Hilfe ohne wenn und aber

Abbau der Lieblosigkeit ist gefragt

Predigttext: Lukas 17, 11-19
Kirche / Ort: Rothenburg, OL
Datum: 21.09.2003
Kirchenjahr: 14. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Mag. theol. Ulrich Hutter-Wolandt

Predigttext: Lukas 17,11-19 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)

11 Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, daß er durch Samarien und Galiläa hin zog. 12 Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne 13 und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! 14 Und als er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein. 15 Einer aber unter ihnen, als er sah, daß er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme 16 und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. 17 Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? 18 Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? 19 Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen.

Exegetische und systematische Bemerkungen, ethymologische Aspekte des Wortes "Leiden"

1. a) Urchristliche Bezeugung: Mit dieser Perikope befinden wir uns im Sondergutkapitel des Lukas. Die Geschichte der Heilung der zehn Aussätzigen findet sich noch in einer Variante in Mk 1, 40-45, wie Rudolf Bultmann in seiner „Geschichte der synoptischen Tradition“ festgestellt hat und Gerd Theißen in seiner Monographie „Urchristliche Wundergeschichten“ festhält. Wegen dieser kompositorischen Anleihe des Lukas bei Markus soll zunächst kurz auf die markinische Geschichte eingegangen werden. b) Markinischer und außerkanonischer Bezug: In der markinischen Geschichte ist V. 45 redaktionell, ein typisches Summarium. Ebenso redaktionell ist auch der absolute Gebrauch von ton logon. Somit bleiben die Verse 40 bis 44 als altes Traditionsstück übrig. Formgeschichtlich gehört der Text zur Gattung der Novelle: Breite Schilderung, Fehlen erbaulicher Gedanken. Der Akzent liegt auf dem Wunder der Heilung, Jesus ist auch Wundertäter. Dramatis personae sind: Jesus und der Aussätzige. Die Jünger gehören nicht zum Zuschauerkreis, ebenfalls fehlen Orts- und Zeitangaben. Aussatz ist die höchste Stufe der Unreinheit, die aus dem Volke und der Heilsgemeinschaft ausschließt. Die Schwere der Krankheit kommt dadurch zum Ausdruck, dass die Bitte um Heilung besonders dringlich vorgetragen wird. "Wenn du willst", bedeutet nicht Zweifel an Jesu Willen, sondern Appell an Jesu Güte. Jesus zürnt über das Elend, nicht über die Belästigung der Kranken. Er durchbricht die Grenze zwischen rein und unrein, in dem er den Kranken berührt. Dass bei der Berührung Kraft ausströmt, könnte eine redaktionelle Erweiterung sein. Die Heilung ist erst dann rechtsgültig, wenn der gesetzliche Gutachter (Priester) das Urteil gesprochen hat. Das Schweigegebot ist theologisch zu deuten, bei Markus im Sinne seiner Messiastheorie. Es gibt auch einen außerkanonischen Bezug: Im Papyrus Egerton 2 findet sich eine Aussätzigenheilung, die am Anfang und am Schluss den Plural „den Aussätzigen“, „den Priestern“ aufweist, also eine auffällige Parallele zur Perikope Lk 17, 11-19 darstellt: "Und siehe, ein Aussätziger nahte sich (ihm) und sagt: Meister Jesus mit Aussätzigen wandernd und essend, mit (ihnen war ich? Zöllnern bist du?) in der Herberge; aus(sätzig wurde) auch ich. Wenn (du) nun (willst) werde ich rein. Sofort (sagte) der Herr (zu ihm): Ich will's, sei rein. (Und alsbald) wich der Aussatz von ihm. (Der Herr aber sprach zu ihm): Gehe (hin und zeige di{ch) den (Priestern.)