel zu loben, wie am Ende unseres Textes erwartet wird, laufen sie in Scharen davon.
Aufruf zur Besinnung – Der Predigttext im Zusammenhang der Bergpredigt
Vielleicht, liebe Gemeinde, klingt das alles etwas einseitig und übertrieben. Aber wenn nur ein Teil davon wahr ist, so ruft es uns dazu auf, uns zu besinnen, wem denn diese großen Zusagen Jesu gelten und wie sie unter uns neu zur Wirkung kommen können.
Die Antwort darauf können wir nur finden, wenn wir uns im Geist an den Ort, in die Zeit und in die besonderen Umstände zurückversetzen, in denen Jesus diese eigentlich so unfasslichen Worte gesprochen hat. Sie stehen bekanntlich in der sogenannten „Bergpredigt“, d. h. sie wurden nach dem Zeugnis des Evangelisten Matthäus auf einem Berg in Galiläa gesprochen, einem ganz unbedeutenden Berg übrigens in einem ebenso unbedeutenden Landstrich im Norden Palästinas, der damals von einer Mischbevölkerung von Juden und Heiden, heute würde man sagen von Israelis und Arabern, bewohnt war.
Das besondere an dieser Bergpredigt war, dass sie vor einem großen, ebenfalls sehr gemischten Publikum gehalten wurde. Es waren zusammengeströmt nicht nur aus Galiläa, sondern auch aus den benachbarten Gebieten und sogar aus dem jüdischen Kernland mit der Hauptstadt Jerusalem sowie aus dem Westjordanland, der „Westbank“, wie man heute sagt.
Diese alle waren gekommen, weil sich die Kunde von dem Straßenprediger aus Nazareth offenbar mit Windeseile herumgesprochen hat; die Kunde nämlich, dass da einer predigt mit Vollmacht, mit überzeugender Gewalt, und dass diese Vollmacht sich nicht nur in seiner Rede zeigt, sondern auch in der heilenden Kraft, die von ihm ausgeht und viele Kranke von ihren Leiden befreit hat.
Die Adressaten der Worte Jesu – nicht eine besondere Fähigkeit, sondern ein Mangel kennzeichnet sie
Darum also war diese große Menge zusammengeströmt, vielleicht weil sie für sich selbst Hilfe erhofften, vielleicht auch bloß aus Neugier oder Sensationslust. Da hinein, in diese bunte Menschenmenge, hat also Jesus die Worte gesprochen, die wir gerade gehört haben: „Ihr seid das Salz der Erde….das Licht der Welt…“ Wem gilt das? Wen meint er damit? Nun – das wird ganz klar aus dem Zusammenhang, in dem diese Worte stehen. Sie sind ja nicht der Anfang seiner Predigt. Am Anfang stehen vielmehr die sogenannten „Seligpreisungen“: „Selig sind, die da geistlich arm sind….selig sind, die da Leid tragen…selig sind die Sanftmütigen…selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit…“usw.
Diese Menschen also sind gemeint. Sie sind das Salz der Erde und das Licht der Welt. Was ist das Besondere, das diese Menschen auszeichnet, das sie dazu befähigt, wie das Salz alles Leben in der Welt zu würzen und vor Fäulnis zu bewahren und wie das Licht in die Dunkelheiten des Menschenlebens, in seine Ängste, Zweifel und Ungewissheiten, hineinzuleuchten? Was ist das Besondere der von Jesus Seliggepriesenen?
Es ist nicht eine besondere Fähigkeit, eine besondere Frömmigkeit oder Tugend, sondern es ist ein MANGEL! Selig sind die da geistlich arm sind – das ist, könnte man sagen, die zusammenfassende Überschrift des Ganzen. Die „geistlich Armen“, das sind Menschen, die mit nichts anderem vor Gott treten können als mit ihrer Schwachheit, ihrem Mangel, ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben als das, das sie bei sich feststellen müssen, die so beten können, wie wir es am Anfang dieses Gottesdienstes mit Worten von Dietrich Bonhoeffer ausgesprochen haben: „In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht. Ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht. Ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe. Ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede…“
Es ist das Besondere, das besonders Wunderbare, in den evangelischen Berichten, dass, sobald Jesus öffentlich in Erscheinung tritt, diese „Armen“ von allen Seiten herbeiströmen. Sonst halten sie sich eher versteckt, denn sie gelten in der Welt ja nichts; aber nun kommen sie herbei. Denn da ist einer, der sie nicht verachtet und auch nicht nur belehren und bessern will, sondern der sie ehrt, weil er weiß, dass Gott durch solche Menschen in die Welt hineinwirkt, dass er mit solchen Menschen sein Friedensreich auf Erden verwirklicht. „Gott bedient sich der Geringen, und mit zerbrochenen Werkzeugen tut er seine großen Taten“, so hat einmal Friedrich von Bodelschwingh, der Begründer des Liebeswerkes in Bethel, geschrieben.
