„…so wird die Hoffart außen bleiben“
Eine Predigt von Martin Luther mit einem Nachwort von Heinz Janssen
I. Die Pharisäer und die Zöllner
Unser lieber Herr Jesus Christus hat uns in diesem Evangelium an diesen zwei Personen, am Pharisäer und Zöllner, eine Lehre vorgehalten. Die Pharisäer waren bei den Juden gleichwie im Papsttum die Mönche, hatten besondere Kleidung, besondere Tage zum Fasten und Beten und trieben so viel Heiligkeit, dass die anderen Menschen eitel Sünder gegen sie waren. Daher hatten sie auch den Namen, dass sie »Pharisäer« hießen: die sich aussondern aus der Allgemeinheit und etwas Besonderes sein wollen.
Dagegen hatten die Zöllner die Zölle und Steuern und anderes um ein festgesetztes Geld von den Römern erstanden und angenommen, schunden und erpressten danach die Menschen, wie sie wollten. Darum wurden sie von jedermann für habsüchtige Menschen und öffentliche Sünder gehalten, die ein solches Amt hätten, darin sie gierig nach Geld trachteten und den Menschen alle Plage zufügten. Darum war es nicht zu vermuten, dass einer unter ihnen fromm wäre, gleichwie nicht zu vermuten war, dass einer unter den Pharisäern ein Bösewicht wäre.
Aber unser lieber Herr Christus fällt hier ein ganz anderes Urteil: er sagt, der Zöllner sei fromm und gerecht, der Pharisäer aber sei ein Sünder, dazu ein sehr großer, schändlicher Sünder. Denn Lukas macht es sehr verdrießlich und unerfreulich, dass es zu verwundern ist. Denn so fängt er dieses Gleichnis an: »Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, dass sie fromm wären, und verachteten die anderen.«
Das ist ja eine verdrießliche Rhetorik und das sind ja zwei hässliche Untugenden der Pharisäer, dass sie solche Menschen waren, die nicht allein von sich selbst viel hielten, was Sünde genug gewesen wäre (denn es ist eine teuflische Sünde, sich selbst für heilig und hoch zu halten), sondern sie verachteten auch die anderen. Da denke du, was es einem solchen stolzen Tropf und Heuchler helfen soll, wenn er sich gleich zu Tode betet und fastet? Denn ihm sitzt ein solcher Teufel im Herzen, mit einer solchen Hoffart, dass er sich selbst aufbläst und sagt:
Wenn ich mich nicht selbst heilig machte, so müsste ich lange auf unseren Herrgott warten. Aber da faste ich so viel, da bete ich so viel, da tue ich dies, da das, was andere Juden nicht tun. Ich gebe meinen Zehnten treulich, wenn die anderen den Priestern nichts als Stroh und Stoppeln geben könnten, sie tätens. Aber ich bin nicht so, ich bin frömmer usw.
So kommen die zwei greulichsten Untugenden in dem „heiligen“ Mann zusammen: erstens eine grässliche Hoffart, dass er so hoch vermessen ist, zweitens dass er an solcher Sünde nicht genug hat, sondern auch andere Menschen so tief verachtet. Das ist der leidige Teufel, dass er sich so hoch erhebt und damit nicht zufrieden ist, sondern auch zufährt und die anderen richtet und verdammt und sagt:
Sie sind nichts als Räuber, Ungerechte und Ehebrecher. Besonders nimmt er sich den Zöllner zum Ziel. Der, sagt er, steht da, schindet und erpresst jedermann, nimmts, wo er kann. So ein arger Bube bin ich nicht; ich bin im Vergleich ein lebendiger Heiliger. Solcher Stolz und Hoffart ist auch vor der Welt ein sehr verdrießliches Laster, wie das allgemeine Sprichwort bezeugt, da man sagt: Bist du etwas, so sei es, aber lass andere Leute auch etwas sein. Wie kann denn solch Laster vor unserem Herrgott sein? Dem muss es tausend- und abertausendmal mehr entgegen sein, wo man gegen ihn vermessen und hoffärtig sein will.
II. Die rechte Gerechtigkeit contra Heuchelgerechtigkeit oder: Verlass dich nicht auf äußeren Schein
So geht dies Evangelium vornehmlich dahin, dass unser lieber Herr Christus uns vormalt, was da die rechte Gerechtigkeit sei und wie man sie von der Heuchelgerechtigkeit unterscheiden und erkennen soll. Als wollte er sagen: Du sollst wohl einen Mann finden, der als ein lebendiger Heiliger dahergeht, er fastet, er gibt Almosen, er bricht die Ehe nicht, tut niemand Unrecht, geht gern zur Predigt. Wer kann dies alles anders auslegen, alsdaß er ein frommer Mann sei?
