Gott misst Zeit anders als Newton
Predigttext: Lukas 17,20-24
(Übersetzung weitgehend nach Martin Luther, Revision 1984, mit drei Änderungen: V 20 statt „beobachten“ – nämlich v. a. astronomisch der Himmelserscheinungen – ist interpretierend als „berechnen“ übersetzt; V 22 ist sozialgeschichtlich um die „Jüngerinnen“ ergänzt und wörtlich präzisiert auf „es werden Tage kommen “ statt Luthers „es wird die Zeit kommen“.) 20 Als er (Jesus) aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s berechnen kann; 21 Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch. 22 Er sprach aber zu den Jüngern und Jüngerinnen: Es werden Tage kommen, in denen ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen. 23 Und sie werden zu euch sagen: Siehe, da! Oder: Siehe, hier! Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach! 24 Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.Vorbemerkungen
Die Predigt legt den Schwerpunkt auf die Nicht-Berechenbarkeit des Reiches Gottes und vor allem auf die Gleichzeitigkeit von „noch nicht“ und „schon jetzt“. Damit ist die homiletische Entscheidung getroffen, an diesem drittletzten Sonntag des Kirchenjahres weniger das Reich Gottes als solches zu bedenken, hier sollte die Schriftlesung (und die liturgischen Teile!) diese Kontexte vergegenwärtigen. Ich habe versucht, in der „Übergangszeit November“ das Thema von ungewohnter Seite anzugehen, nämlich vom Zeitverständnis, und mit der Forderung ernst zumachen, die in den aktuellen Zeit-Diskussionen und -Diskursen der Naturwissenschaften, der Philosophie und der Theologie erhoben werden: Die alten Denk-Pfade zu verlassen und sich der Wirklichkeit wirklich zu stellen. Ein dualistisch-dichotomisches Weltverständnis ist stets von Übel, hier wird sich konkret am Beispiel der „Zeit“ zeigen, wie es einem tieferen Verständnis im Wege stehen kann, auch und gerade bei der Erwartung des Reiches Gottes. Was dabei theologisch zu sagen ist, ist nicht neu, vielleicht aber, i>wie es gesagt werden kann. Dem entsprechend schlage ich vor, als Predigttext nur Lk 17,20-24 zu lesen und 25-30 zurückzustellen und damit auch den Kontext der „apokalyptischen Jüngerbelehrung“. In den verbliebenen VV ist der doppelte zeitliche Aspekt des Gottesreiches bereits genannt(V 21 präsentisch, V 24 ausstehend). Die Beispiele in V 26.27 sind zwar wunderbar plastisch, enden jedoch in der Zerstörung. Dies und die VV 29.30 würden eigentlich eine Auseinandersetzung mit apokalyptischen Szenarien erfordern, was ein eigener Schwerpunkt sein könnte oder müsste – wozu sich in einer anderen Predigt sicher einmal Gelegenheit bieten wird oder geboten hat. Zumindest meine (ehemalige) Gemeinde ist dieser zur Milleniumswende und zum 11. September sehr virulenten Themen inzwischen etwas überdrüssig. Ein weiteres Problem habe ich implizit entschärft: Die Pharisäer gerinnen häufig – und sozialhistorisch meist nicht angemessen – zur Negativschablone. In Lk 17,20 haben sie diese Rolle nicht inne, und so habe ich ihre Frage als exemplarisch für auch noch unsere Fragen eingeleitet. Insgesamt hat diese Predigt eine leichte philosophische Schlagseite. Ich baue aber auf die oft gemachte Erfahrung, dass Prolegomena, werden sie nur elementar und mit Überzeugung vorgetragen, die Menschen durchaus zu fesseln vermögen. Mit einem „Kanzelton“ würde sich das allerdings nicht vertragen...Literatur:
Achtner, Wolfgang/ Kunz, Stefan/ Walter, Thomas: Dimensionen der Zeit. Die Zeitstrukturen Gottes, der Welt und des Menschen, Darmstadt 1998 du – Die Zeitschrift der Kultur, Heft Die Zeit 10/1997 Erlemann, Kurt: Endzeiterwartungen im frühen Christentum, Tübingen/ Basel 1996 Jackelen, Antje: Zeit und Ewigkeit. Die Frage der Zeit in Kirche, Naturwissenschaft und Theologie, Neukirchen 2002In welchen „Zeiten“ dieser Sonntag verortet ist und in welchen Fragen der Predigttext
Liebe Gemeinde,
unser heutiger Sonntag trägt ein Datum, das markant ist für viele Zeiten: 9. November.
