“Steh auf…”

Die Heilung eines Gelähmten

Predigttext: Markus 2, 1-12
Kirche / Ort: Ravensburg
Datum: 26.10.2003
Kirchenjahr: 19. Sonntag nach Trinitatis
Autor/in: Pfarrer Andreas Baudler

Predigttext: Markus 12,1-12 (nach der Übersetzung Martin Luthers, Rev. 1984)

1 Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, daß er im Hause war. 2 Und es versammelten sich viele, so daß sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; er sagte ihnen das Wort. 3 Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. 4 Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. 5 Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 6 Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: 7 Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? 8 Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, daß sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? 9 Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? 10 Damit ihr aber wisst, daß der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: 11 Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! 12 Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so daß sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Exegetisch-homiletische Überlegungen

Nicht in allen Fällen können Mediziner helfen. Daher gibt es auch unter uns ein unstillbares Bedürfnis nach übernatürlicher Heilung. Es ist nicht zu unterschätzen, dass nach der jüngsten EKD-Umfrage zur Bedeutung des evangelischen Glaubens gerade die Betreuung von alten, kranken und behinderten Menschen an erster Stelle steht. In diesem Anfangskapitel stellt Markus Jesus als den dar, der von der damaligen religiösen Elite sozusagen von Anfang an und dann freilich zunehmend abgelehnt wird, weil man ihm regelrecht auflauerte, genau beobachtete und vor allem über ihn rätselte. Dennoch: „Nicht dass Jesus Wunder tat, fiel auf, sondern mit welcher Absicht er sie tat“ (Marggraf/ Röhm). Andererseits fällt gerade auch hier auf, dass Jesus in diesem Beispiel keinen körperlichen Kontakt mit dem Kranken hatte und somit schon dadurch als Herr der Lage auffallen musste. Die „Heilung des Gelähmten“ zählt auch gar nicht zu den „anstößigen Wundern“ (K. Berger). So einleuchtend und menschlich nachvollziehbar wirkt diese Schilderung, dass sie einst die Begründerin der Christlichen Wissenschaft (Christian Science) Mary Baker Eddy (1821 – 1910) zur Nachahmung bewegte, vor allem die Worte „Stehe auf!“, die diese augenfällig mit Erfolg auf sich bezog. Das verleitet natürlich dazu, in der geschilderten Heilung eine Art „Methode Jesu“ (Nenneman) wahrnehmen zu wollen. Entweder wurde dieser Mensch gesund, weil ihm eine schwere Schuld abgenommen wurde, oder weil ihm blitzschnell die Einsicht kam, er sei gar nicht „sterblich“ und daher nicht wirklich der seine Lebensfreude vernichtenden Lähmung für immer ausgesetzt. Doch Christian Science unterschätzt freilich die Realität von Sünde bzw. überschätzt einfach die menschliche Natur, als seien Menschen nicht wirklich sterblich. Interessant ist auch eine phantasiereiche Darstellung von Norman Mailer, der in seinem Bestseller „The Gospel According to the Son“ den Geheilten zwar „gesund“ werden und gehen lässt, aber doch „etwas hinkend“ („if he staggered, it was only by a little“ p. 81). Der alte Streit unter Theologen, wie „Menschensohn“ hier zu verstehen ist und vor allem wie Jesus diesen Titel verstand, darf hier ausgeblendet bleiben, ist er auch nicht das, was den Zuhörer heute bewegt. Hier wird auch keiner fragen wollen, ob es zu einem „echten Wunder“ gekommen ist. Beeindruckend ist vielmehr die Art, wie Jesus mit dem Kranken und seinen Freunden umging. Schon darin zeigt sich, dass Jesus mehr als nur ein Weisheitslehrer oder Wanderprediger war. Wie aktuell Borcherts Frage noch ist, belegt eine Titelseite von TIME im vergangenen Sommer, wo gefragt wird: „Wo ist denn Gott hin? Die Kirchen leeren sich und Gott findet nicht einmal eine Erwähnung in der EU-Verfassung.“

Literatur:

