Hefata – Öffne dich!
Hören und aus der Sprachlosigkeit finden
Predigttext: Markus 7,31-37 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)
31 Und als er (Jesus) wieder fortging aus dem Gebiet von Tyrus, kam er durch Sidon an das Galiläische Meer, mitten in das Gebiet der Zehn Städte. 32 Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, daß er die Hand auf ihn lege. 33 Und er nahm ihn aus der Menge beiseite und legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel und 34 sah auf zum Himmel und seufzte und sprach zu ihm: Hefata!, das heißt: Tu dich auf! 35 Und sogleich taten sich seine Ohren auf, und die Fessel seiner Zunge löste sich, und er redete richtig. 36 Und er gebot ihnen, sie sollten's niemandem sagen. Je mehr er's aber verbot, desto mehr breiteten sie es aus. 37 Und sie wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.Exegetische, homiletische und liturgische Hinweise
Der Text im synoptischen Horizont: Nur bei Markus findet sich diese ausführliche Geschichte von der Heilung eines Menschen, der taub und stumm war. Bei Matthäus sind die Stummen zusammen mit anderen Kranken in einem Summarium erwähnt (Matthäus 15,29-31 vgl. Mk 6,53-56). Markus seinerseits schließt die Heilungsgeschichte mit einer summarischen Bemerkung, die sich bestimmt auch auf die vorangehenden Heilungsgeschichten bezieht: „Er hat alles wohl (griechisch: kalos) gemacht; die Tauben (kophos = stumpf (!), stumm, taub) macht er hörend und die Sprachlosen redend“ (Markus 7,37). Heilungsgeschichten predigen: Über Heilungsgeschichten zu predigen, empfinde ich immer als eine besondere Herausforderung. Es fällt mir auf, dass in der Markus-Perikope das Wort „heilen“ nicht vorkommt (im Unterschied zu den Überschriften z.B. in der Luther-Übersetzung: „Die Heilung eines Taubstummen“). Wir hören über den zuerst tauben und stummen Menschen, dass sich seine Ohren auftaten, die Fessel seiner Zunge sich löste und er richtig redete. Auch in der vorangehenden Geschichte von der Syrophönizierin, die in Sorge um ihre Tochter ist, kommt das Wort „heilen“ nicht vor – und schließlich auch nicht in dem Summarium, Markus 6,53-56; in diesem ist davon die Rede ist, wie die einen Menschen die anderen, nämlich die kakos echontas (= Menschen, denen es schlecht ging), zu Jesus brachten – im festen Vertrauen darauf, dass schon ein „Berühren“ (‘aptomai) des Saumes des Gewandes Jesu ihnen helfen, sie „retten“ (sozein) würde. Und ist es nicht auffällig, dass eben das Wort ‘aptomai (Markus 6,56) auch in unserem Evangelium wieder vorkommt (Markus 7,33). Dort in Markus 6,56 waren es die Menschen, die Jesus berührten, hier in unserem Predigttext (Markus 7,33) ist es Jesus, der den Menschen berührt. Diese Beobachtung gab meiner Predigt den eigentlichen Impuls. Anregend war für mich auch, dass das griechische Wort ‘aptomai verschiedene Bedeutungsnuancen hat: Es kann (zärtlich) „berühren“ bedeuten, aber auch (mehr oder weniger energisch) „anfassen“, ergreifen“. Darf man auch innerbiblisch an jenen Vorgang denken, als ein Engel mit einer glühenden Kohle Mund und Lippen des Propheten Jesaja anrührt/berührt (Jesaja 6,6f.)? Meditative Impulse: Das Wort „berühren“ löst in mir persönliche Fragen aus: Was berührt mich - was rührt mich an - was ergreift, was packt mich – wo fühle ich mich (zu) hart angefasst – wo packe ich selbst an – wo ergreife ich die Gelegenheit – wo wage ich es, einen anderen Menschen, der mich braucht, zu berühren, ihn anzufassen, ihm wirklich zu begegnen? Kann ich vielleicht selbst dazu beitragen, dass dem Menschen, der zu mir gebracht wird bzw. plötzlich vor meiner Tür steht, (wieder) hören und richtig reden kann? Wann haben mich ein Bibelwort/eine biblische Geschichte, ein Gottesdienst, ein Lied, ein Gebet, eine Predigt "berührt"? Und das Wort "Tu dich auf!"