1620: Die Pilgerväter sind in Amerika gelandet.
1918: Kaiser Wilhelm II muss abdanken, die „Deutsche Republik“ wird ausgerufen.
1938: Reichpogromnacht gegen die jüdischen Mitmenschen, wo sie nicht mehr als Mitmenschen betrachtet wurden
1989: Öffnung der innerdeutschen Grenze durch die DDR
All diese Daten haben eine lange Weiterwirkung, haben große Auswirkungen bis heute, man muss nur überlegen: Wie wäre es weitergegangen, wenn das nicht geschehen wäre? Es sind Zeit-Punkte, die als „Vergangenheit“ betrachtet werden können, aber sie wirken immer noch in die Gegenwart.
Unser Sonntag heute ist auch der Beginn der Ökumenischen Friedensdekade, er ist der drittletzte Sonntag des Kirchenjahrs, er ist ein Herbstsonntag – Viele verschiedene Aspekte, viele verschiedene Haftpunkte, von jedem aus könnte man diesen Sonntag bestimmen wollen, und doch gehören sie alle zusammen: Man kann sich auch nicht sein Lieblingsereignis aussuchen und die anderen als ungeschehen betrachten.
Ein markanter Sonntag.
Und damit ein Beispiel dafür, wie sehr wir in verschiedene Zeitläufe und Zeitrechnungen eingespannt sind.
Nun, Sie haben wohl schon vermutet, dass ein Sonntag als solcher nicht gerade das Thema einer Predigt sein wird. Nein, wird er nicht, doch zeigt uns dieser Tag, dass Zeiten und Zeitpunkte gar nicht so eindeutig sind, wie wir manchmal meinen, dass da viele Schichten und Geschichten nebeneinander her laufen.
Und doch hätte man manchmal gern Eindeutigkeit. Besonders darin, wie sich das denn bitteschön sortieren könnte…
und wär’s nicht manchmal schön, wenn einfach auf einen Schlag alles besser wäre!
„Der liebe Gott soll’s doch bitte mal richten“ – also, ich ertappe mich regelmäßig bei dieser Ungeduld, wenn mir die Welt gerade mal wieder gar nicht christlich und mitmenschlich erscheint. Oder steht die Frage im Raum „Wo ist nun dein Gott?“(Psalm 42!)Das alles kann zu theologischen Überlegungen, Meditationen, Disputen führen.
Und außerdem wurden bekanntlich zu allen Zeiten Jahr und Datum errechnet, wann das Reich Gottes denn anbrechen würde…
All das kann hinter der Frage stehen, die an Jesus herangetragen wurde. Sie und Jesu Antwort sind der Predigttext für unseren heutigen Sonntag, Lukas Lk 17,20-24:
– Lesung des Predigttextes Lukas 17,20-24 –
Wir leben in verschiedenen Zeiten
Liebe Gemeinde, da begegnet uns das Problem im Munde Jesu: „Es werden die Tage kommen, in denen ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.“
Berechnen lässt sich das also nicht, und es kommt auch nicht unbedingt dann, wenn man es sich am meisten wünscht. Also: „Wo ist denn dein Gott? Wo ist denn mein Gott?“
Als echte Frage ist das sehr berechtigt, aber als Antwort wär’s ein bisschen simpel, im Sinne von „Wusste ich doch: Gibt’s nicht.“
„Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s berechnen kann.“ Ist es dann so weit weg, wie uns das manchmal vorkommen kann?
Dann würden wir jetzt ja ganz ohne leben müssen? Dann würden wir heute wohl nicht miteinander Gottesdienst feiern! „Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Bei euch, mit euch, da.
Wir leben also in zwei Zeiten: in der Zeit der Erwartung und in der Zeit der Erfüllung.
Insgesamt ist das paradox, aber fühlen können wir das wahrscheinlich besser als denken! Es ist doch nicht alles schlecht,
es gibt so schöne Begegnungen mit anderen Menschen, es gibt die Momente der Gewissheit „Gott ist bei mir“, es gibt Projekte, in denen Menschen nachhaltig dazu verholfen wird, menschenwürdig zu leben,
es gibt – – – – vieles, was Ihnen jetzt einfallen kann, – – – – – – – – – – – – – –
Wir feiern in jedem Gottesdienst, dass da etwas vom Reich Gottes schon unter uns ist, und beten dennoch: Dein Reich komme! Wir gehen jetzt auf die Advents- und Weihnachtszeit zu, in der wir uns ver-gegenwärt-igen, gegenwärtig machen, dass Jesus gekommen ist, dass das für uns Bedeutung hat, und doch glauben und wissen wir, dass da noch etwas aussteht. Das Denken könnte daran manchmal irre werden, aber da haben wir ja, wie gesagt, unseren heutigen Sonntag als Übung: Jahreszeitlich ein Herbstsonntag, und gleichzeitig versetzt uns das Kirchenjahr in eine andere Zeitrechnung, in der das Jahr mit dem Advent beginnt und nicht mit dem Januar. Da leben wir doch zum Beispiel schon in zwei Zeiten, und das ist keinerlei Problem!
