Von Anfang an ist mein Leben durch Beziehungen geprägt

Predigttext: Markus 12, 28-34
Kirche / Ort: Papstdorf
Datum: 19.10.2003
Kirchenjahr: 18. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer i. R. Albrecht Gühne

Predigttext: Markus 12, 28-34 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)

28 Und es trat zu ihm einer von den Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Und als er sah, daß er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen? 29 Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften« (5. Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese. 32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen Kräften, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer. 34 Als Jesus aber sah, daß er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

Exegetische Hinweise

Zu V.30: Dieser Vers entspricht nicht dem Wortlaut des Schema’ Jisra’el in 5.Mose 6,4-9 (vgl. 11,13-21 und 4.Mose 15,37-41), „geht also mindestens in der jetzigen griechischen Form auf eine Gemeinde zurück, die dieses Bekenntnis nicht mehr spricht“ (E. Schweizer, NTD 1, S.137). Zu V.34: Zu beachten ist hier die besondere Stellung Jesu zu den Schriftgelehrten, die nicht wie sonst im Evangelium kritisch und gespannt ist (vgl. E. Schweizer, a.a.O., S.137). Durch Jesu Predigt und sein Wirken wird der in der Perikope betonte (Lebens-)Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe besonders bekräftigt. Der Nächste ist hier im umfassenden Sinn gemeint. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.“ (Römer 13,10). Nach E. Schweizer, a.a.O., S.138, ist Jesu Antwort in V.34 „Einladung zum letzten Schritt“.

zurück zum Textanfang

Jesus wird nach dem vornehmsten, dem ersten, dem entscheidenden
Gebot gefragt. Das Wort “Gebot” ist für uns heute eher negativ besetzt. Wir verstehen ein Gebot sehr schnell als eine Einschränkung unserer Freiheit, als eine Vorschrift, die uns im Wege steht, wenn wir machen wollen, was uns gerade passt, vielleicht sogar noch als lästigen Lernstoff aus dem Konfirmandenunterricht.

Gebote sind nicht nur Lebensbeschränkung

Trotzdem ist natürlich auch bei uns die Einsicht da, daß Gebote notwendig sind. Wenn wir einmal etwas Phantasie entwickeln und uns eine Welt vorstellen, in der ich mich darauf verlassen könnte, dass alle Menschen z.B. das 7. Gebot, du sollst nicht stehlen, respektieren würden, dann kann ein Gebot sogar zum Inhalt einer Hoffnung werden: Wenn es doch so wäre, wie schön wäre das, wieviel Angst würde da aus meinem Leben herausfallen. Gebote sind nicht nur Lebensbeschränkung, sondern auch Lebenshilfe.

Welches aber ist nun das entscheidende Gebot, das erste, nicht nur der Zahl nach, sondern nach seiner Bedeutung?

Wir formulieren die Frage einmal etwas um und fragen: Worauf kommt an im Leben? Wenn Gebote auch Hilfe zum Leben sind, dann ist die Frage nach dem entscheidenden Gebot zugleich die Frage nach dem, worauf es ankommt im Leben.

Als Antwort zitiert Jesus aus dem heiligen Buch seines jüdischen Volkes, aus der Tora:

„Höre, Israel, der HERR, unser Gott, ist allein HERR, und du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“.

Wir leben in Beziehungen

Darauf also kommt es an im Leben. Nicht auf meine Karriere, nicht auf mein Gehalt, nicht auf den Spaß, den ich habe oder nicht habe. Es kommt darauf an, daß mein Leben von einer Beziehung geprägt ist, denn Liebe ist ja die Beschreibung einer Beziehung.