Aber ich sage dir: willst du ihn recht erkennen, so musst du nicht auf solchen äußeren Schein sehen, den auch ein Bösewicht haben kann: sondern darauf musst du sehen, was es heiße, vor Gott gerecht sein. Denn dem äußerlichen Leben nach ist dieser Pharisäer so fromm, dass man wünschen sollte, es wäre alle Welt, wie er ist, soviel den äußerlichen Wandel anlangt. Aber das ist noch nicht genug. Denn einen solchen äußeren Schein kann auch ein Bösewicht haben. Deshalb verlasse dich nicht drauf. Denn hier siehst du, wie unter solchem heiligen Leben eine so große Teufelshoffart steckt.
Um solcher Hoffart willen konnte der Teufel nicht im Himmel bleiben, Adam und Eva konnten nicht im Paradies bleiben, wie sollte denn dieser in der Kirche bleiben?
Fasten ist recht, Beten ist recht, Zehnten geben ist recht, seine Ehe halten ist recht, nicht Rauben, niemand Unrecht tun, ist alles recht und gut an sich, aber der Pharisäer beschmutzts mit solcher Hoffart dermaßen, dass lauter Teufelsdreck draus wird.
III. „…auf dass jedermann demütig sein lerne und niemand verachte“
Der Herr beschließt nun das Evangelium so: »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden «, auf dass jedermann demütig sein lerne und niemand verachte. Denn das heißt Demut, dass ich von mir nichts, aber von anderen viel halte. Wer aber von sich selbst viel hält und denkt, wie er gelehrt, schön, reich, fromm sei, das heißt Hoffart, wie der Pharisäer tut. Das will der Herr verboten haben.
Dagegen sieht man an dem Zöllner keine Hoffart, sondern eine rechte Demut. Denn er rühmt gar nichts, sondern bittet nur darum, dass Gott ihm gnädig sein wolle. Das, spricht der Herr, lernet ihr auch, dass ihr saget: Ich kann mich nichts rühmen, denn ob ich schon mich rühmen wollte, ich wäre gelehrt, reich, mächtig, so kann unser Herrgott sagen: Lieber, woher hast du es? Hast du es von dir selbst? Nein. Woher denn? Ist es nicht mein Geschenk? Ja, Herr, dein ist es. Warum rühmst du dich denn? Sollte jemand sich rühmen, so sollte ich es tun, der ich dir alles gebe. Du sollst es nicht tun, sondern solltest sagen: Ob ich schon reich bin, so weiß ich doch, dass du mich in einer Stunde arm machen kannst; ob ich weise und gelehrt bin, so kannst du mich mit einem Wort zum Narren machen. Das hieße demütig sein und sich nicht selbst brüsten und andere verachten deshalb, weil du schöner, frömmer, reicher bist als andere.
„…lernen, uns an seine Gnade und Barmherzigkeit zu halten“
In der Welt muss die Ungleichheit der Personen, Stände und Gaben bleiben, dass einer mehr und höher als der andere gehalten wird. Aber deshalb sind wir vor unserem Herrgott nicht ungleich. Denn weil bei ihm nichts als Gnade gilt, ist es unmöglich, dass jemand sich vor ihm rühmen und stolz sein könnte. Alle sollen sie sich demütigen und wissen, obgleich wir untereinander ungleich sind, wird Gott deshalb nicht ungleich. Er hat kein anderes Auge auf den, der viel hat, als auf den, der wenig hat. So sollen wir alle lernen, uns an seine Gnade und Barmherzigkeit zu halten. Denn beide, Gerechte und Sünder, Reiche und Arme, Starke und Schwache sind unseres Herrgotts. Was sie haben, das haben sie alles von ihm, von sich selbst aber nichts als Sünde.
Deshalb soll sich keiner über den anderen erheben, sondern sich demütigen und, fürchten. Was aber Gutes da ist, ist alles unseres Herrgotts Gabe, der soll davon rühmen, du nicht, sondern sollst es mit Danksagung und in der Furcht Gottes gebrauchen. Denn er kann kein Stolzieren, kein Pochen noch Trotzen leiden.