Eine andere Sichtweise der Zeit- Zeit ist nicht eindimensional und nur linear
Dass wir es manchmal so gerne eindeutig hätten, ist schon eher ein Problem, und dass wir das vor allem bei unserem Verständnis von Zeit zu Grunde legen, erst recht. Das kann ein Punkt sein, an dem wir im Spagat sind zwischen Denken und Fühlen, ein Spagat, den uns unsere Neuzeit beschert hat und den die Bibel so nicht turnt. Die Newton’sche Physik hat Zeit als eine absolute Größe definiert. Messbar. Linear. Fortschreitend. Und die Aufklärung hat uns gelehrt, dass die Menschheit immer zum Besseren fortschreitet.
Bloß – so erleben wir das nicht unbedingt.
Zeit und Geschichte sind nicht nur eindimensional, linear, das Fortschreiten auf einem Zeitstrahl bis zu einem Ziel, der „Erfüllung der Geschichte“. Spätestens, wenn wir dieselben Fehler zum so-und-sovielten Male wieder machen oder erleben, denkt man eher an „die Wiederkehr des ewig Gleichen“.
Aber auch ganz positiv gibt es die „zyklische Zeit“, die wiederkehrenden Jahreszeiten, ebenso die Kirchenjahreszeiten, verschiedene Rhythmen,
der Geburtstag ist ein schönes Beispiel für das Ineinander von zyklisch und linear: Alle Jahre wieder, und doch ist man stets älter und steht nicht mehr da, wo man früher stand.
Warum also sollte Gott mit Newtons Zeit messen? Die Bibel bezeugt vielmehr, dass Gott allen Phänomenen und Ereignissen ihr eigenes, spezifisches Zeitmaß zugedacht hat, die Gottes Zeit alle umgreift. Das ist nicht mathematisch verrechenbar, aber geht doch zusammen.
Zeiten sind da oft Erwartungshorizonte,
es geht um die gefühlte Zeit,
es geht um die gefüllte Zeit,
es geht um die qualitative Zeit, um die Qualität dessen, was sich ereignet, und viel weniger um die Quantität, die messbare Menge.
Wenn wir ein Denken verabschieden, das uns zum „entweder-oder“ zwingt, „das Reich Gottes ist da oder es ist nicht da“,
heißt das nicht etwa, fromm in vorwissenschaftliche oder unwissenschaftliche Kategorien zu gehen, um sich den Glauben zu retten um den Preis des Denkens oder der Gesprächsfähigkeit mit den Naturwissenschaften. Hier heißt das schlicht, in den heutigen Stand der Diskussion einzusteigen.
Bei Albert Einstein sieht alles schon ganz anders aus, für ihn ist die Größe der Zeit von allerhand Faktoren abhängig und keinesfalls absolut. Er hat sogar mehrfach geäußert, dass das Vergehen der Zeit ein subjektiver Eindruck sei, dem keine physische Realität entspricht – also das glatte Gegenteil des Newton’schen Messens. Die heutige physikalische Zeit kennt kein lineares Vorher, Jetzt und Dann.
Oder ist philosophisch zu lernen, dass Zeit gleichzeitig stehend und strömend ist und keinesfalls eindimensional. Und haben Sie gewusst, dass der natürliche Schlaf-Wach-Rhythmus eines Menschen langsamer ist als die rund 24 Stunden, die durch den Sonnenlauf vorgegeben sind? Ein „rein natürliches“ Zeitmaß gibt es für uns also gar nicht, die Zeit unserer „inneren Uhren“ und die Zeitrhythmen in Natur und Gesellschaft müssen immer wieder neu synchronisiert werden. – Das heißt übrigens wörtlich: „zusammengezeitet“ –
Das lässt doch zuallermindest den Schluss zu, dass wir unser persönliches Zeitempfinden ernst nehmen dürfen – und damit bekommen die einzelnen Zeiten oder Momente, in denen wir etwas vom Reich Gottes spüren, ein ganz anderes Gewicht, brauchen wir das nicht klein machen gegenüber der „großen“ Geschichte.