Augstein, Rudolf, Jesus. Menschensohn, München: Berthelsmann, 1972. Baruch, Sapir und Neeman, Dov. Capernaum (Kfar-Nachum), History and Legacy, Art and Architecture, Haarlem: Joh. Enschede en Zonen, 1967. Borchert, Wolfgang, Draußen vor der Tür und Ausgewählte Erzählungen, Hamburg: Rowohlt, 1956. Friedrichsen, Gisela. (2003, Aug. 18), „Gerhard Mauz: 1925 bis 2003“, in: Der Spiegel, 152. Galey, Bernard C., L’étymo-jolie: Origines surprenantes des mots de tous les jours, Paris : Tallandier, 1991. Littell, Franklin H., Atlas zur Geschichte des Christentums, dt. bearb. Erich Geldbach, Wuppertal: Brockhaus, 1980. Mack, Rudolf und Volpert, Dieter, Der Mann aus Nazareth: Jesus Christus, Stuttgart: Calwer, 1993. Nenneman, Richard A., The New Birth of Christianity: Why Religion Persists in a Scientific Age, San Francisco: Harper, 1992. Rat der EKD (1967), Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (6. Auflage). Reller, Horst (Ed.) (1978), Handbuch Religiöse Gemeinschaften, Gütersloh: Mohn, 1978. Taylor, Vincent, The Gospel According to St. Mark, London: MacMillan, 1952. Time 16. Juni 2003, Titellseite.

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Liebe Gemeinde!

Kapernaum (hebräisch Kfar-Nachum), der Touristenort, am schönen nordwestlichen Ufer des Sees Genezareth hat eine sonnige Seite. Hier war das Zentrum des Wirkens Jesu in Galiläa. Hier lehrte er mit großen Erfolg. Und bald verband sich mit seiner Wirksamkeit als Lehrer und Prediger auch der Ruf eines Wundertäters. Mehr als zwei Dutzend Einzelheilungen schreiben ihm die biblischen Berichte zu, daneben auch einige Massenheilungen.

I.

In jener idyllisch gelegenen Stadt mit ihrer damals prächtigen Synagoge, die sogar mit einem Seitenraum „für Heiden“ ausgestattet war, so dass hier gottesfürchtige Außenseiter stets willkommen waren, wirkte Jesus sogar die meisten seiner Wunder, darunter auch die hier berichtete „Heilung eines Gelähmten“, nachdem er „wieder“ einmal in „seine Stadt“ (vgl. Mt 9, 1) zurückgekehrt war.

Auch heute wirkt Kapernaum einladend, wenn auch nicht uneingeschränkt, wofür ein am Ortseingang angebrachtes Schild in englischer Sprache sorgt: „Capharnaum, the Town of Jesus – Open daily/ 8.30 – 16.15“.

Kapernaum hat aber auch eine Kehrseite. Aus der einst größten und reichsten Stadt am Galiläischen See ist im Laufe der Zeit ein Trümmerhaufen geworden. Wir können nicht einmal genau sagen, wo sich jenes Haus, von dem im Text die Rede ist, befand. War es das Haus des Simon? Oder vielleicht die alte Synagoge, auf deren Fundamenten immer wieder gebaut wurde? Kriege und aufeinanderfolgende Erdbeben sorgten unerbittlich dafür, dass im Mittelalter kaum noch etwas von der wie „in die Hölle hinuntergestoßene“ (Mt 11, 23) Stadt übrig blieb.

Ein angelsächsischer Mönch (Willibald), der Kapernaum im ausgehenden 8. Jahrhundert aufgesucht hatte, berichtete, dass es dort neben der zerschlagenen Synagoge nur noch „ein Haus und eine hohe Mauer“ gab. Spätere Pilgerfahrer zum Heiligen Grab mieden in der Regel den Ort, von dem sie gehört hatten, dass auch dort alles nur „hitzig, dürr, sandig und steinicht“ sei. „Soll das das gelobte Land sein?“ spottete man (auch Luther!). Und nachdem der Franzose Pierre Belon Mitte des 16. Jahrhunderts dort auch nur noch umgekippte Steine fand, wenn auch zwischen Palmen am Ufer, ging Kapernaum endgültig und sprichwörtlich negativ in die Geschichte ein. Heute noch steht der Ortsname in der französischen Umgangssprache für Verwirrung und Chaos: „C’est un véritable capharnaüm!“

II.