Gott ist kein ungleicher Gott
Gleich aber wie niemand sich seiner Frömmigkeit oder anderer Gaben halber überheben soll, so will Gott ebensowenig, dass du verzweifeln solltest, wenn du findest, ein wie armer Sünder du bist. Sondern du sollst auf seine Güte trauen und dich seiner trösten und sagen: Wohlan, habe ich nicht so viel wie der oder jener, so habe ich doch ebendenselben Gott, der will mir auch gnädig sein. Deshalb will ich zufrieden sein, hingehen, meines Amtes und Standes in dem Maß warten, das Gott mir bescheret hat. Ich will niemand verachten, mich wegen keiner Sache überheben, will mich aber auch deshalb nicht bekümmern, dass andere mehr als ich haben. Denn mir genügt, dass ich eben den Gott habe, den sie haben, und dass Gott deshalb nicht ein ungleicher Gott ist, obschon wir Menschen untereinander ungleich sind.
Das meint der Herr, da er dies Gleichnis beschließt und sagt: »Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.«
Wenn der Pharisäer nicht so hoffärtig gewesen wäre, sondern in aller Demut Gott seine Gaben heimgetragen und gesagt hätte: Herr, du hast mir viel Gnade erwiesen, dass du mich vor dieser und anderen Sünden so gnädig behütet hast. Das ist deine Gabe, deren freue ich mich; ich überhebe mich aber deswegen nicht, verachte deshalb auch niemand, denn du kannst es wieder nehmen, wenn du willst usw. Dann hätte ihm Gott von Tag zu Tag noch mehr Gaben gegeben und ihm nicht feind sein können.
Weil er aber damit Hoffart treibt und andere deswegen richtet und verachtet und sagt: Ich bin alles, der Zöllner ist nichts; da zieht ihn unser Herrgott so völlig aus, dass nichts mehr an ihm bleibt, was zu loben wäre. Denn da steht unseres Herrn Christi Urteil: Der Zöllner ging gerechtfertigt hinab vor jenem, das heißt: der Pharisäer ist ungerecht, verdammt und gehört in die Hölle zum Teufel. Was hat er nun von seinem Rühmen? Der Zöllner aber, der da spricht: »Gott, sei mir gnädig!«, wird ein Heiliger in der Kirche und hat einen gnädigen Gott, so wie er betet.
Erkennen, was wir vor Gott sind
Das will Christus uns alle lehren, dass wir von Tag zu Tag erkennen sollen, was wir sind und haben: hast du Geld, gesunden Leib, Haus und Hof: gebrauche das, ich gönne dirs und gebe dirs gern und will dir noch mehr geben; nur rühme dich nicht deshalb und verachte keinen lebendigen Menschen. Denke daran, wenn du einen siehst, der nicht hat, was du hast, dass er ebenso wie du einen gnädigen Gott haben kann. Deshalb verachte ihn nicht, lasse ihn neben dir gehen, so wird Gott von beiden gepriesen, wo sonst die falschen Heiligen Gott verunehren und schmähen, wenn sie es auch nicht mit dem Munde und öffentlich tun.
“Gott, ich danke dir“ – ein ambivalentes Gebet
Denn wer bloß nach dem Wort urteilen wollte, der muss sagen, dass es nicht unrichtig ist, wenn der Pharisäer hier sagt: »Gott, ich danke dir.« Denn solche Worte gebrauchen die rechten Heiligen in ihrem Gebet auch, aber mit einem anderen Herzen.
Denn wenn sie Gott für etwas danken, bekennen sie damit, es sei sein Werk und Gabe, sie haben es nicht von sich selbst. Aber das ist des Pharisäers Meinung nicht, sonst würde er gesagt haben: Dass ich kein Ehebrecher, kein Räuber noch Ungerechter bin, Herr, das habe ich niemand als dir zu danken; von mir aus, wo es außerhalb deiner Gnade gewesen wäre, würde ich mich ebenso verhalten haben wie andere Menschen.
Denn wir sind alle gleich, einer darf sich nicht mehr als der andere zu sein rühmen. Aber so denkt dieser Pharisäer nicht, sondern kehrts um und sagt: »Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute.« Er bezieht also alle seine Tugend auf sich selbst, als hätte er sie aus sich selbst und nicht von Gott; denn sonst würde er ja sagen: Du hast es gegeben. Das tut er nicht, stellt sich nicht anders, als sei er so reich und könne Gott etwas geben. Er dankt also nicht Gott, sondern sich selbst, seiner Vernunft, seinem freien Willen und Kräften, dass er so viel habe tun können.