Natürlich soll nun nicht durch Ausblenden allen Übels und striktem Positivsehen die Welt schöngeredet werden und das Reich Gottes als komplett herbeigeredet, da hätten wir eine sofortige prophetische Kritik verdient.
Aber wir werden an dieser Stelle aus dem Zwang zur Eindimensionalität erlöst (die Menschen zur Zeit Jesu hatten das Problem nicht in unserem neuzeitlichen Maße)
und können, gut philosophisch und naturwissenschaftlich abgesichert, fühlen und wahrnehmen, was wir fühlen und wahrnehmen.
Dass manche Stunden gar nicht vorbeigehen wollen, in der Schule, im Geschäft, beim Warten,und andere so schnell verfliegen,
dass Augenblicke zur Ewigkeit werden, weil sie so intensiv sind, dass Tage davonrasen, obwohl die Zeit manchmal so schleicht – – – –
dass sich „Zeit“ ganz anders anfühlt als das ebenmäßige Verstreichen gleicher Einheiten, auch wenn wir sie so strukturiert haben,
dass die „gefühlte Zeit“ neben der gemessenen steht oder ganz quer zu ihr verlaufen kann.
Das macht es doch deutlich leichter, das Reich Gottes dann auch nicht ans Ende der Zeiten setzen zu müssen –oft ist das dann der Sankt-Nimmerleins-Tag, mit dem man also nicht wirklich rechnet – , sondern auch hier von der Gleichzeitigkeit wirklich auszugehen: Ein solches Nebeneinander ist nicht etwa ein Mythos, sondern tiefste Realität. Und es liegt an uns, welche der Zeiten wir als für uns die maßgeblichen annehmen.
Etwas später kommt als Beispiel in dieser Jesusrede: „sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie ließen sich heiraten, sie kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie bauten“ – und auf einmal kann alles anders werden.
Wir werden alle die beiden Seiten kennen:
Das Alltagsgeschäft – und wie man plötzlich in einer ganz anderen Welt landen kann, wenn etwas in den Alltag einbricht, Krankheit, Tod, oder ebenso etwas besonders Schönes.
Wie ein Blitz. Schlagartig erscheint alles in anderem Licht. Quer zum normalen Zeitlauf, nicht als dessen Fortsetzung.
So kündigt es Jesus auch in unserem Predigttext an. Und so kann Gottes Licht auch immer wieder in unser Leben einbrechen, Augenblicke zur Ewigkeit machen, und die Zeit Gottes aufscheinen lassen. Uns mit anderen Dimensionen verbinden als den alltäglichen, dass wir in diesen dann gestärkt weitergehen können.
Der Sauerteig mitten unter uns
“Die Tatsachen, die die Welt ausmachen,-
sie brauchen das Nichttatsächliche,
um von ihm aus erkannt zu werden” hat Ingeborg Bachmann formuliert.
Das Nicht-Tatsächliche:
was noch nicht ist,
was über den Alltag, was über die Welt von ihrer trüben Seite, hinausgeht,
was staunen lässt, hoffen,
unseren Horizont aufreißt,
zukunftsoffen, erwartungsvoll.
Nicht: „Rechnet euch das Reich Gottes aus“, sondern: „Siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Dafür hat uns Jesus ja ein wunderschönes Gleichnis gegeben, das sowohl Lukas als auch Matthäus überliefert haben:
„Das Himmelreich gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter einen halben Zentner Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war“. Wörtlich heißt es auch noch “die Frau verbarg den Sauerteig” unter dem Mehl – und dann sieht man erst einmal gar nichts. Vom Reich Gottes.
In diesem Brotgleichnis werden aus dem Teig insgesamt etwa fünfzig Kilo Brot – eine ganz außergewöhnliche Menge, die viele, viele nährt, und dafür steht es auch. Ein Alltagsgleichnis für unseren Alltag: Kraft, das Nötige einbringen und – dann wirkt’s weiter. Alles muss man gar nicht selbst machen. Das ist durchaus eine Aufforderung zum Gottvertrauen.
Sehen wir Zeit als einen Raum für viele Gleichzeitigkeiten, da geht der Teig!
Wenn uns die Physik heute lehrt, dass alles in Raum und Zeit relativ zueinander in Bewegung ist, also auch immer in Verbindung und Beziehung, dann sind die Verbindungen und Beziehungen das eigentlich Wichtige, und wo sie sich hinbewegen. Sehen wir sie, und leben wir sie mit der Zusage Jesu: “Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“
Amen