Lieben Sie eigentlich den Bundeskanzler?

Predigttext: Römer 13, 8-14
Kirche / Ort: Heddesheim
Datum: 30.11.2003
Kirchenjahr: 1. Sonntag im Advent
Autor/in: Pfarrer Dr. Konrad Fischer

Predigttext: Römer 13,8-14 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

8 Seid niemandem etwas schuldig, außer, daß ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn was da gesagt ist (2. Mose 20,13-17): »Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren«, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefaßt (3. Mose 19,18): »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. 11 Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich daß die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Laßt uns ehrbar leben wie am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Unzucht und Ausschweifung, nicht in Hader und Eifersucht; 14 sondern zieht an den Herrn Jesus Christus und sorgt für den Leib nicht so, daß ihr den Begierden verfallt.

Statt eines Vorwortes

Vergeblich wartete die Redaktion auf eine Predigt zur Perikope für den 1.Advent. Der/die Autor/in hatte sich nicht gemeldet. Nicht immer findet die Redaktion in solchen Situationen Ersatz. Am 29.11., kurz nach 23 Uhr, kam dann eine Predigt von einem dem Predigt-Forum bereits bekannten Mitarbeiter, der seinerseits eine Anregung zum Perikopentext beim Predigt-Forum suchte. Seine begleitende - mir wichtige - Mail sei hier (das Einverständnis des Verfassers vorausgesetzt) weitergegeben. Die Predigt kam für mich wie ein Geschenk von oben. Auch wenn es schon spät ist und inzwischen der Sonntag begonnen hat, lasse ich die Predigt nicht liegen, sondern stelle sie ins Forum, vielleicht gibt sie manchem/r Nachtarbeiter/in noch eine Anregung. "Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen" - Gott sei Dank. Heinz Janssen redaktion@predigtforum.de Lieber Kollege Janssen, an Röm 13 habe ich mich heute mühen müssen wie lange nicht. In meiner Verzweiflung dachte ich: Vielleicht findest du beim Predigt-Forum eine Anregung. Leider fand ich da bloß die, ein anderes Sujet zu wählen. Was selbstverständlich möglich ist (und in der Sache natürlich auch gelungen), aber für Perikopenfetischisten wie mich einigermaßen misslich. Also schicke ich Ihnen jetzt meine Predigt für den morgenden 1. Advent, die ausgesprochenermaßen davon ausgeht, dass die vorgeschlagene Perikope Röm 13, 8-14 unbedingt auf die davor liegende Röm 13, 1-7 zu beziehen ist. Vielleicht haben Sie eine Verwertung; wenn nicht, lassen Sie sie einfach liegen. Herzliche Grüße zum Advent Konrad Fischer

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Liebe Gemeinde,

es geht um Römer 13, 8: “Seid niemandem

Bild von Paulus

etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt.” Und deshalb stelle ich Ihnen jetzt die folgende Frage:

Lieben Sie eigentlich den Bundeskanzler?

Nun, werden Sie wahrscheinlich sagen, was für eine dumme Frage! Ich liebe meinen Mann, meine Frau, meine Kinder, meine Freundin oder Freund, vielleicht noch meinen Fußballverein, vielleicht meine Heimat und wenn es ganz hoch kommt, meine Gemeinde wieso aber um alles in de Welt sollte ich den Bundeskanzler lieben? Und außerdem: Heute ist der 1. Advent und somit der allerschlechteste Anlass, über dumme Fragen zu sprechen.

Aber nun muss ich mich, Ihr Lieben, sogleich für meine Frage verteidigen. Ich habe sie mir nämlich nicht selber ausgedacht. Es ist der Apostel Paulus, der hat sie mir aufgenötigt, und das kommt, weil uns auf den heutigen 1. Advent nach der Ordnung unserer Kirche ein Kapitel aus dem Römerbrief des Apostels Paulus aufgegeben ist – genau genommen das Dreizehnte -, dessen erster Vers mit dem berühmten Satz anhebt: “Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat” (ich bin sicher: mindestens alle Generationsgenossen kennen diesen berüchtigten Satz!); und nun dessen letzter Vers mit dem Satz anhebt: “Zieht an den Herrn Jesus Christus!” So dass ich gewissermaßen gar nicht umhin komme, mir und Ihnen diese Frage vorzulegen:
Ja, wie ist das, lieben Sie den Bundeskanzler?

Und nun muss ich allerdings noch einiges erzählen und erklären. In diesem 13. Kapitel des Römerbriefs, da äußert sich Paulus über das Verhältnis der Christen zur weltlichen Macht. Und das geht so: Jedes Menschenleben, sagt Paulus, ist immer auch irgendwie einer über ihm stehenden Autorität unterstellt, Regierungsautorität, Direktoren, Abteilungsleiter, Gerichte, Lehrer, wie auch immer.

