Die Seligpreisungen Jesu – “wessen wir uns erwägen und trösten sollen”
Predigt im ökumenischen Gottesdienst der ACK
Predigttext: Matthäus 5,1-10 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: 3 Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. 4 Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. 5 Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. 6 Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. 7 Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 8 Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. 9 Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. 10 Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt! Amen.
Einige von uns, liebe Gemeinde, werden das wissen: Die Kanzel, auf der ich gerade stehe, war ursprünglich eine katholische Kanzel, in Auftrag gegeben von Jesuiten, die einst in die Stadt Heidelberg kamen, um die protestantische Häresie mit Stumpf und Stil auszutilgen. Gerade steht ein evangelischer Theologe darauf und hält seine Predigt in einem Festgottesdienst zum Gedenken an die Reformation, den evangelische und katholische Christen gemeinsam veranstalten.
Reformationsgedenken feiern wir heute nicht mehr als trotzig-tapfere Selbstvergewisserung von Protestanten gegen ein Meer von Feinden – „und wenn die Welt voll Teufel wär’“, sondern als gemeinsame Besinnung von Christen verschiedener Konfessionen auf die große Reform von Kirche und Theologie im sechzehnten Jahrhundert, auf eine Bewegung, die keinem von uns allein gehört, die uns alle miteinander herausfordert und uns alle zur Dankbarkeit verpflichtet. Ein solches gemeinsames Reformationsgedenken hätten sich weder die katholischen Jesuiten-Patres des frühen achtzehnten Jahrhunderts träumen lassen noch die evangelischen Pfarrer, die damals dort drüben im Hauptschiff jenseits der Trennmauer auf der evangelischen Kanzel gegen den katholischen Irrglauben wetterten.
Wir müssen uns, liebe Gemeinde, solche hocherfreulichen Entwicklungen hin zu gemeinsamen Tun der getrennten Konfessionen gelegentlich wieder in unser Bewußtsein rufen, damit uns die bei manchen Zeitgenossen verbreitete trübe Stimmung in oecumenicis nicht ansteckt: Denen, die uns sagen, mit der Ökumene stünde es schlecht und sie sei in die Krise geraten, rufen wir aus Heidelberg heute abend zu: Schaut Euch mal diese Kirche an, schaut Euch diesen Gottesdienst an – so etwas war viele Jahrhunderte vollkommen ausgeschlossen und ist heute – jedenfalls hier – ganz selbstverständlich und darüber darf man sich von Herzen freu-en, dürfen wir uns alle von Herzen freuen und mindestens singen: „So fürchten wir uns nicht so sehr“.
Wenn wir, liebe Gemeinde, jetzt nach weiteren Gemeinsamkeiten suchen würden, die unsere Kirchen und Konfessionen verbinden, dann würden wir schnell darauf aufmerksam, daß das vorhin gehörte Evangelium aus der Bergpredigt nicht nur der diesjährige Predigttext des evangelischen Reformationsgedenktages am
31. Oktober ist, sondern auch Evangelium und Predigttext des Allerheiligenfestes, das morgen, am 1. November, in den katholischen Kirchen gefeiert wird. In den einschlägigen Handbüchern steht diese, manche unter uns vielleicht überraschende Gemeinsamkeit sehr nüchtern vermerkt: „Der Reformationsgedenktag hat Texte und Motive des unmittelbar folgenden Allerheiligenfestes an sich gezogen“. Historisch betrachtet, kann man das schon so sagen – ein neues Fest, das Gedenken der Reformation, hat die biblischen Texte und Motive von einem wesentlich älteren Fest an sich gezogen. Aber es gibt dieses wesentlich ältere Fest, Allerheiligen, ja immer noch, übrigens auch im neuen „E-vangelischen Gottesdienstbuch“, das in vielen deutschen Landeskirchen verwendet wird, und so haben – wenn auch meist um einen Tag versetzt – evangelische und katholische Christen die Seligpreisungen der Bergpredigt auch in diesem Jahr wieder als Evangelium und Predigttext gemeinsam.
