Wir Pharisäer und Zöllner

Predigttext: Lukas 18, 9-14
Kirche / Ort: Melanchthonkirche / Heidelberg
Datum: 31.08.2003
Kirchenjahr: 11. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Dr. Herbert Anzinger

Predigttext: Lukas 18,9-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Er (Jesus) sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die anderen, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Exegetische und homiletische Vorbemerkungen

Das Gleichnis von Pharisäer und Zöllner gehört zu den Texten der Bibel, deren Wirkung im Lauf der Kirchengeschichte nahezu ins Gegenteil verkehrt wurde. Statt wie zur Zeit Jesu zu provozieren, bestätigt es eingefahrene Klischees und bedient gar noch antisemitische Vorurteile. Jedenfalls muss in der Predigt klar werden, dass die Darstellung des Pharisäers eine Karikatur ist, die der Realität der pharisäischen Frömmigkeit nicht gerecht wird. Außerdem merken wir oftmals gar nicht mehr, dass wir uns zwar mit dem Zöllner identifizieren wollen, uns aber verhalten wie die Karikatur eines Pharisäers. So als würde der Zöllner beten: „Lieber Gott, ich danke dir, dass ich nicht so heuchlerisch bin wie dieser scheinheilige Pharisäer“. Sind wir denn wirklich ganz frei von der Versuchung, andere, die „mit Kirche nichts am Hut haben“, für Menschen zweiter Klasse, für moralisch zweifelhaft zu halten? Die Provokation Jesu würde uns treffen, wenn wir uns als Kirchgänger mit dem Pharisäer des Gleichnisses identifizieren würden. Dies soll die Predigt sichtbar machen. Gleichzeitig soll sie aber nicht unterstellen, dass die Kirchgänger mit dem Pharisäer identisch sind. Eine Gradwanderung! Vielleicht kann sie leichter gelingen, wenn ich mich als Prediger nicht von den Gottesdienstteilnehmern isoliere, sondern mich in ihre Mitte stelle, indem ich zwischen „ich“ und „wir“ changiere. Das Gleichnis entstammt dem lukanischen Sondergut und wendet sich an Menschen, „die sich anmaßten, fromm zu sein“, gleichzeitig aber andere verachteten. Es bleibt offen, ob damit Gegner Jesu gemeint sind oder ob es sich um eine Polemik handelt, die auf Fraktionen innerhalb der (lukanischen) Gemeinde zielt, die sich für besser als andere Christen hielten. Wie auch immer: Das Gleichnis kann insofern auch als Aufforderung zur Toleranz gegenüber solchen gelesen werden, die bestimmten Frömmigkeitsstandards nicht zu genügen scheinen. Wer auf andere verachtungsvoll herunterschaut, kann nicht fromm im Sinne Jesu sein. Bei all dem ist es mir aber wichtig, den Text nicht als Gesetz, sondern als Evangelium zur Sprache zu bringen. Das ist nicht ganz einfach, weil das Gleichnis die implizite Aufforderung enthält, sich so wie der Zöllner zu verhalten, sich Gott also in der Haltung der Demut anzuvertrauen, ohne eigene Verdienste ins Spiel zu bringen. Während die voranstehende Parabel vom ungerechten Richter und der hartnäckigen Witwe (Lk 18,1-8) die Leser von der Wichtigkeit überzeugen will, im Gebet nicht nachzulassen, geht es hier um die innere Haltung, die der Beter einnehmen soll. Der abschließende Vers 14b, ein unabhängiges Jesuswort, das Lukas bereits in 14,11 zitiert hatte, unterstreicht noch einmal, dass sich Christi Nachfolger nicht selber erhöhen (müssen); Gott selber wird sie im Jüngsten Gericht erhöhen. Von dieser Voraussetzung her kann das Gleichnis als Evangelium entschlüsselt werden. Denn angesichts dieser Vorgabe Gottes kann es nur darum gehen, empfänglich für Gott zu sein – wie die Kinder, mit deren Geschichte Lukas den markinischen Erzählfaden wieder aufnimmt (Lk 18,15-17 // Mk 10,13-16). Tatsächlich sind wir beides: Pharisäer und Zöllner. Mal mehr das eine, mal mehr das andere. Wir können darauf vertrauen, dass Gott unseren religiösen Hochmut wie unsere moralische Schuld vergibt, wenn wir ihn darum bitten.

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Was würde Jesus heute sagen?

