“Vielleicht bringt er doch noch Frucht” oder: Mut zum Glauben an eine überraschende Wende
Gottes Großzügigkeit - unsere Chance
Predigttext: Lukas 13,1-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
1 Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte. 2 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? 3 Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. 4 Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen, die in Jerusalem wohnen? 5 Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. 6 Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. 7 Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum, und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft? 8 Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; 9 vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.Vorbemerkungen
Zu Text und Predigt: Die vorliegende Predigt nimmt Lukas 13,1-9 als Ganzes in den Blick: Vom fragwürdigen Schicksal der unbestimmt Vielen geht der Fokus auf das eigene Leben im Angesichte Gottes. Die Bußfertigkeit des Einzelnen ist gefragt, um der Zukunft eine hoffnungsvolle Wende zu geben. Mit dem Gleichnis vom Feigenbaum vertieft Jesus die Problematik: Wer über Jahre keine Früchte bringt, verliert seine Existenzberechtigung. An diesem Punkt tritt das Evangelium zutage: Jesus bittet um ein weiteres Jahr der Geduld. Er will sich um den unfruchtbaren Baum mühen und sogar investieren. Die Hoffnung hat ihre Chance. Vor dem Hintergrund des "zu spät" leuchtet die Großzügigkeit Gottes auf. Gestaltungsvorschläge: Nach der Predigt ein Orgelinstrumental zum Nachschwingen der Predigtgedanken. Erst dann das Lied nach der Predigt singen lassen. Wenn möglich im Buß- und Bettagsgottesdienst von der gewohnten Liturgie abweichen und Texte mit Instrumentalstücken (es können auch andere Instrumente Verwendung finden) abwechseln, um Raum zur Nachdenklichkeit zu geben. Weniger gesprochenes Wort tut gut. Mehrere Sprecher/innen nehmen die Monotonie. Wiederholungen nicht scheuen. Sie vertiefen. Zwei meditative Prosagedichte von Kurt Rainer Klein: OHNE FRÜCHTE Ich bin wie ein Baum gepflanzt, um gute Früchte zu bringen, an denen sich laben können, die sie ernten werden. Was aber, wenn mir die Kraft fehlt, das Klima zu rau ist, das Wasser abgegraben wird? Was aber, wenn die Früchte, die ich bringen soll, ausbleiben oder schon faulen, ehe sie reif geworden sind? Dann spüre ich die Verachtung, die auf mir lastet, den Druck, der unerträglich wird, das Ende, das abzusehen ist. Wer gibt mir noch eine Chance? Vielleicht sind die Bedingungen im kommenden Jahr ja besser?! DER FEIGENBAUM (nach Lukas 13,6-9) Der Feigenbaum ist nicht feige. Warum denn immer die Erwartungen anderer erfüllen? Wahre Liebe erfährt man erst, wo man sie sich nicht verdient hat. Bonmot "Es amüsiert mich immer, wenn Menschen all ihr Unglück dem Schicksal, dem Zufall oder dem Verhängnis zuschreiben, während sie ihre Erfolge oder ihr Glück mit ihrer eigenen Klugheit, ihrem Scharfsinn oder ihrer Einsicht begründen." (S. T. Coleridge)1. Die Frage nach der Schuld
Tagtäglich erfahren wir aus den Medien von diesem oder jenem Unglück. Wo Menschen dabei ihr Leben verloren haben, sind wir besonders betroffen. Denn immer bedeutet das ja: Es hätte auch uns treffen können! Solange wir aber von dem Unglück anderer hören oder lesen, hat es uns selbst noch nicht getroffen. Dann werden wir allenfalls betroffen sein.
Wenn wir heute verschont geblieben sind, kann es uns dann morgen treffen? Wer wollte uns versichern, dass das nicht so sein könnte! Eine Schutzgarantie haben wir nicht und das mag uns erschrecken lassen. Noch einmal verschont geblieben oder davon gekommen, stehen wir neu vor möglichen Gefahren.
Bei allen Unglücken stellen wir schnell die Frage, wo die Schuld zu suchen ist. Wir brauchen eine Erklärung, die uns verstehen hilft. Wir brauchen Koordinaten, über die uns das Unglück zu uns selbst einordnen helfen. Wer oder was ist schuld an dem, was wir nicht begreifen können?
