Ein Leben, in dem Vertrauen stärker ist als die Scham

Predigttext: Matthäus 15, 21-28
Kirche / Ort: Friedenskirche / Wehr
Datum: 12.10.2003
Kirchenjahr: 17. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Mathias Bless

Predigttext: Matthäus 15,21-28 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)

21 Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. 22 Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. 23 Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Laß sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. 24 Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. 25 Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! 26 Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, daß man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. 27 Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. 28 Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Exegetische, liturgische und homiletische Überlegungen

1. Wenn ich es richtig sehe, sind es vor allem drei Traditionslinien in der Auslegung- und der Predigtgeschichte. 1.1 Zum einen die heilsgeschichtliche Intention, wie die Kirche aus Israel herauswächst und die Grenzen zu den Heiden überschreitet. Zum anderen die paränetisch-existenzielle Tradition von der tiefen Kraft des Glaubens (siehe dazu Ulrich Luz, EKK I/2 S. 437). Daneben sehe ich in den letzten Jahren eine weitere Predigtlinie feministischer Herkunft: die Frau steht für das Leben und die Bewahrung des heilen Lebens und fordert gegen das Machtmonopol der Männer Heilung ein. 1.2 Gegen alle Beerbungstheologie macht Oliver Dantine ( in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, hg. von Wolfgang Kruse, ISBN 3-9806139-6-8, S. 341) auf die unterschiedliche Rolle von Christen und Juden aufmerksam. Gott bleibt Israel treu. Zugleich öffnet Gott sein Reich für die Völker (aaO S. 342). 1.3 Sehr schön macht Luz auf eine Gefahr aufmerksam: Der Predigttext belegt in der Geschichte der Auslegung „nicht mehr die die Grenzen Israels sprengende Kraft von Gottes Liebe, sondern fast nur noch die Legitimität des kirchengeschichtlichen status quo“ (Luz aaO S. 341). Auch die Erfahrung des Glaubens wird in der Predigttradition leicht verwandelt zu einer Lehre. Damit aber verändert sich der Skopus des Textes! 1.4 Wer es existenziell-jungianisch mag, wird wohl bei Drewermann (Das Markusevangelium Band 1, S. 472-492) für Gedankengänge und Sprachspiele nachschauen. 2. In der durchgeführten Predigt werde ich über den Glauben nachdenken. Dabei frage ich nicht im Sinn der Theologie nach dem richtigen oder falschen Glauben, sondern nach der menschlichen Lebensform und Ausdrucksform des Glaubens. Damit stellt sich die Frage: Erlaube ich mir, vom Glauben, von eigener Erfahrung, zu sprechen? Wir werden einen Weg suchen müssen zwischen der „religiösen Scham“ des kirchlichen Personals, das sich kaum traut, vom eigenen Glauben etwas zu zeigen und der Geschwätzigkeit eines Glaubenszeugnisses. Die Predigt ist gegliedert in fünf Schritte; die Überschriften sind nicht zur Verlesung gedacht. Ich möchte Sie, den/die LeserIn einladen, die Predigt an Ihre Sprache anzupassen. Dafür habe ich den Gedankengang der Predigt offenzulegen. Je nachdem, wie Sie das ‚Ich’ / ’Wir’ in der Predigt handhaben, bitte ich Sie den 5. Teil zu bearbeiten. 3. Ich werde einen doppelten Predigteinstieg anbieten: zum einen eine Geschichte, meine Geschichte mit dem Predigttext (1.1), zum anderen ein Bild von Ulrich Tarlatt, Bernburg (1.2). Das Bild wird nicht ‚beschildert’ oder interpretiert; eher im Sinne einer assoziativen Aufschließung lädt der Einstieg ein, sich auf die Bitt-/Orantengeste und auf das Bild einzulassen. Bild von Ulrich Tarlatt In unserer Wehrer Gemeinde gibt es eine lange Tradition im Gespräch von Kirche und Kunst. Ob eine im Umgang mit Kunst ungewohnte Gemeinde diesem Predigteinstieg folgen kann, halte ich für unwahrscheinlich. Weitere Arbeiten des Künstlers sind im Internet unter www.edition-augenweide.de zu finden.