Manchmal frage ich mich, was Jesus heute sagen würde, wenn er leibhaftig unter uns wäre. Was er zu unserer Kinder- und Jugendarbeit sagen würde. Wie er meinen Religionsunterricht oder meine Konfirmandenarbeit beurteilen würde.

Ich glaube schon, dass er sich mit uns über gelungene Jugendgottesdienste freut oder über die Arbeit mit Behinderten. Aber es wird auch manches geben, wo er vielleicht bedenklich die Stirn runzeln würde.

Ob er damit einverstanden wäre, dass wir soviel Zeit in Sitzungen und Gremienarbeit zubringen? Ob es ihm gefallen würde, dass seine Gemeinde sich manchmal eher als religiöser Verein denn als Kirche benimmt, dass es Intrigen und Machtspiele auch bei seinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen gibt wie anderswo auch?

Was würde er zu unserer landeskirchlichen Spar- und Personalpolitik sagen? Würde er sich mit uns über unser Gemeindefest freuen? Würde er den Gemeindebrief gerne durchlesen? Würde er am Sonntag gerne in die Kirche, in meine Kirche kommen? Wie würde er meine Predigt finden? Was würde Jesus heute zu uns Gottesdienstteilnehmern sagen, wenn er leibhaftig hier in unserer Mitte wäre?

Jesu notwendige Provokation

Dass Jesus kein Blatt vor den Mund nahm, dass er kein Leisetreter war, dass er manchmal auch Menschen auch bittere Wahrheiten an den Kopf schleudern, dass er provozieren konnte, das lesen wir in den Evangelien immer wieder.

Die Schriftgelehrten werden nicht gerade begeistert gewesen sein, als sie hörten, Jesus habe sie als Schlangen und Otterngezücht bezeichnet. Dass er sie als Heuchler und blinde Blindenführer darstellte, das werden sie als unverschämte Beleidigung empfunden haben. Sicher hat er oft hart und vernichtend geurteilt. Aber war das nicht notwendig, um den Finger in die Wunde zu legen?

Die Gefahr der Heuchelei

Wir neigen dazu, Jesus zuzustimmen, weil wir uns durch seine Kritik nicht angesprochen fühlen. Weil wir auf seiner Seite stehen. Weil wir als Christen so leben, wie er es gefordert hat. Oder uns jedenfalls darum bemühen.

Schließlich sind wir heute hier in der Kirche, weil wir uns seiner Botschaft verpflichtet fühlen. Weil wir wissen, dass ein Leben, das sich an seiner Botschaft ausrichtet, uns und anderen Menschen gut tut. Darum trifft die Kritik Jesu die anderen. Die, die meinen, sie kämen auch ohne Kirche ganz gut aus. Die, die man nur an Weihnachten oder bei Hochzeiten in der Kirche antrifft. Die, die aus der Kirche ausgetreten sind, weil sie die Kirchensteuer sparen wollen. Von denen ganz zu schweigen, die den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und sich an gar nichts halten.

Ist es nicht immer so, dass wir uns auf der Seite der Guten sehen? Dass wir uns mit anderen vergleichen, weil wir bei solchen Vergleichen meinen, gut abzuschneiden? Jesus sah allerdings in solchen Vergleichen die Gefahr der Heuchelei. Er sah darin die Gefahr, dass wir andere Menschen verurteilen und verachten. Weil er diese Gefahr sah, darum erzählt er uns heute das folgende Gleichnis, das Lukas im 18. Kapitel seines Evangeliums, den Versen 9 bis 14, überliefert hat:

– Lesung des Predigttextes –

Pharisäer und Zöllner im heutigen gewöhnlichen Verständnis

Die Geschichte ist bekannt. Allzu bekannt. So bekannt, dass sie uns kaum noch irritiert. Der Pharisäer ist sprichwörtlich geworden für seine Heuchelei, obwohl Jesus ihn nicht der Heuchelei bezichtigt. Gerade als Kirchgänger wollen wir uns mit ihm nicht identifizieren. Wir erkennen uns lieber in dem Zöllner, der bescheiden und demütig seine Schuld vor Gott bringt. Zur Zeit Jesu war das freilich ganz anders. Auf die Zeitgenossen Jesu wirkte die Geschichte äußerst provozierend und sollte es auch. Um das zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, welches Ansehen Zöllner und Pharisäer damals genossen.