Sich dankbar zu dem bekennen, was Gott uns gibt, und dabei die Demut bewahren
Nun ist es wahr: wem Gott etwas Besonders gibt, der soll es erkennen und hochachten. Denn was sollte das sein, dass du leugnen wolltest, du wärest gelehrter oder besser als ein Esel oder ein anderes unvernünftiges Tier? Wem Gott Geld und Gut bescheret, der soll also nicht so unvernünftig sein, dass er sagen wollte: Ich bin ein armer Bettler und habe nichts. Wer etwas Gutes getan, armen Menschen geholfen und geraten hat, soll das auch nicht leugnen, so dass er sagt:
Ich habe nichts Gutes getan. Nein, so soll es nicht sein, Gottes Gaben soll man erkennen, rühmen und hochhalten.
Aber daneben soll man sich demütigen und sagen: Mein Gott, es ist dein und nicht mein; du hast es gegeben, sonst müsste ichs ebenso gut wie andere entbehren, ich danke dir dafür. Das wäre recht getan, dass ein jeder sich demütige.
Allen ein gnädiger Gott
Aber unseres Herrgotts Güter soll man nicht klein noch gering achten, sondern erkennen und groß achten und doch nicht dabei stolz werden noch andere verachten, sondern du sollst, wie nun oft festgestellt, sagen: Lieber Gott, es ist deine Gabe, die du mir gegeben hast. Wenn ein anderer sie nicht hat, das schadet nichts, denn er hat doch ebenso wie ich einen gnädigen Gott, weshalb wollte ich ihn denn verachten? Solche Demut will der Herr uns im heutigen Evangelium lehren und uns vor Hoffart und Stolz warnen. Denn es ist beschlossen: Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedrigt werden.
Darum, so lerne, dass du sagest: Herr, was ich habe, das ist dein, du hast mirs gegeben, kannst mirs auch wieder nehmen, so wird die Hoffart außen bleiben. Denn wer wollte auf etwas Ungewisses pochen? Wer aber das nicht tut und sich dafür halten will, als habe er es alles von sich selbst, der findet hier sein Urteil, dass Gott ihn so völlig ausziehen will, dass er nichts behalten und noch dazu ungerecht und des Teufels sein soll.
Gott gebe seine Gnade, dass wir solche Lehre merken und uns danach halten, Amen.
(aus: K. Aland, Luther Deutsch. Die Predigten, Bd. 8., 2. Aufl., Stuttgart 1965, S. 329-335. – Überschrift und Zwischenüberschriften von Heinz Janssen,
redaktion@predigtforum.de)
Nachgedacht – Zu Martin Luthers Predigt über Lukas 18,9-14 von Heinz Janssen, redaktion@predigtforum.de
Martin Luthers Predigt über Lukas 18,9-14 lässt sich in drei Teile gliedern: Die Pharisäer und die Zöllner (I) – Die rechte Gerechtigkeit contra Heuchelgerechtigkeit (II) – Demut „…auf dass jedermann demütig sein lerne und niemand verachte“ (III).
I.
Der Prediger entfaltet wie in einem Gemälde die „Lehre“ des Evangeliums, wie sie Jesus Christus an den beiden Personen(gruppen) Pharisäer und Zöllner uns „vorgehalten“ hat.
Die Predigt beschreibt in allen drei Teilen vielfältig, gleichsam in immer wieder neuen Pinselstrichen, was den „Pharisäer“ und „Zöllner“ damals und heute in uns ausmacht. Die Sprache ist provozierend, rhetorisch eindrucksvoll, argumentierend, auf Überzeugung bedacht. Möge sich der Pharisäer „zu Tode beten und fasten“ – es wird dem „stolzen Tropf und Heuchler“ nichts helfen. Seine „Hoffart“ (seine Anmaßung, fromm zu sein) und die Verachtung, mit der er auf andere Menschen herabsieht, macht aus seiner ganzen praxis pietatis „lauter Teufelsdreck“.
II.
Nicht sich von dem „äußeren Schein“ blenden lassen, sondern darauf achten, „was es heiße, vor Gott gerecht sein“ – dazu ruft Martin Luther im zweiten Teil seiner Predigt auf. Diese Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, verträgt sich nicht mit Selbstüberhebung („Hoffart“) und Menschenverachtung, sondern ihr entspricht auf Seiten des Menschen die „Demut“.