/"Öffne dich!" ("Hefata" bzw. "Effata", ein Wort aus dem Aramäischen, der Muttersprache Jesu): Wer/was hat mich geöffnet, aufgeschlossen, von der Fessel befreit - was hat mich/ihn/sie verschlossen gemacht - wann verschließe ich mich/meinen Mund/mein Herz - wie kann ích anderen helfen, aus ihrer Isolierung/"Abkapselung" zu finden? Zur Liturgie: Für den Gottesdienst stelle ich mir Musik vor, die anregt, aufmerksam zu hören, eine Art meditative Musik. Auch die Lieder sollen mir helfen, mich zu öffnen, die Fessel meiner Zunge zu lösen. Wichtig die Begrüßung am Kircheneingang durch MitarbeiterInnen: Die Menschen sollen durch (unaufdringliches) Händereichen und Zuwenden spüren, dass sie willkommen sind. Im Gottesdienst suche ich nach einer Gelegenheit, bei der die GottesdienstteilnehmerInnen die Möglichkeit haben, einander sich zuzuwenden. Ich denke dabei besonders an das Abendmahl, zu dem ich gerade im Hinblick auf den Predigttext („berühren/begegnen“) einladen möchte – hier können wir uns einander mit einem Friedensgruß begegnen und zuwenden (z.B. „Gott berühre dich wohltuend“).Lieder
Auf und machet die Herzen weit (EG 454) Laudate, omnes gentes (EG 181.6) Brich mit den Hungrigen dein Brot (EG 420) Kommt, sagt es allen weiter (EG 225) Komm, Herr, segne uns (EG 170) Psalm 67Lesung:
Apostelgeschichte 9,1-9Liebe Gemeinde!
„Und sie brachten zu ihm einen, der taub und stumm war, und baten ihn, dass er die Hand auf ihn lege.“
I.
Taubsein, nicht hören, absolut keinen Laut. Hier geht es nicht um ein bewusstes, beabsichtigtes Schweigen. Es ist Stille um einen Menschen, Totenstille. Wie eine Wand, durch die kein Wort dringt, keine Musik, kein Wohlklang des Lachens, nichteinmal ein Schrei des Entsetzens. Keine Möglichkeit, auf Mitteilungen der Mitmenschen zu hören und dabei auf die so wichtigen Klangnuancen und Zwischentöne zu achten.
Und wir: Hören wir nicht genau heraus, was z. B. in einem Satz wie „Ich liebe Dich“ mitschwingt? Oder können wir nicht die von Tränen fast erstickte Stimme eines Menschen hören, der uns sein Leid klagt, ohne dass wir Tränen sehen? Und hören wir nicht die Wut in der Stimme beben, das Verschlagenene, den Spott im Tonfall oder die Freude, die in Worten sprudelt?
Taub sein für sanftes Säuseln und Rascheln, für das, was sich manchmal so zart ankündigt, oder für das, was uns um die Ohren pfeift und oft geknallt wird. Taub sein bedeutet also noch etwas ganz anderes als akustisch nicht hören können. Es bedeutet: Nicht verstehen können, was um mich herum wirklich passiert, was gemeint ist – umgeben von der Mauer der Stille, ausgegrenzt von einem so wichtigen Teil der Lebenserfahrung.
II.
Zu Jesus brachte man einen Menschen, der taub und stumm war. Was ich nie gehört habe, kann ich auch nie sagen, so ist es ganz konkret. Ein Kind, welches taub auf die Welt kommt, wird nie so sprechen können, wie ein Kind, welches schon im Mutterleib die Stimme seiner Mutter erkennen kann. Das taube Kind wird die Liebe der Eltern auch erfahren, wir haben ja unsere Körpersprache. Es wird sogar eine Sprache lernen und – ausgestattet mit dem Fingeralphabet – kommunizieren können. Manchmal wird es auch sprechen lernen, es muss sich dabei nur sehr anstrengen, doch wird es ihm nie so ganz gelingen wie uns und auch nie sein ureigenstes Ausdrucksmittel finden. Was ich nie gehört habe, kann ich auch nicht sagen.