Lieder:

EG 324 Ich singe dir mit Herz und Mund EG 499 Erd und Himmel sollen singen EG 502 Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit (bitte nochmals Strophe 3 bedenken!) EG 662(Badischer Anhang)Schenk uns Weisheit, schenk uns Mut

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1.1. „ und die Frau geilte…“

Es ist schon einige Jahre her; ich war als Gastprediger in der Kirche von X; wir beginnen – wie alle Christen – den Gottesdienst im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Die Liturgie beginnt sich zu entwickeln, wir bringen unsre Sorgen ein, hören von Gott etwas Gutes, sagen dem Himmel Dank…

Mir fällt siedendheiß ein: „Ich habe die Bibel auf dem Schreibtisch liegen lassen.“ So drehe ich mich zur Schriftlesung um, nehme die Altarbibel und beginne zu lesen. Die Bibel ist schon altehrwürdig, die Seiten schon lange nicht mehr umgedreht. Sie liegt schwer in meiner Hand, gewichtig, viele Kilos. Ich blättere und fange an zu lesen. Die Sprache ist fremd, alt, aber warum nicht?

Nach dem Gottesdienst meint ein Kirchengemeinderat, heute hätte ich aber eine moderne Übersetzung gewählt. Ob das Absicht gewesen sei. „Eine moderne Übersetzung? Die Altarbibel ist Luther aus dem 18. Jahrhundert! Und es ist e u r e Altarbibel!“ „Nein, das kann nicht sein!“ Und ihm ist mehr als nur ein Satz im Gedächtnis geblieben, aber einer, der hat sich eingebrannt: „ und die Frau geilte….“

Und die Frau geilte – sie wollte etwas von Jesus, sie hat alle ihre Gefühle in diese Bitte gesetzt, alle ihre Gedanken, alles, was sie ist und hat. Jeder Regung, jede Hirnwindung, alle Triebe, alles, was sie ausmacht. All ihre Fröhlichkeit, all ihre Traurigkeit, alle Sorgen und alle Hoffnung… körperlich spürt sie ihre Gier, so stark wie die Liebe, so stark wie den Tod: „Hilf mir! Erbarme dich meiner!“
Alles legt sie hinein in das Gespräch mit dem Mann aus Israel.

1.2. Einstieg mit einem Bild

Da steht einer. Mit hoch erhobenen Händen. Bitten. Flehend. Allein. Allein im Raum.
Um ihn herum – nichts.
Nichts bis auf –
Zeichen, Zeilen, Geschriebenes.
Auf liniertem Papier. Ganz ordentlich. Notizen.
Allein bis auf – ein Zeichen.
Rätselhaft. Geheimnisvoll.
Ein Kreis. Ein gekräuselter Rand, eine afrikanische Schlange.
Gefahr? Oder die Gefahr abwehrend?
Eine Form. Fuchskopfgleich. War einmal ein römisches Beschlagteil. Ein Pferdegeschirr-Teil.
Was hat der Mann, was hat die Frau damit zu tun?

Gefahr. Und Abwehr von Gefahr. Verletzung des Holzes, von dem gedruckt wird und Bild.

Die Schrift: geschrieben vom Vater des Künstlers. Er, Ulrich Tarlatt, fand die Hefte. Sie sind ihm kostbar. Sie erinnern ihn. Es war der erste Weihnachtstag 1981. Der Vater starb.

Da steht einer.
Um ihn herum – nichts.
Ja, – mit hoch erhobenen Händen.
Bitten. Flehend. „Hilf mir!“
Allein. Allein im Raum.
Und alte Dingen, die ihn betreffen. Und
Die Druck machen.
Und die künden vom Bösen. Und dem Umgang – mit dem Tod.