III.
Das Wesen der Demut, wie sie Martin Luther in V.14 („Wer sich selbst erhöht…“) umschrieben sieht, ist Thema des dritten Predigtteils. „Denn das heißt Demut, dass ich von mir nichts, aber von anderen viel halte“. Demut ist das Gegenteil von „Hoffart“. Die „rechte Demut“ wird in der Haltung des Zöllners anschaulich, der sich nicht „rühmt“, sondern nur um Gottes Gnade bittet. Denn alles was ein Mensch rühmen könnte – es ist nicht sein Verdienst, sondern Gottes Geschenk. Das Zwiegespräch zwischen Mensch und Gott an dieser Stelle gibt der Predigt eine starke Lebendigkeit und Eindringlichkeit:
„Das, spricht der Herr, lernet ihr auch, dass ihr saget: Ich kann mich nichts rühmen, denn ob ich schon mich rühmen wollte, ich wäre gelehrt, reich, mächtig, so kann unser Herrgott sagen: Lieber, woher hast du es? Hast du es von dir selbst?
Nein.
Woher denn? Ist es nicht mein Geschenk?
Ja, Herr, dein ist es.
Warum rühmst du dich denn? Sollte jemand sich rühmen, so sollte ich es tun, der ich dir alles gebe. Du sollst es nicht tun, sondern solltest sagen: Ob ich schon reich bin, so weiß ich doch, dass du mich in einer Stunde arm machen kannst; ob ich weise und gelehrt bin, so kannst du mich mit einem Wort zum Narren machen.“
Gott „hat kein anderes Auge auf den, der viel hat, als auf den, der wenig hat“, hebt Martin Luther hervor. Hier im dritten Predigtteil hat Martin Luther einen Reflektionsgang über „Ungleichheit“ und „Gleichheit“ eingeschoben, der in eine kleine „Theologie“ mündet, in ein Reden von Gott, „bei dem nichts als Gnade gilt“. In der Welt gibt es zwar Unterschiede, „die Ungleichheit der Personen, Stände und Gaben“, aber Gott ist „nicht ein ungleicher Gott“. Gottes Gnade ist allen Menschen zugewandt. Darum sollst du nicht „verzweifeln“, „wenn du findest, ein wie armer Sünder du bist“, sondern „du sollst auf seine Güte trauen und dich seiner trösten und sagen: Wohlan, habe ich nicht so viel wie der oder jener, so habe ich doch ebendenselben Gott, der will mir auch gnädig sein…Ich will niemand verachten, mich wegen keiner Sache überheben, will mich aber auch deshalb nicht bekümmern, dass andere mehr als ich haben. Denn mir genügt, dass ich eben den Gott habe, den sie haben, und dass Gott deshalb nicht ein ungleicher Gott ist, obschon wir Menschen untereinander ungleich sind“.
So geht es dem Prediger – in Verbindung mit dem Hinweis auf die Ambivalenz des „Gott, ich danke dir“ des Pharisäers – um die Erkenntnis dessen, was wir von Gott haben, in alledem um die Bewahrung der Demut und die Erkenntnis von Gottes Gottsein, der der gleiche Gott für alle ist.
Das Gebet, das Martin Luther am Ende seiner Predigt bringt, kann auch heute helfen, den Weg der Demut zu gehen und Gott und den anderen Menschen gerecht zu werden (in V.9 steht im griechischen Urtext dikaios vgl. hebräisch zädäq, was Martin Luther mit „fromm“ übersetzte!):
„Lieber Gott, es ist deine Gabe, die du mir gegeben hast. Wenn ein anderer sie nicht hat, das schadet nichts, denn er hat doch ebenso wie ich einen gnädigen Gott, weshalb wollte ich ihn denn verachten?“
Eine persönliche kritische Bemerkung:
Als heutiger Leser der Predigt von Martin Luther vermisse ich eine Würdigung des Pharisäers, den es zur Zeit Jesu a u c h gab: den Menschen, der in der Auseinandersetzung mit Jesus um die rechte Auslegung der Thora und einen gelebten Glauben bemüht war. Die sprichwörtlich negative Rede vom Pharisäer (leider auch wieder in dem neuen Jesus-Film von Mel Gibson) bedarf der Revision, auch und besonders im Hinblick auf das so notwendige christlich-jüdische Gespräch, den Dialog mit „unseren älteren Schwestern und Brüdern“.