Lebt die Kirche heute an den Menschen vorbei, die Hilfe brauchen?
Liegt es vielleicht daran, dass die Kirche, sei es nun in der Gestalt der Evangelischen Landeskirchen oder als Römische Weltkirche, ihre Leuchtkraft in der Welt verloren hat, weil sie unmerklich zu einer Gemeinschaft der Frommen, der Gerechten, der Besserwissenden
oder der guten Bürger geworden ist? Sodass die Armen unserer Zeit, die Zweifelnden, Suchenden, Hoffnungslosen an den Rand Gedrängten sich gar nicht mehr in diese gute Gesellschaft hineintrauen?
Doch da ist noch etwas anderes, was das Salz und das Licht, von dem Jesus spricht, unwirksam machen kann. In unserem Text heißt es ja weiter: „Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es die Leute zertreten“ und: „Man zündet nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter, so leuchtet es allen die im Hause sind“.
Zu einer anderen, neuen Gerechtigkeit berufen
Salz, das natürliche Salz, kann nicht salzlos, d. h. kraftlos, werden, und niemand wird so töricht sein, über ein Licht einen Scheffel, d. h. einen Eimer zu stülpen, weil es dann ja ausgehen oder jedenfalls nicht mehr leuchten wird.
Aber bei diesem Salz und diesem Licht, das Jesus mit seinen Worten meint, bestehen offenbar beide Gefahren. Wieso? Wieder müssen wir auf den Zusammenhang achten, in dem diese Sätze stehen. Wie die Seligpreisungen ihnen vorausgehen, so folgen ihnen die großen Worte von der neuen Gerechtigkeit. „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“, heißt es gleich nachher, und dann folgen alle die berühmten Aufrufe Jesu: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist… ich aber sage euch…“ D. h. alle die überlieferten Gebote, Gesetze, Lebensregeln, die euch gelehrt wurden, genügen jetzt nicht mehr. Ihr seid zu einer anderen, neuen Gerechtigkeit berufen.
Gott nimmt euch an und auf, wie ihr seid, er füllt euren Mangel aus mit dem Reichtum seiner Liebe, das zu bezeugen bin ich gekommen. Das soll, das muss nun auch euer Leben, euren Umgang miteinander erneuern.
Wenn ihr gehört: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle die an ihn glauben nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ – wie wir das heute auch wieder gehört haben – dann könnt ihr euren Mitmenschen auch nicht mehr anders begegnen als in dieser unbedingten Liebe.
Dann könnt ihr denen, die euch hassen und verachten und allerlei Übles tun, nicht mehr mit gleicher Münze heimzahlen, sondern werden versuchen, ihr Böses mit Gutem zu vergelten.
Das sind „die neuen Wege, auf die der Herr uns weist“, wie wir vorher gesungen haben, durch die wir „ein Segen für seine Erde“ werden. Und nun geht es darum, dass wir nicht nur davon singen und hören, sondern diesen Weg unter die Füße nehmen, heute, morgen und übermorgen.
Liegt es vielleicht daran, dass unsre Kirchen ihr Salz- und Leuchtkraft verloren haben, dass sie sich unmerklich den in unsrer Gesellschaft üblichen Verhaltensregeln angepasst haben? Dass an Stelle der unbedingten Liebe der Bergpredigt und des damit zusammenhängenden unbedingten Gehorsams nur ein bisschen christliche Moral getreten ist? Wie hat jener Journalist Christian Nürnberger geschrieben? „Die urchristlichen Gemeinden waren eine Kontrastgesellschaft. Sie unterschieden sich weithin sichtbar von ihrer Umwelt…es sieht aber so aus, als ob diese Kraft sich jetzt allmählich erschöpft“; und Hans Apel spricht von einer „zunehmenden Toleranz und Charakterlosigkeit“ in seiner Kirche, in der „seine Seele friert“.
Das Salz, das nicht Salz, das Licht, das nicht leuchtet – das ist eine angepasste Kirche, eine Kirche, die aus Sorge um sich selbst, aus Sorge, vielleicht Mitglieder zu verlieren oder keine neuen zu gewinnen, sich den herrschenden Regeln und Ansichten der Gesellschaft, in der sie lebt, anpasst. Achten wir darauf, seien wir allergisch gegen alle solche Anpassungsversuche!
Christus, unser Herr, ruft uns heute aufs Neue zu: “Ihr seid das Salz der Erde!“ – darum stellt euch nicht der Welt gleich…“Ihr seid das Licht der Welt!“ – darum lasst euer Licht leuchten vor den Menschen. Und Paulus, sein großer Apostel, nimmt das auf, wenn er schreibt: „Lebt als Kinder des Lichts. Die Frucht des Lichts ist lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit“.
Amen