(Lesung des Predigttextes)

2. Um nicht mehr und um nichts weniger geht es!

Da gibt es keine Einschränkung mehr, kein Vorbehalt. Kein „ Es wäre nett!“ Grad raus sagt sie, was sie will: „Mache meine Tochter wieder gesund!“

Randvoll ist sie mit ihrem Wunsch, mit ihrer Bitte, mit ihrem Verlangen. So voll, dass nichts anderes mehr Platz hat. „Was kümmern mich die scheelen Blicke der Jünger, was kümmert mich der Takt und der Anstand!“ Souverän – oder nur hilflos? – überspringt sie die Grenzen, die Grenzen der Religionen, die Grenzen der Geschlechter, die Trennungslinien der kulturellen Normen und Werte. Sie überspringt die Trennlinien der Scham und gelernten Regeln. Sie macht den Mund auf. Sie macht den Mund auf! „Herr, hilf mir!“

Um nicht mehr und um nichts weniger geht es!

Um nicht mehr und um nichts weniger geht es als um die Gesundheit und das Leben ihrer Tochter! Was kümmert’s mich, dass der Mann aus Nazareth ist? Was kümmert’s mich, wenn die Frauen sich das Maul zerreißen? Was kümmert’s mich, dass er mich so – feindlich? abweisend? – anschaut? Was kümmern mich die Männer um ihn herum. Um nicht mehr und um nichts weniger geht es mir als um die Gesundheit und das Leben meiner Tochter!

Aus dieser Kraft heraus, aus dieser unbedingten Kraft heraus wird die Frau fähig, unbescheidenste Bitten zu äußern, unerhörte Worte zu sagen und schert sich einen Dreck um ihre Wohlanständigkeit.

( Wenn Predigteinstieg 1.1.: „ und sie geilte“)

3. Vom Weniger des Glaubens – über die Fragmentierung und Parzellierung der Lebenswelt

Mich fasziniert diese Unbedingtheit, diese Direktheit, diese – wenn Sie wollen – Radikalität der Frau. Mich fasziniert diese Frau in ihrer körperlich zu spürenden Bitte, ihrem Schrei nach Hilfe. Religion und Familie sind in ihrem Leben keine getrennten Bereiche. Unbeeindruckt bringt sie zusammen, was für ihre Mitmenschen auseinander fällt: Mannsein und Frausein, Privates und Öffentliches, Kanaan und Israel, medizinischer Befund und ihr Glaube, dass auf dieser Welt Gesundheit im Namen Gottes eine Berechtigung hat…

Wo meine Lebenswelt in Bereiche, Parzellen und Fragmente geteilt ist, da findet diese kanaanäische Frau zu einer Ganzheit, die mich zutiefst beeindruckt. Glaube, ungeteilt, ganz, in einer solchen Tiefe zu erleben, Glaube, der zusammenfügt und zusammenhält, der mich bis in die letzte Faser ausfüllt, der mich bis in den innersten Winkel meines Herzens ergreift…

Ich frage mich: Ist es wirklich ein so neues Phänomen des 19. Jahrhunderts, dass die Lebenswirklichkeit in hunderttausend Facetten zersplittert, die alle ihre Eigengesetzlichkeit einfordern? Ich beginne zu zweifeln, angesichts der Grenzen, die diese Frau überspringen muss, bis sie endlich ihren Schrei nach Hilfe an Jesus richtet. Ich beginne zu begreifen: Es gibt ein zu wenig des Glaubens, das die Grenzen in unserem Leben respektiert, ohne den Protest im Namen des Lebens, ohne den Protest im Namen Gottes zu wagen.

4. Vom Mehr des Glaubens – oder: Wie man Israel ausbootet

Mich ärgert der Jesus dieser Geschichte. Ich sage es grad heraus: Er ärgert mich. Und ich würde mich ungern an seine Seite stellen. Dorthin, wo die Jünger selbstgerecht, überheblich, gefühllos stehen. Erst bleibt Jesus sprachlos. Dann weist er die Frau zurück. Dann erklärt er sich für nicht zuständig… Freunde! Das ist nicht unser Jesusbild! Und doch: Er verweigert sich der Frau. „Jesus antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.“ Sie, die Kinder Israels, die Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs – ihnen gilt mein Leben. Ihnen gilt meine Predigt. Ihnen gelten meine Wunder. Ihnen schenke ich, was immer ich bin.