“. c) Die Gliederung der Perikope Lukas 17, 11-19: Vers 11 redaktionelle Qrtsangabe – Jesus auf Wanderschaft Verse 12-14 Therapie Jesu an den Zehn Aussätzigen Verse 15-18 Lob und Preis des Fremden für die erfahrene Wundertat Vers 19 Schlussbemerkung Jesu: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ d) Einzelexegese Schon die Gliederung zeigt, dass es dieser Text in vier kleinere Bestandteile zerlegt werden kann - Jesus auf Wanderschaft Vers 11 Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Die Wendung dia meson hat in der exegetischen Literatur vielfache Rätsel aufgegeben. Besonders Hans Conzelmann hat auf diese geographische Unmöglichkeit des Lukas hingewiesen: „So drückt sich nicht ein Jerusalemer aus, sondern ein Mann, der sich im Lande nicht auskennt.“ - Therapie Jesu - Verse 12-14 Diese Verse, die eigentliche Wundererzählung, ist mit Gerd Theißen besser als Therapie zu bezeichnen ist. Zehn Männer kommen in ein Dorf und treffen Jesus. Da sie eine Lepraerkrankung haben, also unrein sind, rufen sie ihm von ferne zu. Die Kranken erwarten Erbarmung und Heilung vom Meister. Jesus heilt sie nicht, wie es sonst in den Wundergeschichten vorkommt, durch eine entsprechende Tat wie zum Beispiel „Handauflegen“ oder die Berührung der zu behandelnden Stelle, sondern erteilt ihnen den Befehl, sich den Priestern zu zeigen. Durch diese Glaubensprobe wird ihnen auf dem Weg Heilung und Reinigung zuteil. Da keine unmittelbare Berührung von Kranken und Jesus vorliegt, könnte man in diesem Fall auch von einer „Fernhei1ung“ sprechen. - Lob und Preis des Samariters - Verse 15-18 Aus diesem Kreis der Geheilten schert nun einer aus und betritt den Vordergrund der Geschichte. Er kehrt nach erfolgter Heilung um und preist Gott mit lauter Stimme. Dieser Dankbare, der sich Jesus auf die Füße wirft, ist ein Samarit(an)er. Jesus fragt ihn, wo die anderen geblieben sind, denn auch sie wurden doch geheilt. Nur der Fremde bekennt sich zu Gott und damit zu den Taten Jesu. Während die neun Geheilten weggehen und Distanz zu Jesus halten, erfährt der Samaritaner durch sein dankbares Bekennen der Macht Jesu dessen Nähe. - Jesu Schlusswort Vers 19 In diesem Vers gebraucht Lukas eine Sentenz, die bei ihm häufig am Schluss von Erzählungen vorkommt (vgl. z.B. Lk 7,50; 8,48; 17,19; 18,42). Der Glaube des Aussätzigen, der von Jesus geheilt wurde, brachte ihm Rettung. Mit diesem Wort Jesu beschließt Lukas seine Wundergeschichte und gibt ihr gewissermaßen einen ekklesiologischen Schluss. f) Der Text im Zusammenhang der lukanischen Theologie Für Lukas ist die Therapie an sich nicht wichtig. Sie ist auslösendes Moment für die Verse 15ff. Für ihn ist wichtig, ob ein Mensch durch Heilung zu Anbetung, Lob und Preis bewegt wird. Außerdem ist für ihn hervorhebenswert: Die ersten, die eigentlich aufgrund ihrer religiösen Anlage umkehren müssten, sind die Juden. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Nicht die neun Juden kehren um, sondern der Fremde, der Samarit(an)er, derjenige, der nicht die „richtige Theologie“ hat. Für den dritten Evangelisten heißt das: Alle Zugehörigkeit zur rechten Kirche nützt nichts, wenn ein Mensch nicht offen ist für die Erfahrung, dass Gott ihn begleitet. Das muss kein Wunder sein, sondern kann überall geschehen, wo ein Mitmensch hilft oder einem Mitmenschen geholfen wird. Diese Geschichte stellt einen Wendepunkt im Rahmen der urchristlichen Geschichte von ausschließlicher Judenmission und der Hinwendung zur Völkermission dar. 2. Systematisch-theologische Reflexion In der Bibel wird das Leiden ernst genommen, es wird nicht verharmlost. Dieser Ernst des Leidens manifestiert sich im Aufschrei über das Leid. Im Alten Testament finden wir eine Reihe von Belegstellen über Aufschreie gegen Trauer, Niederlagen und Bedrängnisse. Dies führt zur literarischen Gattung des Klageliedes. In ihm wird der klagende Aufschrei gegen Gott gerichtet (Gen 41,45; Ex 2,23f.). Das Urteil, das über das Leiden gefällt wird, entspricht dieser Auflehnung des Gefühlslebens, denn Leiden ist ein Übel, das nicht sein sollte. Weisheit und Gesundheit verdienen die gleiche