Hören wir, liebe Gemeinde, aber diesen gemeinsamen Text auch auf dieselbe Weise? Oder hören wir ihn als evangelische und katholische Christen verschieden? Wohl wird in evangelischen wie katholischen Kirchen heute und morgen über denselben Text gepredigt. Aber wird über ihn in der selben Weise gepredigt? Kann man über diesen wunderschönen Text aus dem Matthäusevangelium ökumenisch predigen? Oder gibt es nur eine katholische und eine evangelische Version der Predigt über die Seligpreisungen?
Natürlich könnten wir vergleichsweise schnell, liebe Gemeinde, die Karikatur einer richtig „katholischen“ und einer ebenso aufrecht „evangelischen“ Predigt über das vorhin gehörte Evangelium aus der Bergpredigt zusammenbasteln. Vermutlich würde in einer solchen karikaturhaften „katholischen“ Predigt darauf abgehoben, daß Matthäus in der Bergpredigt diejenigen menschlichen Werke nennt, die zur besseren Gerechtigkeit der Christen führen. In den Seligpreisungen sind – so würde unser karikierter katholischer Prediger formulieren – ethische Ermahnungen an uns Christen als Gesetz dekretiert. Die hätten wir gefälligst zu befolgen und die, die sie besonders erfolgreich in ihrem Leben umgesetzt haben, seien eben die Heiligen, derer wir am Allerheiligenfest gedenken. Selig und glücklich gepriesen würden in unserem Text doch die, die etwas tun oder etwas erleiden, sie erhalten ihren Lohn im Himmelreich. Wie heißt es schließlich wenige Verse später im Evangelium: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen“. Soweit die Karikatur einer katholischen Predigt über unser Evangelium.
Wollte man auch einen evangelischen Prediger karikieren, so müßte man ihn sagen lassen, daß man ja schon bei Paulus lernen könne, daß der Mensch „ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ gerecht würde. Matthäus habe das leider nicht sehr gut verstanden und deswegen müsse sein Evangelium im Lichte des paulinischen Römerbriefes ausgelegt werden. Natürlich seien die selig, die geistlich arm sind, aber sie seien es doch nur ganz ohn’ ihr eigen Verdienst und Würdigkeit allein aus lauter Gnade. Soweit die Karikatur einer evangelischen Predigt über die Seligpreisungen. Ob wohl hier in dieser Kirche, als zwischen Langhaus und Chor noch eine hohe Trennmauer stand, so über unseren Text gepredigt wurde? Ob wohl Jesuiten so von der katholischen Kanzel hier vorn und reformierte Prediger von der verschwundenen evangelischen Kanzel dort hinten so geredet haben? Wir wissen es nicht genau und das ist vermutlich auch besser so.
Natürlich könnten wir jetzt, liebe Gemeinde, solche trüben Karikaturen hinter uns lassen und gemeinsam überlegen, ob evangelische und katholische Christen die Seligpreisungen der Bergpredigt nicht tatsächlich etwas verschieden lesen und entsprechend auch die Predigten der verschiedenen Konfessionen heute und morgen unterschiedliche Akzente setzen. Wir wären dann im Grunde bei der ebenso spannenden wie umfassenden Frage, welche Unterschiede uns ungeachtet aller Gemeinsamkeiten noch trennen, wenn wir von Rechtfertigung reden. Da in diesem Jahr aber nicht die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ im Mittelpunkt unseres Gottesdienstes steht, sondern die Seligpreisungen, möchte ich lieber fragen, was die in Akzenten unterschiedlichen Auslegungen der Konfessionen schon heute verbindet und nicht weiter nach den Unterschieden suchen.
Wir sind uns sicher alle darin einig, daß Jesus von Nazareth in den Seligpreisungen eine Gegenwelt beschreibt, die kein Mensch auf Erden mit noch so großer Anstrengung aus eigener Kraft realisieren kann.