In Kapernaum ist an jenem Tag, als man Jesus den Gelähmten brachte, dennoch nachhaltig Gutes und Beeindruckendes geschehen. Es haben aber nicht alle, die anwesend waren, alles gesehen. Schließlich standen „viele“ schlicht „draußen vor der Tür“ (V. 2). Da fällt einem bei diesem Satz wohl das bekannte Bühnenstück von Wolfgang Borchert ein. Es kehrt einer in seine Heimatstadt zurück, hier in die Trümmerstadt Hamburg am Ende des letzten Weltkrieges. „Das darf doch nicht wahr sein“, denkt er, und fragt unnachgiebig: „Wo ist denn der alte Mann, der sich Gott nennt?“ Nur darauf bekommt der Verzweifelte keine Antwort.

Ganz anders noch damals in Kapernaum. Es standen zwar auch viele „draußen vor der Tür“, aber voll Erwartung und mit großer Hoffnung. Und sie wurden nicht enttäuscht, weil sie nicht zweifelten. Indem Jesus „ihren Glauben sah“ (v. 5), sprach er das aus, was die, die sich nicht im Seitenraum für Gottesfürchtige oder auf Straße vor dem Haus versammelt hatten, als Anmaßung und Überheblichkeit, ja Gotteslästerung „in ihren (engen) Herzen“ auffassen mussten.

Doch gerade darin, dass Jesus diesen bedrückten Menschen mit nur einem heilsamen Wort aufrichtete, erwies er jene besondere Gewalt, die er auch uns, seiner Kirche auf Erden, gegeben hat. Dass er dabei die religiöse Elite in die Schranken wies, muss damals nicht wenigen gefallen haben. Und doch ging er einen Schritt weiter. Er selbst verknüpfte Leiden mit Schuld.

Viele werden sich gefragt haben, ob nicht der Gelähmte irgendwie selbst für seinen desolaten Zustand zumindest mitverantwortlich sei. Aber darauf ging der Menschensohn ja gar nicht ein. Vielmehr weckte der gebrechliche Mensch und dessen Freunde Mitleid in Jesus. Sie suchten lediglich Hilfe, eine Antwort in ihrer Verzweiflung. Sie rechneten mit einer Antwort und sie bekamen sie. Sie waren aber nicht sündhafter als andere.

Ein erfahrener Gerichtsberichterstatter sagte einmal, dass „in jedem Angeklagten, selbst wenn ihm das Grässlichste vorgeworfen wird, man sich immer auch selbst begegnet und der Fähigkeit zu jeglicher Straftat“ (Gerhard Mauz). Man kann es auch mit Paulus und Luther sagen: „Ich bin mir wohl nichts bewusst, aber darumb bin ich nicht gerecht“ (Luthers Wiedergabe von 1. Kor 4,4 in den Schmalkaldischen Artikeln zum „Amt der Schlüssel“).

III.

Nicht nur heilte Jesus den, der ihm zu Füßen lag, sondern er befahl ein Weitergehen: „Steh auf und geh heim!“. Wohl zog der Geheilte beide Worte ganz auf sich. Denn tatsächlich stand er auf, offensichtlich auch ganz ohne fremde Hilfe. Jesus scheint ihm dabei nicht einmal die Hand ausgestreckt zu haben. Uns aber legte er die Schlüssel seiner Macht in die Hände, damit auch wir Barmherzigkeit üben und einander vergeben nicht allein „die groben Sünden“, sondern „auch die subtilen, heimlichen, die Gott allein kennt“ (Luther). Damit erwies sich Jesus in Kapernaum als „wahrer Menschensohn“.

Und wir heute, die vielleicht nur in unserem Glauben gelähmt sind, erweisen uns als seine Jünger in einer weiterhin vom Chaos bedrohten Welt, in der zerstörerische und verderbnisträchtige Mächte längst nicht schon alle gebändigt sind. Doch gerade deshalb bleiben wir darauf angewiesen, uns in heilsamer Gottesfurcht gegenseitig anzunehmen und zu trösten, im Wissen, dass jeder von uns auf Schritt und Tritt, wollend oder nicht wollend, in das Chaos unserer Tage verstrickt und zur eigenen Schuld verstoßen ist.

Wer aber das „Steh auf!“ auf sich selbst und auf seine eigene Situation zu beziehen weiß, der ist geheilt, auch wenn er schon lange wie im Glauben gelähmt am Boden liegt.

Amen.

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