Wertschätzung. Gesundheit ist eine Wohltat Gottes, für die man ihn preist, um die man ihn bittet (Ps 107,19). In den Psalmen bitten Kranke um ihre Gesundheit (Ps 6; 38; 4.1;88). Im Alten Testament wird das Leiden nicht verherrlicht, man singt dem Arzt ein Loblied, man erwartet die messianische Zeit als eine Zeit der Heilung und Auferstehung (Jes 26,19; 29,18; 61,2). Im Neuen Testament erscheint Jesus als Sieger über das Leid. Seine Wundertaten, seine Heilungen und seine Totenauferweckungen sind die Zeichen seiner messianischen Sendung (vgl. Mt 11,4), das Vorspiel zu seinem endgültigen Sieg. Er erfüllt die Weissagung von jenem Knecht, der unsere Krankheiten getragen und sie alle geheilt hat (Mt 8,17). Er gibt seinen Jüngern die Macht zu heilen (Mk 15,17), und die Heilung des Kranken an der schönen Pforte (Apg 3,1-10) bezeugt die besondere Zuversicht der Urkirche. Doch schafft Jesus weder den Tod noch das Leid aus der Welt. Er zeigt aber, dass er die Macht hat, die Krankheit und das Leid in Freude zu verwandeln. Er beseitigt das Leid nicht, aber er tröstet im Leid (Mt 5,5). Er beseitigt die Tränen nicht, sondern trocknet sie, wo er ihnen begegnet {Lk 7,13), zum Zeichen der Freude, die Gott und seine Kinder verbinden, wird an jenem Tage, da „er die Tränen abwischen wird von jeglichem Antlitz“ (Apk 7,17; 21,4). Das Leiden macht bereit zur Annahme des Reiches Gottes, es dient dazu, die Herrlichkeit Gottes und die seines Sohnes zu offenbaren. 3.Ethymologische Aspekte des Wortes "Leiden" Sprachgeschichtlich kommt das Verb „leiden“ von „fahren“, „erfahren“, „gehen“ und „ergehen“ her. Durch diese Wortbedeutung wird eine Beobachtung bestätigt: Wer durchs Leben geht, der erfährt Leiden. In unserer Umgangssprache sind Redensarten wie „ich kann ihn nicht leiden“, „er ist nicht zu leiden“, „jemanden beleidigen“ oder „Leid zufügen“ gebräuchlich. Auffallend für die Menschen unserer Zeit ist die Leidensbeseitigung, die Leidensabschaffung. Immer noch nachdenkenswert sind die Worte Dietrich Bonhoeffers zum Thema „Leiden“, die er in „Widerstand und Ergebung“ geschrieben hat: „Es ist unendlich viel leichter, im Gehorsam gegen einen menschlichen Befehl zu leiden als in der Freiheit eigenster verantwortlicher Tat. Es ist unendlich viel leichter, öffentlich unter Ehren zu leiden als abseits und in Schanden. Es ist unendlich viel leichter durch den Einsatz des leiblichen Lebens zu leiden als durch den Geist. Christus litt in Freiheit, in Einsamkeit, abseits und in Schanden, an Leib und Geist und seither viele Christen mit ihm“. In unserer heutigen Welt hat das Leiden keinen Platz. Es gilt das Starksein; die Schwäche, sich zum Leiden bekennt, findet kein Gehör. Unsere Krankenhäuser zum Beispiel sind Orte zur Gesundung, Leiden findet bestenfalls abgeschirmt von der Öffentlichkeit statt. Wo Leiden nicht mehr im Bewusstsein ist, kann man von Kindern und Jugendlichen wie auch von Erwachsenen nicht erwarten, dass sie durch dieses Thema motiviert werden. Das Entfernen alles Unplanmäßigen aus der unmittelbaren Lebensumgebung führt zur Ausblendung und Verdrängung. Die Folge ist eine Berührungsangst der Gesellschaft mit Kranken und Behinderten. Die Gesellschaft scheint unfähig zu sein, Leiden zu ertragen, wahrzunehmen, einzuspringen und sich auf diese Weise solidarisch mit den Leidenden zu verbinden. Wo kaltes Durchgehen und Hinwegsehen zur Maxime ethischen Handelns werden, da schwindet auch die Komponente des Sich-Freuens. Deshalb hat Jürgen Moltmann recht: „Je mehr einer leidensfähig wird, um so glücksfähiger wird er, und umgekehrt: je mehr einer sich freuen kann, um so mehr kann er trauern“. Jesus stellt sich dem Leiden, in dem er Menschen vom Leiden erlöst, sie heilt und damit wieder in die Gesellschaft zurückführt. Die Geschichte aus Lk 17, 11ff. ist dafür ein typisches Beispiel.