In unserer Welt besitzen die Sanftmütigen nicht das Erdreich, es wird ihnen vielmehr von den Gewalttätern immer wieder genommen. Sechs Wochen im Nahen Osten haben es mir im September wieder in aller Brutalität vor Augen geführt: Die gemeinsame Friedensdemonstration von israelischen und palästinensischen Professoren in Jerusalem ging in einem Hagel von Steinen unter, die von Radikalen aufgehetzte Jugendliche auf beide Seiten warfen; das von Juden und Arabern gemeinsam frequentierte Restaurant flog in die Luft, weil die Gewalttäter den Sanftmütigen das Erdreich nicht überlassen wollen.
Natürlich werden in unserer Welt auch die, die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, nicht gesättigt, sondern solche Menschen müssen hinnehmen, wie Tag für Tag und Stunde um Stunde neue Ungerechtigkeit begangen wird – das beginnt inzwischen schon bei unser alltäglichen Sprache: Wer denkt, wenn er wie viele Politiker heute über Zwangsarbeit für arbeitsunwillige Sozialhilfeempfänger redet, eigentlich an die vielen Behinderten, die von dieser staatlichen Form der Unterstützung leben müssen, weil es viel zu wenig passende Arbeit für sie in unserer Gesellschaft gibt?
Wer barmherzig ist in dieser Welt, der erfährt in aller Regel nicht Barmherzigkeit, sondern wird bestenfalls in einer leistungsorientierten Gesellschaft als leicht sonderbarer Traumtänzer belächelt.
Und auch den Friedfertigen geht es nicht besonders gut in unseren Tagen: Da schreiben ein paar Geheimdienstleute aus dem Internet und anderen halbgebackenen Quellen rasch etwas von Massenvernichtungswaffen zusammen und bestürzend schnell setzt sich eine Militärmaschinerie gigantischen Ausmaßes in Bewegung.
Muß ich noch über Verfolgte reden oder über die Menschen, die reinen Herzens sind? Nein, liebe Gemeinde: Die Seligpreisungen der Bergpredigt sind nicht zuallererst ein Katalog voller ethischer Forderungen, ein Programm für eine Welt, die wir heute oder morgen aufrichten könnten, für eine Welt, die gar irgendwo schon realisiert ist oder war – nein, die Seligpreisungen der Bergpredigt sind zunächst ein göttlicher Protestschrei gegen diese finstere, arge Welt, in der wir leben, die apokalyptische Programmschrift Jesu für die ganz anderen Zustände im Reich Gottes. Unsere erste Reaktion kann daher auch nicht sein, darauf zu hoffen, wir könnten aus eigener Kraft solche Verhältnisse heute oder morgen herstellen; unsere erste Reaktion sollte vielmehr die Bitte sein, die im Evangelium des Matthäus bald auf die Seligpreisungen folgt: „Dein Reich komme“.
Alles, was ich bisher gesagt habe, habe ich in einem ökumenischen Gottesdienst von einer Kanzel gesagt, die Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von einem katholischen Orden in Auftrag gegeben wurde – alles habe ich mit Rücksicht darauf gesprochen, daß wir uns heute abend quer durch die verschiedenen Kirchen und Konfessionen gemeinsam an die Reformation des sechzehnten Jahrhunderts erinnern. Weil wir uns aber an die Reformation erinnern, muß auch die Frage erlaubt sein, was uns diese spezifische kirchliche Reformbewegung zum Verständnis unseres Predigttextes hilft, zum Verständnis des Evangeliums für heute und morgen. Weil wir heute abend gemeinsam an die Reformation denken, muß die Frage gestellt werden, ob wir im Lichte der reformatorischen Entdeckung eines Martin Luther und seiner vielen Freunde und Mitarbeiter die Seligpreisungen des Matthäus auch noch anders und vielleicht sogar besser verstehen können.
Wenn man Predigten des Wittenberger Pfarrers Martin Luther über die Seligpreisungen durchsieht, fällt auf, daß der Reformator diesen Text für ein besonders tröstliches Evangelium hielt, für eine gute Nachricht, die Menschen aufmuntert und fröhlich macht. Für Luther sind die Seligpreisungen ein besonders charakteristisches Beispiel dafür, was das ganze Evangelium will und kann: Sie sind wie das ganze Evangelium Texte, die Menschen trösten, wenn sie ihnen auf den Kopf zugesagt werden.
