Solidarität mit Jerusalem und ihren Bewohnern
Predigt zum Israelsonntag
Predigttext: Lukas 19,41-48 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
41 Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie 42 und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. 43 Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, 44 und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist. 45 Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben, 46 und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht. 47 Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, daß sie ihn umbrächten, 48 und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.Hinführung zur Predigt:
Der 10. Sonntag nach Trinitatis hat seit Kriegsende einen theologischen Bedeutungswandel vom „Gedenktag der Tempelzerstörung“ zum „Israelsonntag“ erfahren. Die traditionelle Predigt über die Tempelzerstörung war zumeist antijüdisch. Die christliche Mitverantwortung für die Schoa (Holocaust) und die Gründung des Staates Israel haben in Theologie und Kirche einen Prozess der Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum ausgelöst. Das biblische Israel ist die gemeinsame Wurzel von Judentum und Christentum. Durch Jesus Christus haben sich ihre Wege getrennt, doch er ist es, der sie in unauflösbarer Weise mit einander verbindet. Dies soll am Israelsonntag besonders zum Ausdruck kommen. Wir wollen auf jüdische Stimmen hören und, wo möglich, in ein Gespräch eintreten. Wir setzen uns mit unserer judenfeindlichen Tradition auseinander. Wir äußern die Überzeugung, dass es unvergleichlich viel mehr Verbindendes als Trennendes zwischen uns gibt. Der Predigttext Lukas 19,41-48 enthält zwei kurze Erzählungen von Jesus in Jerusalem: seine Klage über die Stadt und die Tempelreinigung. Beide Abschnitte enthalten Kritik, an der Stadt sowie am Tempelbetrieb. Jesus übt jüdische Kritik an der Stadt und am Tempel, also Selbstkritik. Eine textgerechte Predigt ist daher nicht Israelkritisch, sondern selbstkritisch in Bezug auf uns Christen und - als Thema am Israelsonntag: - unser Verhältnis zu Israel. Die Juden haben am 7. August 2003, dem 9. Av 5763 nach jüdischem Kalender, der Tempelzerstörung gedacht. Gliederung der Predigt:: 1. Ein Gang durch den Text 2. Jesu Liebe zu Jerusalem und zum Tempel 3. Haben wir erkannt, was dem Frieden dient?Liebe Gemeinde,
„Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ – klagende Worte, mit Schmerzen gesprochen. Sprechen sie uns nicht aus der Seele? Stehen uns doch die Bilder von Krieg und Zerstörung vor Augen! Fallen uns doch viele Namen ein, die wir an die Stelle dieses „du“ setzen könnten, Namen von Städten, Ländern, Nationen. Aber ist es das, was Jesus meint? Hören wir zunächst darauf, was uns das Evangelium sagt.
1. Ein Gang durch den Text
In unserem heutigen Abschnitt aus dem 19. Kapitel des Lukasevangeliums kommt ein langer Weg an sein Ziel: die Wanderung Jesu nach Jerusalem. Auf einem Eselchen reitet er von Betfage über die Anhöhe des Ölbergs. Am Abhang, im Angesicht der Stadt, beginnen seine Jünger zu jubeln. Doch Jesus bricht beim Anblick der Stadt in Weinen aus. So hat die Witwe von Nain geweint, als auch noch ihr Sohn gestorben war (Lukas 7,13). So hat die Sünderin geweint, als sie Jesus die Füße gesalbt hat (Lukas 7,38). Und so werden die Töchter Jerusalems weinen, wenn sie Jesus auf dem Weg nach Golgatha folgen (Lukas 23,28). Jesus weint wie eine trauernde Frau, laut und bitterlich klagend.
Warum weint Jesus so sehr? Beklagt er sein nahes Ende? Nein, kein Wort davon. Er weint um die Stadt und ihre Kinder. „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.“ Wir haben schon festgestellt, dass wir hier viele andere Namen einsetzen könnten. Was ist das Besondere an Jerusalem? Jesus sagt: „… weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“
Das ist nun wirklich etwas Besonderes: Gott sucht diese Stadt heim. Wir dürfen bei diesen Worten nicht gleich an etwas Bedrohliches denken. Heimsuchen kann in der Bibel auch etwas Positives sein. So heißt es im 1. Buch Mose (21,1+2): „Und der HERR suchte Sara heim … Und Sara ward schwanger und gebar dem Abraham in seinem Alter einen Sohn …“ Und im selben Buch lesen wir die Worte Josefs an seine Brüder, als er auf dem Sterbebett lag (1. Mose 50,24): „… Gott wird euch gnädig heimsuchen und aus diesem Lande führen in das Land, das er Abraham, Isaak und Jakob zu geben geschworen hat.“
In unserer Geschichte meint Jesus seinen eigenen Besuch in Jerusalem und im Tempel. Die Stadt erkennt nicht, dass Jesus gekommen ist um Frieden zu bringen, Frieden von und mit Gott. Denn in der Stadt steht der Tempel, die Wohnung Gottes. ‘Gott ist doch immer bei uns’, davon waren viele Jerusalemer überzeugt. Darum erkennen sie nicht, wer da auf diesem Eselchen zu ihnen geritten kommt. Es ist vor ihren Augen verborgen, sagt Jesus. Sie können nicht anders. Sie können nicht einmal etwas dafür. Das Unabänderliche daran macht Jesus so traurig.