Literatur:

Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, München 1970; Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 19708; Wilhelm Bruners, Die Reinigung der zehn Aussätzigen und die Heilung des Samariters. Lk 17,11-19, Stuttgart 1977; Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen 19645; Otto Glombitza, Der dankbare Samariter (LK XVII, 11-19), in: NT 11/1969, 241-246; Rudolf Pech, Jesu ureigene Taten? Freiburg 1970, 114-134; Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I.Evangelien, Tübingen 19906, 82-85; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas. ÖTK 3,2, Würzburg – Gütersloh 1977; Gerd Theißen, Urchristliche Wundergechichten, Gütersloh 1974; Wilhelm Wiefel, Das Evangelium nach Lukas (ThHkNT 3), Berlin (Ost)1988.

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Liebe Gemeinde!

Diese Geschichte führt uns zurück in eine Zeit, als Jesus in Galiläa und Samarien unterwegs war, sagen wir um das Jahr 27 unserer Zeitrechung. Der, der mit seinen Jüngern oder allein durch die Dörfer und Städte umherzieht, fragt niemanden, er handelt spontan und mit atemberaubender Sicherheit, das Richtige zu tun. Er überspringt die Vorschriften des alttestamentlichen Gesetzes, nach dem es untersagt war, mit Aussätzigen in Kontakt zu treten. Dieser Jesus aus Nazareth nimmt sich der Aussätzigen an und behandelt sie wie normale Menschen. Seine Maxime, sein oberstes Gebot, ist Hilfe für den Menschen.

Und dieser Jesus hat weder ein Amt, noch ist er Priester, aber dennoch heilt er und vergibt Sünden. Er hat keinen Ausweis, den er vorzeigen kann, keinen besonderen wohlklingenden oder gar akademischen Titel. Und doch handelt er in Vollmacht: “Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium” (Mk 1,15).

Das Reich Gottes ist freilich anders, als sich dies die Menschen damals und heute vorstellen. Es ist kein Gesetzes- und Priesterstaat, sondern eine Liebesgemeinschaft. Nicht was Vorschrift, was erlaubt ist, wird getan, sondern was gut ist. Und dies kann jeder ohne Experten erkennen. Denn nicht die strengen Gesetze und Kultvorschriften bestimmen das Reich Gottes, sondern Nächstenliebe, Hilfe und Barmherzigkeit. Der Strafe steht Toleranz gegenüber.

Diese Geschichte, der heutige Predigttext, ist darum weder alt noch altmodisch.

Verlesen des Predigttextes

Wir können uns diese Krankheit, von der da berichtet wird, eigentlich gar nicht recht vorstellen. Vielleicht noch in Indien oder Südostasien gehört Aussatz zum alltäglichen Straßenbild. Zur Zeit Jesu war die Krankheit in ganz Palästina weit verbreitet.