Der eigentliche Kern der reformatorischen Entdeckung Martin Luthers, in deren Zusammenhang vermutlich auch die Ereignisse am Vorabend des Allerheiligenfestes 1517 standen, war die Erkenntnis, daß das Wort Gottes nicht nur vom Trost redet, sondern tröstet, in seiner Formulierung „zubringt, was es sagt“. Und so, wie das ganze Evangelium für Luther getrost machendes, lebendiges Wort Gottes ist, das Gnade nicht nur zuspricht, sondern bewirkt, so verstand er auch die Seligpreisungen der Bergpredigt als Worte, die zuallererst Trost schenken wollen, Trost beispielsweise für die, die Leid tragen, beispielsweise für die Sanftmütigen – Trost für uns, die wir diese Worte hören sollen, wenn wir Leid tragen, bekümmert sind oder wegen unserer Barmherzigkeit und Sanftmut verspottet werden.
An den Seligpreisungen, so sagt Luther einmal in einer Predigt, können Christenmenschen lernen, woran sie sich in Kümmernissen halten sollen, „wessen wir uns erwägen und trösten sollen“ (WA 52, 552,9-15). Und in einer anderen Predigt nennt er die Seligpreisungen „eine liebliche Reizung und Lockung, mit der Gott uns dazu Lust macht, fromm zu sein; es muß von selber folgen, wir sollen’s nicht suchen, sondern es ist eine gewisse Folge des guten Lebens“ (WA 10/III, 401,16-20).
Unsere alltägliche Bitte, daß Gottes Reich kommen möge, geht nicht ins Leere, liebe Gemeinde. Die Gegenwelt Gottes bricht mitten in unserer argen, finsteren Welt an, wenn Menschen, die Leid tragen getröstet werden, wenn tatsächlich einmal Sanftmütige das Erdreich besitzen und nicht die Gewalttäter, wenn die, die nach Gerechtigkeit hungern, irgendwo wirklich einmal satt werden, wenn die Friedfertigen gepriesen werden und nicht die Kriegstreiber und wenn die Verfolgten das Himmelreich auf Erden erleben. Gelegentlich haben wir das auch schon erlebt, am eigenen Leibe oder als staunende Zeugen der neuen Realität Gottes inmitten dieser alten Welt. Von der Reformation des sechzehnten Jahrhunderts können wir lernen, daß der Fürst dieser Welt, „wie sau’r er sich stellt“, durch „ein Wörtlein“ gefällt werden kann. Es braucht keine Revolution, um einen trauernden Menschen zu trösten, es braucht keine radikale Umwälzung aller Verhältnisse, damit wenigstens einem Sanftmütigen das Erdreich gehört, keinen komplizierten Versöhnungsprozeß, damit die Gerechtigkeit wenigstens punktuell siegt – oft genügt ein einziges Wort.
Von Luther und den anderen Reformatoren können wir lernen, daß die Worte der Bibel und insbesondere die Worte der Bergpredigt diese weltumstürzende Macht haben, Menschen zu trösten und Gerechtigkeit zu schaffen.
Wenn wir heute abend in Heidelberg an die Väter und Mütter der Reformation denken wollen, dann müssen wir wahrnehmen, daß diese weg von sich auf die Bibel weisen – sola scriptura, allein die Schrift –, uns an Gottes starkes, heilendes Wort weisen, das Trauernde fröhlich macht, Einsame tröstet, Verzweifelten wieder Mut gibt und Tote auferweckt. Wenn wir diesen, ihren Ruf zur Bibel hören und in unserem Leben beherzigen, dann dürfen wir herzlich gern weiter mit katholischem oder evangelischem Akzent heute oder morgen über die Seligpreisungen nachdenken, Reformation oder Allerheiligen feiern, uns in der einen oder anderen Konfession zu Hause fühlen. Denn wir haben uns dann an die eigentliche, unzerstörbare Gemeinsamkeit aller Christen erinnert, die zugleich auch der eigentliche Grund aller ökumenischen Hoffnung ist. Amen.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.