Die Schwerhörigen im Alter scheinen es einfacher zu haben. In vielen Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden gibt es Induktionssschleifen und Lautsprecher. Die Hörgeräte werden immer besser. Und stumm brauchen diese älteren Menschen nicht sein. Wirklich nicht? Haben Sie schon einmal in einer fröhlichen Menschenrunde gesessen und beobachtet, dass es da einen älteren Menschen gab, der nichts sagte? Er hatte sein Hörgerät ausgeschaltet. Denn das frohe bunte Durcheinander an Gesprächen wird auch beim besten Hörgerät zum unerträglichen Krach. Dann ist die Stille im Ohr angenehmer. Der Preis dafür aber, nicht genau mitzubekommen, warum gelacht und was geredet wird. Selbst stumm sein inmitten des Lärms. Zeigt dieses Beispiel nicht deutlich: Taubsein bedingt das Stummsein. So ist es auch im übertragenen Sinn.
III.
Wenn ich taub bin für die Liebe, werde ich sie selbst nicht erfahren können. Ich kann sie auch nicht erwidern.
Wenn ich taub bin für die Not – und sei es auch nur für die Not eines einzigen Menschen – kann ich mich nicht für ihn einsetzen.
Wenn ich taub bin für die Schreie eines Menschen oder eines Tieres und so nie meine Stimme für sie erheben kann – nehme ich mir damit nicht eine lebenswichtige Chance, verantwortlich zu handeln?
Wenn ich taub wäre, weil ich mich nur auf das Klingeln der Kassen, das Dröhnen des „Immer-Mehr“ und „Immer-Schneller“ oder das „Wir-sind-gut-Gebimmels“ einer heilen Welt, auch der Kirchenwelt, einlasse – sollte ich dann nicht lieber stumm sein? Warum?
Im gleich Kapitel unseres Predigttextes, am Anfang, spricht Jesus in einer Diskussion aus, was gemeint ist: Was von innen aus dem Herzen der Menschen kommt, sagt Jesus, macht sein Handeln aus. Sind es z. B. Habgier, Bosheit, Arglist, Lästern oder Hochmut, machen sie den Menschen „unrein“. Und was tut Jesus in unserer Bibelgeschichte? Er geht auf den Wunsch der Menschen ein, die einen Menschen, der taub und stumm war, zu ihm brachten. Lege die Hand auf ihn, baten sie.
Wir wissen nicht, ob jener Mensch es selbst gewollt hat oder auch selbst kommen wollte. Das hätte er doch tun können. Jesus hätte schon begriffen, was er wollte. Nein, er wird gebracht von Menschen, die für seine Not nicht taub waren. Sie wollten die Mauer, die sie von ihm trennte, überwinden – welch ein Segen!
Und Jesus verstärkt diese lebensnotwendige Zuwendung. Er nimmt den einen Menschen aus der Menge beiseite. Jetzt bin ich nur für dich da. Du bist jetzt wichtig. Bist mir wichtig. Du gehst nicht in der Menge unter. Jesus berührt ihn, das bedeutet auch: Er rührt ihn an. Jesus versucht, das Innerste dieses Menschen zu erreichen. Berührung ist immer mit Vertrauen verbunden. Und das Berühren der Zunge – wie intim. Dann der Satz: Hefata – Tu dich auf! Öffne dich!
IV.
Wieder wird deutlich: Taubheit und Stummheit bedingen einander. Die Taubheit hatte die Zunge gefesselt. Die Fessel seiner Zunge löste sich, „und er redete richtig“. Ist das nicht ein erstaunlicher Satz? Es heißt nicht: Er konnte wieder reden. Oder: Er konnte jetzt endlich reden. Oder: Er bedankte sich bei Jesus. Nein, es heißt: Er redete richtig. Bedeutet das nicht: Der so von Jesus berührte Mensch weiß jetzt, was richtig ist. Er hat etwas verstanden, begriffen, richtig gehört, und er kann es sagen, kann sich am Leben mit aller Verantwortung beteiligen.
Es ist, als ob der Evangelist Markus mit seiner Geschichte uns aus unserer Sprachlosigkeit herausrufen und uns zurufen will: Lasst euch von Jesus bis in euer Innerstes berühren. Gebt euch unter seine Hand. Öffnet euch für das, was Jesus sagt und lehrt. Und lasst es dann aus euren Herzen sprechen. Ihr redet richtig, wenn ihr für die Menschen, die eure Hilfe brauchen, eure Stimme erhebt, und wenn das, was ihr sagt, mit Freundlichkeit, Aufrichtigkeit, Liebe und Achtsamkeit verbunden ist. Dann geschieht auch heute noch das Wunder, dass taube Menschen hören und stumme richtig reden. Amen.