Von Anfang an ist mein Leben durch Beziehungen geprägt. Ich kann mich dem gar nicht entziehen. Ich verdanke mein Leben der Beziehung einer Frau zu einem Mann. Bevor ich bewusst denken konnte, machte ich die Erfahrung der Urbeziehung von Mutter und Kind. Im Laufe des Lebens erweitern sich die Beziehungen. Geschwister können hinzukommen. Ich mache die Erfahrung gestörter Beziehungen – wir kennen das Wort von den Beziehungskisten. Beziehungen können gezielt eingefädelt und benutzt werden, wir sprechen dann vom „Vitamin B“. In jedem Falle aber, ob glücklich oder unglücklich, ob heil oder gestört oder gar zerstört, sind Beziehungen da. Sie gehören zu meinem Leben und prägen es entscheidend mit.

Beziehungsloses Leben

Wenn Menschen heute versuchen, Leben selbst herzustellen, Leben aus der Retorte, dann ist das auch der gefährliche Versuch, ein beziehungsloses Leben zu schaffen, das nichts mehr von Mutter und Vater weiß. Solches Leben widerspricht dem Gebot Gottes und zwar nicht zuerst in dem Sinne, dass es verboten ist, um uns den Spaß an der Freude zu nehmen, sondern ganz einfach: in dem Sinne, dass dieses Leben kein von Gott geschaffenes und gemeintes Leben mehr ist. Es ist von Anfang an künstliches Leben, geprägt von einem ungeheuren Verlust der Beziehung, vereinzelt und vereinsamt.

Wie kann ich eine Beziehung zu Gott aufbauen?

Die tiefste und tragende Beziehung im Leben eines Menschen ist für Jesus die Beziehung zu dem, der das Leben geschaffen hat. Aus dieser tragenden Urbeziehung sind viele Menschen herausgefallen. Sie kennen nicht mehr eine das Leben prägende Beziehung zu Gott, sie wissen gar nicht mehr, was das ist. Viele Menschen sind gar nicht gegen Gott, sie wissen mit Gott nichts anzufangen, so, wie ein Findelkind keine Erfahrung mit Vater und Mutter hat. Hier liegt jetzt wirklich der Knackpunkt: Wie kann ich eine Beziehung zu Gott aufbauen?

Wir westlich geprägten Menschen wollen schnelle Erfolge. Ein enttäuschter Teilnehmer eines eintägigen Meditationskurses in einem Kloster erzählte erbittert von der saftigen Teilnehmergebühr. Aber das war’s dann auch, außer Spesen nichts gewesen. Meine ganz persönliche Erfahrung ist: Eine Beziehung zu Gott ist möglich, und sie ist eine wunderbare Lebenserfahrung.

Eine Beziehung zu Gott braucht aber Pflege, so wie jede andere Beziehung auch. Wenn ich meine Blumen nur einmal im viertel Jahr gieße, dann darf ich mich nicht wundern, wenn sie verwelken.

Mich hat der Bericht eines Schweizer Geschäftsmannes bewegt, der sich trotz eines zeitig beginnenden Arbeitsalltages jeden Morgen 30 Minuten Zeit zu bewusster Stille nimmt: und dann während der Fahrt zu seinem Büro auf das Autoradio verzichtet, um nicht gleich wieder von Nachrichten zugeschüttet oder von Musik abgelenkt zu werden. Das ist kein Rezept, schon gar nicht ein Gebot: „Du sollst nicht Autoradio hören!“ Es ist e i n Hinweis, wie ein Mensch sich in seinem Leben täglich um eine Beziehung zu dem müht, dem er sein Leben verdankt.

Wenn Jesus die Beziehung zum Mitmenschen gleichwertig neben die Beziehung zu Gott stellt, so weist er darauf hin, daß die Beziehung zu Gott sich nicht im luftleeren Raum abspielt. Gott hilft mir auf dem Weg zum Nächsten und auch der Nächste kann mir auf dem Weg zu Gott helfen. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten sind ein dichtes Beziehungsgeflecht, das mich hält. Es ist aber auch darauf angewiesen ist, dass ich es nicht hängen und reißen lasse, sondern es immer wieder bewusst mitgestalte.

Amen

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.