Auch bei uns gibt es Kranke, die wir nur in einem unglaublichen Abstand wahrnehmen wollen. Ich denke hier zum Beispiel an die geistig Behinderten. Wir wissen doch nicht so recht, wie wir ihnen begegnen, was wir mit ihnen anfangen sollen. Können sie uns verstehen oder müssen wir uns ihnen in einer anderen, verständlicheren Sprache und Denkweise nähern? Aus lauter Unwissenheit sehen wir diese Menschen gar nicht erst an, sondern sehen lieber weg. Jeder der schon einmal mit geistig Behinderten zu tun hatte oder zu tun hat, weiß um die Dankbarkeit dieser Menschen, die sich oft in einem hellen, strahlenden Gesichtsausdruck zeigt. Sie sind einfach dankbar für jede ausgestreckte Hand, die ihnen entgegengebracht wird.

Gerade unsere kleine Görlitzer Kirche hat in ihrer diakonischen Arbeit für Kranke und Behinderte einen wesentlichen Schwerpunkt. Der frühere Bischof unserer Kirche, Hans-Joachim Wollstadt, schrieb vor vielen Jahren über die Arbeit mit Behinderten im rund 20 km von Görlitz entfernten Rothenburg: “Freude gehört zum Leben. Auch der soll sie haben, der sonst an vielem nicht teilnehmen kann, weil er körperlich oder geistig behindert ist. Um Freude zu vermitteln, braucht man Liebe mit ein paar Ideen, dann zündet sie. Es gibt nicht Schöneres, als wenn Heimbewohner, Mitarbeiter und Freunde … in solcher Freude zusammenwachsen zu einer Gemeinschaft. Dann werden die Lasten leichter, weil man sie sich gegenseitig abnimmt”.

Oder ich denke an Körperbehinderte, in der nächsten Umgebung, im Mietshaus, im Konsum, im Kaufhaus usw. Wie begegnen wir diesen Menschen? Reden wir mit ihnen, vielleicht auch über ihr Leiden oder grüßen wir sie nur ganz artig in der Furcht, Wunden bei ihnen aufzureißen? Werden diese Kranken unserer Tage nicht durch unser Verhalten in die Isolation verbannt, weil sie eben doch als Außenseiter, Fremde, Menschen zweiter Klasse gelten, eben als „Aussätzige“. Und diese Aussätzigen leben mitten unter uns. Gehören wir nicht auch zu ihnen, im erweiterten Sinn? Zur Zeit Jesu verstand man unter „aussätzig“ auch denjenigen, der sich außerhalb des alttestamentlichen Gebotes begeben hatte. Dieser Schuldiggewordene wurde aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Die Geschichte, die sich vor fast zweitausend Jahren in der Gegend von Galiläa und Samarien ereignete, ist eine wahrhaft unglaubliche Geschichte, weil der Kranke seine ihm von der Gesellschaft zugewiesene Außenseiterrolle verlassen konnte. Er musste sich von Menschen fernhalten, und ihm war jeder Kontakt zu ihnen untersagt. Und der Kranke. Wie mag es den Kranken, den zehn Aussätzigen ergangen sein? Über ihre persönliche Einstellung erfahren wir nichts. Vielleicht empfanden sie ihre Situation so wie der polnische Lyriker Tadeusz Rozewicz:

„Diese mauer
die wir gemeinsam bauten tag für tag
wort für wort
bis zum schweigen diese mauer
schlagen wir nicht durch. Eingemauert

mit eigenen händen verdursten wir
wir hören wie nebenan das andere sich beweg- hören seufzer
rufen um hilfe.
Sogar unsere tränen fliehen nach innen“.

Einer von den Zehn, die geheilt wurden, kehrt um und geht auf Jesus zu, lobt Gott für diese Heilung. Und auch Jesus hielt sich nicht an die ihm von der Gesellschaft zugedachte Rolle: Er lässt sich auf ihn ein, gewährt ihm damit Gemeinschaft. Der Glaube, den der Geheilte gezeigt hat, hat ihm geholfen. So fasst es Jesus am Schluss der Geschichte zusammen.