Thornton Wilder beschreibt in “Die Brücke von St. Luis Rey” einen fürwitzigen Mönch, der das Ereignis des Unglücks zu verstehen
sucht. Fünf Menschen waren mit einer Hängebrücke abgestürzt. Fünf ganz verschiedene Menschen. Warum hat sie das gleiche Schicksal zur gleichen Zeit am gleichen Ort ereilt? So fragt der Mönch und beginnt nachzurechnen. Das muss doch auszumachen sein. Er spürt dem Vorleben der Fünf nach und meint, wenn er alle Daten ihres Lebens wisse, er auch wisse, weshalb Gott sie zur selben Stunde dem Tode preisgab. Schließlich haben sie den Mönch als Ketzer verbrannt.
Und was hat es mit denen auf sich, die von Pilatus mit ihren Opfertieren getötet werden? “Warum gerade sie?” fragen die zu Jesus Gekommenen. Was haben sie verbrochen, das ihnen das widerfahren ist? Unausgesprochen zeigt sich ein Gedanke, der sich hintergründig verbirgt. Nämlich, dass eine besondere Schuld zur Voraussetzung eines solchen Schicksals gehört. Schnell gehen die Betrachter mit diesem Verdacht auf Distanz. ‘Mir kann so etwas ja nicht passieren!’ Wieso? Weil die unausgesprochen vermuteten Voraussetzungen bei mir nicht gegeben sind, bin ich auf sicherem Boden.
2. Die Antwort des eigenen Lebens
“Nein, Ihr macht es Euch zu einfach!” Jesus durchschaut diese Denkweise und führt ein eigenes Beispiel an. “Was sagt ihr zu den
Achtzehn, die vom Siloa-Turm erschlagen wurden?” Er schaut die an, die vor ihm stehen und schweigt. Er gibt ihnen Zeit zum Atmen und Nachdenken. Mag sein, dass sie alle keine Engel gewesen sind. Wenn wir genauer hinschauen, werden wir bei jedem etwas finden, was er schuldig geblieben ist oder was ihn vor Gott und den Menschen schuldig macht. Aber Vorsicht! Mit Eurer Meinung, dass diese Achtzehn an ihrem Schicksal selbst schuld gewesen sind, könnt ihr euch nicht aus dem Staub machen, den dieser Turm im Fallen aufgewirbelt hat. “Macht Euch nichts vor”, sagt Jesus “die achtzehn Erschlagenen sind nicht schuldiger als Ihr es seid.”
Jesus hebt die Distanzierung der Betrachter von diesen schrecklichen Ereignissen auf. Sollten sie der Meinung gewesen sein, besser als diese zu Tode Gekommenen zu sein, reißt sie Jesus aus ihrer Illusion heraus. “Macht Euch nichts vor, um Euch in Sicherheit zu wiegen!” Er lenkt den Blick weg vom Betrachten Anderer auf uns selbst und unser eigenes Denken, Tun und Trachten. Es gibt keine schlüssige Theorie eines Schuld-Schicksal-Zusammenhanges. Aus dem Schicksal Anderer können wir unser eigenes Schicksal nicht ableiten. Alle Vergleiche hinken. Jeglicher Scharfsinn geht ins Leere. “Schaut auf Euch selbst” mahnt Jesus, “und lasst diese Ereignisse eine Mahnung für Euch sein!”
Wir werden die Frage “Wieso hat es gerade die getroffen?” nicht beantworten können. Spannender ist vielmehr die Frage – und
darauf lenkt Jesus unseren Blick: “Wieso bin ich es nicht gewesen!” Zu dieser Frage kann uns jedes Unglück führen, das wir wahrnehmen. Es hätte freilich auch mich treffen können. Womit haben wir es verdient, noch Zeit zu haben – zum Nachdenken über unser Leben, zum Infragestellen unseres Tuns und Trachtens, zum Gott um Vergebung bitten?! Zu diesen Prozessen gibt Jesus uns einen Impuls oder ‘Kick’, wie wir heute sagen.