Es gibt nur wenige Geschichten, die Jesus ‚abseits’ von Israels zeigen. Die Geschichte mit der kanaanäischen Frau ist eine dieser raren Geschichten. Vielleicht ist das das Wunderbare: Dieser Frau gelingt es, an das weite Herz Jesu zu appellieren. Dieser Frau gelingt es, der Liebe Gottes einen großen Raum zu eröffnen. Diese Frau bewegt Jesus so, dass er Gottes Zuneigung bei Israel lassen kann und zugleich sie, die Fremde, mit hineinnimmt in die wunderbare Geschichte Gottes mit den Seinen.

Und ich verstehe: es gibt auch ein ‚Zuviel’ des Glaubens. ‚Nur ich!’ ‚Nur mein Glaube!’ – Jesus hat sich bewegen lassen. Er hat seine Grenzen überschritten. Ein Glaube, der das Heil und die Heilung auf die christliche Religion einschließt, ein Glaube, der Israel an den Rand drängt, ein Glaube, der Israel ausbootet aus der gemeinsamen Glaubensgeschichte von Menschen mit unsrem Gott, ein Glaube, der nicht mehr aushält und festhält, was für Jesus so klar gewesen ist – zuerst den Kindern Israels, zuerst den Juden, erst dann auch alle anderen -, ein Glaube, der Israel vergisst, ein solcher Glaube ist an einem ‚Zuviel’, an einem ‚Zu-eng’ erstickt.

5. Vom Leben, das stärker ist als die Scham

Lassen Sie uns zurückschauen auf den Weg, den wir miteinander gegangen sind:

( bei Einstieg 1.1.) Wir sind losgegangen bei einem Wort, das uns hat stolpern lassen.

( bei Einstieg 1.2.) Wir haben uns mit hineinnehmen lassen in die Erfahrung von Alleinsein und Druck, Bitten und Flehen.

Ich war / Wir waren fasziniert und haben uns gewundert über die Hartnäckigkeit der Frau, ihr unbedingtes Wollen, ihr Schreien, ihre – ja – Schamlosigkeit.

Ich habe / Wir haben unsre Welt mit der uns/ihr eigenen Fragmentierung und Zersplitterung in den Blick genommen und entdeckt: wer so schreit, wer so will, wer so vertraut, – für den fällt das ganze Leben, alles Wünschen, Sehnen und Begehren in eines zusammen: „Hilf mir!“

Ich habe / Wir haben Israel wieder in sein altes Recht gesetzt, in das von Jesus bestätigte und beglaubigte Recht, das geliebte Volk des Vaters zu sein. Und habe / haben allem Fanatismus und aller Ausschließlichkeit ‚Nein!’ gesagt.

Bleibt am Ende nur noch eines: der Ausgang der Geschichte. Ganz lapidar kommt das gute Ende in einem Satz daher: Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Gibt es nicht mehr zu erzählen? Wäre es den nicht der Rede wert, von der Freude der Mutter, dem neuen Leben des Kindes zu berichten? Die Ängste weichen, die Dämonen nehmen Reißaus, und kein Wort?

Immerhin: Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde. Das ist wichtig. Keine Kopfgeschichte, sondern eine Leibgeschichte! Viel mehr als ein Wortgeplänkel. Denn wenn so viel auf dem Spiel steht – da ist es not-wendig auch vom guten Ausgang und der Heilung zu berichten. Lassen wir der Frau und ihrer Tochter ihre eigene Geschichte.

Freuen wir uns a n dieser Frau. Die ihre Scham überwindet und ihren Mund aufmacht. Die sich traut, alles hineinzulegen. Die unbequem ist und klug, gewitzt und gewandt.
Freuen wir uns f ü r diese Frau, die Jesus überredet, überzeugt, verändert.
Freuen wir uns m i t dieser Frau, die kündet: von einem Leben, in dem Vertrauen stärker ist als die Scham.

Amen

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