Doch dürfen wir nicht meinen, Jesus habe stets für die in Not geratenen Menschen die passenden Worte bereit gehabt. Er geht auf den Leidenden zu, stellt sich neben ihn und nimmt dessen Leid auf sich. Jesus ließ nicht wie das zum Beispiel beim Arzt oder bei den meisten Behörden geschieht, erst Fragebögen ausfüllen, die Auskunft über den sozialen Hintergrund, die Herkunft, Zahlungsmoral oder Bedürftigkeit des Antragstellers geben. Er half ohne wenn und aber. Und er half ohne großes Aufsehen. Jesus brauchte keine Reklame, er betrieb auch keine, um es modern zu sagen, “Public relations”, keine Öffentlichkeitsarbeit. Wenn er sich für Menschen einsetzte, dann ging es ihm um den konkreten Einzelfall und um dessen Heil.

Lenken wir unsere Blicke noch einmal gezielt auf den einen Aussätzigen, dort zwischen Galiläa und Samarien vor fast zweitausend Jahren. Können wir uns in ihn, in seine Leidens- und Gefühlswelt, hineinversetzen? Was hat ihn zusammen mit seinen Gefährten an die Straße zu Jesus getrieben? Oder sind die Aussätzigen Jesus nur zufällig begegnet? Dies sind, liebe Gemeinde, alles nur Spekulationen. Wir wissen nicht, wie es sich im einzelnen abgespielt hat.

Vielleicht würde der Aussätzige, könnten wir ihn heute fragen, den Weg zur Heilung so erzählen: Irgendwann habe ich, ich weiß es nicht mehr ganz genau, von Jesus und seiner Predigt, in der es ganz oft um die Worte Buße und Glaube ging, gehört. In meiner Not erinnerte ich mich, als die Krankheit immer schlimmer wurde und keiner mir mehr helfen konnte, – ja alle mich sogar verstießen – an diese wichtigen Worte aus der Botschaft Jesu. Ich habe das auch noch anderen erzählt und wir haben uns dann auf den Weg gemacht, weil es Gedanken waren, die keinen von uns mehr losließen. Wir trafen Jesus und wollten sein Angebot annehmen. Das weitere der Geschichte ist bekannt.

Sonntag für Sonntag hören wir von Jesus und seiner Botschaft. Doch was ist nach dem Gottesdienst? Wir gehen wieder zur Tagesordnung über so wie die anderen neun Geheilten, zur Tagesordnung mit ihren Alltagsproblemen, den großen und kleinen Enttäuschungen, den kleinen und großen Leiden und der Erfahrung der eigenen Hilflosigkeit. Kurz gesagt: Wir sind ratlos!

Dieser eine Aussätzige kann für uns Vorbild und Beispiel sein, denn er erinnerte sich an das Angebot Jesu und nahm es an und ernst. Und das unglaubliche ist, dass dieses Angebot auch heute noch gilt und glaubwürdig ist, für Aussteiger, für Menschen am Rande der Gesellschaft, für Alleingelassene und Vereinsamte, für Hilfesuchende und Ratlose, kurz für jeden von uns ganz persönlich.

Jesus stellte sich mit dieser Heilung zwar einerseits gegen das etablierte Religions- system, andererseits kommt es bei dieser Heilungsgeschichte noch nicht zum offenen Bruch mit den Vertretern der jüdischen Religion. Wollen wir unseren Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Herrn nicht in die Begegnung mit den Leidenden unserer Tage einfließen lassen? Denn dann würden wir einen Beitrag zum Abbau der Lieblosigkeit in der Welt leisten, in der der Egoismus das Leben zerstört. Jesu Botschaft ruft uns damals wie heute zum Glauben an das Evangelium. Diese Verheißung begleite einen jeden von uns in die kommende Woche, wo immer wir auch unseren Platz „im Alltag der Welt“ haben mögen: „Unter deinen Schirmen bin ich vor den Stürmen aller Feinde frei. Lass den Satan wettern, lass die Welt erzittern, mir steht Jesus bei. Ob es jetzt gleich kracht und blitzt, ob gleich Sünd und Hölle schrecken, Jesus will mich decken“ (EG 396,2).

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