Und wenn wir dann bei der Betrachtung unseres eigenen Seins angelangt sind, lässt Jesus uns nicht in die Tiefe fallen. Wir mögen vielleicht so manches an uns sehen, worüber wir erschrecken könnten. Es kann sich bei dieser Selbstbetrachtung vielleicht ein Graben zwischen unserem idealen und unserem realen Selbst auftun. Es könnten uns die Augen darüber aufgehen, dass wir Gott mit unseren Leistungen zu beeindrucken suchen. Was ist, wenn wir vor Gott nicht sind, was wir sein wollen? Haben wir dann unser Leben verwirkt?!
3. Die Hoffnung der Großzügigkeit
Jesus stellt uns ein eindrückliches Bild vor Augen: Da hat einer einen Feigenbaum in seinem Weinberg gepflanzt. Selbstverständlich
erwartet er von diesem Baum, dass er Früchte bringt. Wozu hätte er ihn sonst gepflanzt! Aber Fehlanzeige. Drei Jahre lang geschieht nichts dergleichen. Der Baum bleibt ohne Früchte. Die Konsequenz ist einleuchtend: “So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft?” Wenn der Baum seine Bestimmung nicht erreicht, hat er hier nichts verloren. Weg mit ihm, sagen wir zweckrational.
Im Blick auf Andere könnten wir dem wahrscheinlich schnell zustimmen. Was aber, wenn es dabei um uns selbst geht?
– Soll ich aus dem Konfirmandenunterricht fliegen, weil das Auswendiglernen nicht klappen will?
– Soll ich meinen Arbeitsplatz verlieren, weil ich schon länger krank bin?
– Soll ich meinen Mann verlieren, weil ich keine Kinder zur Welt bringen kann?
– Soll ich ins Altenheim, weil ich der Familie nur noch zur Last falle und nicht mehr nützlich bin?
– Soll ich mein Leben lang gestraft sein, weil ich einen Fehler begangen habe?
Jesus nimmt in Kauf, dass der Baum seiner Umgebung Kraft und Anstrengung kostet. Es geht nicht alles leichtfüßig und folgerichtig. Oft sind die Dinge komplizierter und folgen anderen Bahnen, als wir sie erwarten. Doch sollen wir eine Überraschung ausschließen? Warum sollen wir vorschnell das böse Ende vorwegnehmen? In unserem Pessimismus erwarten wir eher das Schlimmste als dass wir an eine überraschende Kehrtwende glauben. Ist es nicht so? Für Jesus aber ist das Ende völlig offen. Und wir staunen! “Vielleicht bringt er doch noch Frucht…!” Jesus schließt das nicht aus. Er gibt dem positiven Ende eine Chance.
“Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge.” Wir staunen noch mehr! Nicht nur, dass Jesus dem Baum seine Zeit gibt. Er will sich auch mühen und in ihn investieren – auf Hoffnung hin. Auf die Hoffnung, dass der Baum doch noch seine Früchte bringt.
Das gebe ich zu. Diese Hoffnung habe ich schon: Dass sich einer um mich kümmert und mich nicht abschreibt, wenn ich fruchtlos
erscheine. Es täte mir gut:
– Wenn mir einer etwas von seiner Stärke gibt, wenn ich mich schwach fühle.
– Wenn mir einer seine Stimme leiht, wo ich stumm geworden bin.
Wenn mir einer seinen Glauben vorlebt, sollte ich meinen verloren haben.
– Wenn mir einer die Augen für das Schöne öffnet, wo ich nur noch graue Landschaften sehe.
– Wenn mir einer einen Vertrauensvorschuss gibt, wenn ich es dringend nötig habe.
Jesus gibt dem Baum noch eine Chance. Das eine Jahr noch. (Mehr nicht!) In dieser Zeit ist alles möglich. Das Ende ist völlig offen. Die Hoffnung keimt aus der Großzügigkeit.
Ganz ehrlich: Warum sollte ich nicht genau so großzügig sein? Dem Zeit geben, der mich enttäuscht hat; mich um den mühen, der mir das Leben schwer macht; in den investieren, der es scheinbar nicht wert ist? Es wird eine Freude sein, die Früchte, die daraus erwachsen können, zu genießen.