Zwei schlimme Folgen hat dieses Nicht erkennen: die Kreuzigung und die Zerstörung der Stadt. Unser Abschnitt redet nur von der zweiten. Weil du zu dieser Zeit nicht erkannt hast, was zum Frieden dient, wird eine Zeit kommen, in der du belagert und zerstört werden wirst, sagt Jesus in Anblick der Stadt. Eine schreckliche Prophezeiung. Der Geschichtsschreiber Josephus Flavius berichtet in seinem Buch über den Jüdischen Krieg, wie Jerusalem und der zweite Tempel vierzig Jahre später tatsächlich zerstört wurden.
Christen haben die Zerstörung Jerusalems lange Zeit als Strafe für die Kreuzigung Jesu gedeutet und das jüdische Volk schuldig gesprochen an seinem eigenen Schicksal. Das Lukasevangelium sieht dies anders. Der Grund für die Zerstörung wie auch für die Kreuzigung ist, dass die Stadt die Zeit nicht erkannt hat, in der sie heimgesucht worden ist. Diese Zeit ist begrenzt auf die Zeit, in der Jesus in der Stadt ist. Es geht hier nicht um Schuld, sondern um eine verpasste Chance. Damit wissen wir aber noch nicht alles, was der Text uns zu sagen hat. Er geht noch weiter.
Jesus geht in den Tempel und fängt an die Händler auszutreiben. Anders als bei Matthäus und Johannes tut er dies nach dem Bericht des Lukas nicht durch Gewalt, sondern allein durch das Wort. Und zwar durch das biblische Wort der Propheten Jesaja und Jeremia. „Es steht geschrieben:“ so sagt er zu den Händlern, „‘Mein Haus soll ein Bethaus sein’ (Jesaja 56,7) ihr aber habt es zur ‘Räuberhöhle’ (Jeremia 7,11) gemacht.“ Das genügt. Danach lehrt Jesus täglich im Tempel. Und das ganze Volk hängt ihm an und hört ihn.
Wenn wir darauf hören, was jüdische Gelehrte heute über die Zeit damals sagen, so erfahren wir, dass Jesus nicht der einzige war, der Anstoß daran nahm, wie es im Tempel zuging. Weite Teile des jüdischen Volkes waren mit den Priestern nicht mehr zufrieden. Denn diese hatten nicht nur die wichtigsten religiösen Ämter inne. Sie hatten auch weltliche Posten im Tempel an Familienmitglieder vergeben und so ihre Macht vermehrt: Verwalter, Schatzmeister, Schreiber, Wachen. Und sie machten gemeinsame Sache mit den Römern.
Im Volk gab es verschiedene Gruppen, die damit nicht einverstanden waren und die für eine andere Art von Gottesdienst warben, für Gebete, Gottes- und Nächstenliebe statt Opfer. Die Essener waren so eine Gruppe, aber vor allem die Pharisäer. Und natürlich Jesus und seine Jüngerschar.
So verstehen wir auch, dass das Volk zu Jesus hielt und dass er nach der Tempelreinigung unbehelligt im Tempel lehren konnte. So hat er den Tempel wieder seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt: Bethaus und Lehrhaus, Haus Gottes zu sein. Bereits als Zwölfjähriger hatte Jesus zu seinen Eltern gesagt (Lukas 2,49): „Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Und dort, beim zwölfjährigen Jesus, erfahren wir auch etwas über seine Methode zu lehren: Er sitzt im Tempel, mitten unter den Lehrern, hört ihnen zu und fragt sie. Schon damals verwunderten sich alle, die ihm zuhörten, über seinen Verstand und seine Antworten.