Zöllner und Pharisäer damals

Zöllner waren Menschen, die die Abgaben eines Bezirks für die römische Besatzungsmacht eintrieben: Marktzölle, Grenzzölle und verschiedene Arten von Steuern. Sie waren keine Beamten, sondern kleine Unternehmer. Die Zölle wurden an die Meistbietenden verpachtet. Und das führte dann manchmal auch dazu, dass die Zöllner oft wesentlich mehr verlangten, als sie an die Römer abführen mussten. Aber auch wenn man ihnen keinen Wucher vorwerfen konnte, so waren sie doch in jedem Fall Kollaborateure, die mit der verhassten Besatzungsmacht zu-sammenarbeiteten. Wenn ein Zöllner in den Tempel ging, um zu beten, dann war das verdächtig. Ihm war man eher geneigt, Heuchelei zu unterstellen. Denn warum sollte jemand das Gebet im Tempel suchen, der sich in seinem Alltag so wenig um Gottes Gebote scherte und sich ständig durch den Umgang mit den Heiden verunreinigte?

Anders die Pharisäer. Sie waren Mitglieder einer frommen Laienbewegung. Ihr Ziel war, die Gebote Gottes auch im Alltag zu erfüllen. Sie waren überzeugt, dass Religion nicht nur etwas für den Feiertag ist, sondern auch im Alltag gelebt werden muss. Deshalb waren sie bereit, auf einiges zu verzichten. Sie gaben konsequent den Zehnten – zehn Prozent von allem, was sie einnahmen. Sie fasteten zweimal die Woche am Montag und Donnerstag so wie Christen und Christinnen am Mittwoch und Freitag fasteten. Sie nahmen es mit ihrem Glauben ernst. Und deshalb galten sie in der Bevölkerung keineswegs als fromme Heuchler, sondern als redliche und aufrichtige Menschen, denen man Achtung entgegenbringen musste. Darum musste Jesu Darstellung des Pharisäers wie eine Karikatur wirken. Er legt ihm Worte in den Mund, die man so kaum erwarten konnte.

Worauf es Jesus ankommt

Jesu Provokation lag gerade darin, dass er dem verachteten Zöllner vor dem geachteten Pharisäer in seiner Geschichte den Vorzug gab. Warum tat er das? Jesus rechtfertigt weder das Tun des Zöllners noch weist er die Frömmigkeit des Pharisäers als heuchlerisch zurück. Es kommt ihm darauf an, dass wir unabhängig von unseren berechtigten oder unberechtigten Urteilen und Vorurteilen darüber nachdenken, in welcher Haltung wir Gott begegnen.

Die beiden Gebete unterscheiden sich darin, dass der Pharisäer sich mit anderen vergleicht, um umso besser dazustehen. Gott soll feststellen und anerkennen, dass er im Vergleich mit anderen der bessere Mensch ist. Der Zöllner dagegen hat nichts vorzuweisen. Er kommt als Bittsteller, als Bedürftiger zu Gott. Und darin bekommt er von Jesus recht. Seine aufrichtige Bitte „Gott, sei mir Sünder gnädig“ wird erfüllt. So bekommt er seine Würde und seinen Platz im Reich Gottes. Und weil Gott ihm seine Würde und seinen Platz zuspricht, deshalb muss er sich nicht ständig fragen: Bin ich gut genug? Bin ich besser oder schlechter als andere. Gott nimmt mich an, bevor ich etwas dafür tun kann, unabhängig davon, welchen Platz ich mir im Gerangel mit anderen erobern möchte oder schon erobert habe.

Sich von Gott angenommen wissen

Manchmal habe ich vielleicht mehr vom Pharisäer an mir, manchmal mehr vom Zöllner. Entscheidend ist aber nicht, womit ich mich vergleiche – denn auch der Zöllner, der sich auf seine Demut nun etwas einbilden würde, hätte sich dem Pharisäer in Jesu Beispielgeschichte gleichgestellt; entscheidend ist auch nicht, ob ich eher zu den eifrigen Gottesdienstbesuchern zähle oder zu den so genannten „treuen Kirchenfernen“, die es nur zu Weihnachten und an Hochzeiten in die Kirche zieht; entscheidend ist vielmehr, dass ich mich von Gott angenommen wissen darf mit all meinen Schwächen und Fehlern. Denn aus Gnade sind wir selig geworden, hieß es in der Schriftlesung zum heutigen 11. Sonntag nach Trinitatis (Epheser 2,8). Und darum können wir darauf vertrauen, dass Gott unseren religiösen Hochmut ebenso wie unsere moralische Schuld vergibt – wir brauchen ihn nur darum zu bitten.

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