2. Jesu Liebe zu Jerusalem und zum Tempel
So ist Jesus also kein Gegner des Tempels und kein Feind Jerusalems. Im Gegenteil: Er liebt die Stadt so sehr, dass er über ihr kommendes Schicksal bittere Tränen vergießt. Und er macht den Tempel zu dem, was er nach Gottes Willen sein soll: ein Bet- und Lehrhaus, in dem sich das Volk versammelt. Nichts anderes wollen auch die Pharisäer und viele Menschen im Volk. Jetzt verstehen wir, dass das Volk auf der Seite Jesu steht, dass die Pharisäer in den Hintergrund treten und dass die wirkliche Gefahr für Jesus eindeutig von der Priesterschaft im Tempel und von den mit ihnen verbündeten Gelehrten und Politikern ausgeht. Sie werden ihn ausliefern.
Woran erkennen wir, dass Jesus die Stadt, in der er gekreuzigt wird, und den Tempel liebt? Lukas gibt uns eine ganze Reihe von Hinweisen. Jesus weint um die Stadt und ihre Kinder wie man um jemanden weint, den man liebt. Er spricht dabei nicht über sie, sondern mit ihr. Er steht also in persönlicher Beziehung zu dieser Stadt und bleibt dies auch. Er geht direkt in den Tempel, um in dem zu sein, was seines Vaters ist. Mit Worten und nicht durch Gewalt gibt er dem Tempel seinen eigentlichen Sinn wieder. Jesus bleibt im Tempel, wo er lehrt, und in der Stadt, bis er stirbt, und verlässt sie nicht. Damit ist seine Beziehung zu Jerusalem aber nicht beendet. Lukas berichtet uns, dass der Auferstandene seinen Jüngern in Jerusalem erschienen ist, sie ermahnt hat, die Stadt nicht zu verlassen und vom Ölberg gen Himmel gefahren ist. Und dass zwei Engel zu ihnen gesagt haben, er würde so wieder kommen, wie sie ihn haben gen Himmel fahren sehen.
3. Haben wir erkannt, was dem Frieden dient?
„Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“ Wir sind mündige Bürger einer Demokratie mit Religions-, Presse- und Meinungsfreiheit, mit einer Regierung, die den Frieden und die Verständigung mit allen Staaten sucht. Diese Worte Jesu können wir oft nachsprechen in einer friedlosen Welt. Manchmal setzen wir auch den Namen ein, der ursprünglich hier her gehört: Jerusalem, Israel. Das Schicksal der Menschen in diesem umkämpften Land lässt keinen von uns unberührt. In der kirchlichen Presse und in vielen kirchlichen Kreisen ist es Dauerthema. Manchmal reizt es sogar zum Zorn und zu harten Worten über die Unversöhnlichkeit in diesem Konflikt. Dann verfallen wir leicht in die alten Vorwürfe von Christen gegen Juden, in Schuldzuweisungen und Verurteilungen.
Wir sind in unserem politischen Urteil mündige Demokraten. Dass wir Christen sind bedeutet jedoch, Jesus will unser Herr sein in allen Lebensbereichen. Er will, dass wir uns bei dem, was wir sagen und tun, an dem orientieren, was er gesagt und getan, auch für uns getan hat.
Aus dem Evangelium des Lukas erfahren wir von der Verbundenheit Jesu mit der Stadt Jerusalem, dem Tempel und dem Volk. Er klagt über das Schicksal der Stadt, klagt sie jedoch nicht an und verurteilt sie nicht. Er bleibt vielmehr in Beziehung zu ihr, nicht nur als Mensch bis zum bitteren Ende, sondern auch als der Auferstandene, der gen Himmel Gefahrene und als der, der einst von dort wieder kommen wird. Er bleibt den Menschen freundlich zugewandt und lehrt sie. Missstände bekämpft er nicht durch Gewalt, sondern durch das prophetische Wort. Seine Jünger ermahnt er, die Stadt nicht zu verlassen.
Wir haben diese Haltung Jesu zu Jerusalem in dem Wort Liebe zusammengefasst. Wir können sie auch als Solidarität bezeichnen. Solidarität bedeutet: Auch wenn uns nicht alles an dir gefällt, auch wenn wir manches an dir auszusetzen haben, wir klagen dich nicht an, wir verurteilen dich nicht, wir geben dich nicht auf, wir verlassen dich nicht, wir stehen zu dir, du kannst auf uns zählen. Wenn wir so zu der Stadt Jerusalem sprechen können, in der heute zwei Drittel Juden und ein Drittel Araber wohnen, und trotz der Probleme, die sie einander bereiten, solidarisch bleiben mit der Stadt und ihren Bewohnern, dann haben auch wir erkannt, was dem Frieden dient.
Amen.