Das ist so, fährt Paulus dann fort, weil Gott das so aufgestellt und angeordnet hat. Also soll man sich der Macht und Autorität über einem auch fügen. Und wer sich dem verweigert, der wird völlig zu Recht dafür bestraft. Denn Autorität und Macht ausüben, das ist im Grunde nichts anderes als ein Hilfsdienst am Willen Gottes. Darum, du lieber Mensch, bist du gut beraten, wenn du dich auch fügst, und zwar nicht bloß aus Angst vor Strafe, sondern mindestens so sehr aus innerer Einsicht. Bedient eure Schulden! Zahlt eure Steuern! Entrichtet eure Abgaben! Respektiert die Polizei! Ehrt und achtet eure Politiker und Würdenträger! Und alles in allem: bleibt niemandem etwas schuldig, außer dass ihr einander liebt. Denn – und jetzt mache ich den letzten Satz in diesem Durchritt – “wer liebt, der hat das Gebot Gottes vollkommen erfüllt”.

Jetzt weiß ich natürlich nicht, liebe Gemeinde, ob Sie etwas bemerkt haben. Aber ich möchte Ihnen gerne erzählen, was ich gestern, als ich das alles gelesen und durchdacht habe, bemerkt habe. Ich habe bemerkt: Unser Apostel, der bedeutende Paulus aus Tarsos, ist wirklich ein Fuchs gewesen. Was er da macht, das geht nämlich so: Er spricht immer von Oben und Unten. Da oben die Regierenden, da unten die Weisungsempfänger; da oben die Mächtigen, da unten die Steuerzahler und Abgabenpflichtigen. Da oben Gerhard Schröder, da unten ich. Und dann aber, plötzlich, mit einem kleinen Satz, wirft er dieses ganze schöne Gebäude von Oben und Unten durcheinander, er kippt und dreht es sozusagen um 90 Grad, so dass beide gewissermaßen auf einer Ebene zu stehen und an einem Tisch zu sitzen kommen, und das tut er mit diesem einen kleinen Sätzchen: “Seid einander nichts schuldig, als dass ihr einander liebt.” Also der Kanzler und ich, wir sind einander die Liebe schuldig.

Nun ist das mit der Liebe so eine Sache. Die Liebe nämlich kennt keine Knechte und keine Herren, sie kennt weder Oben noch Unten. Eine Liebesbeziehung, die eine Herrschaftsbeziehung wird, geht zugrunde. Und eine Autorität, die keine Liebe hat, bricht früher oder später in sich zusammen. Die Liebe, sagt Paulus, bläht sich nicht auf und macht sich nicht groß, sie sucht nicht das Ihre, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit. Und das heißt: Die Liebe kennt nichts anderes als Partner und Weggenossen der Gerechtigkeit.

Und jetzt seien Sie aber ganz unbesorgt. Ich möchte mich im folgenden keineswegs über die Agenda 2010, über Rente, Hartz und Rürupp, über Stammzellenforschung und Zuwanderungsgesetz auslassen. Aber ich möchte schon gerne daran erinnern, dass wir nach der tiefen Einsicht des Apostels Paulus einander die Liebe schuldig sind, so sehr, dass Paulus sie sogar die Quintessenz aller Gebote Gottes nennen kann. Und das umschließt, dass wir einander nicht nur in der Beziehung innerhalb unserer Familien und Freundskreise Liebe erweisen, sondern weit darüber hinaus.

Nein, ich finde es nicht gut, und ich finde es nicht christlich, wenn politische Programme und Konzepte von allen möglichen Ziellinien her, aber jedenfalls nicht von der Liebe her entworfen sind. Und ich finde es genau so wenig gut, wenn wir anfangen, die Wahlen zu verweigern oder den Fernseher abzuschalten, wenn Politiker reden und Verantwortliche ihre Stellungnahmen abgeben. Wir sind einander die Liebe schuldig, wir Lehrer den Schülern, wir Pfarrer den Konfirmanden, wir Bürger den Regierenden, wir Inländern den Ausländern, wir Vermögenden den Unvermögenden, wir Starken den Schwachen, wir Fröhlichen den Traurigen, wir Lebenden den Toten und denen, die noch nicht geboren sind.

Die Liebe, das lerne ich heute beim Apostel Paulus, ist das eine und einzige und ursprüngliche und ganz und gar in Gottes Willen wurzelnde Sozialprinzip unseres Zusammenlebens. Und mehr kann ich heute nicht sagen. Die Zeit steht davor. Es wären noch unsägliche Schätze in diesem 13. Kapitel des Römerbriefes zu heben. Darüber ein andermal mehr. Aber eines noch: In Europa gibt es derzeit eine Debatte über den Gottesbezug in der kommenden europäischen Verfassung. Soll man im Vorspruch der Verfassung auf Gott Bezug nehmen oder nicht? Im Blick auf Römer 13 sage ich dazu: Nein, wir brauchen darin keinen Gottesbezug nach dem Bild unserer abendländischen Geschichte. Sehr wohl aber einen Bezug auf die unbedingte Verpflichtung der Liebe. Denn in der Liebe steht das ganze Gebot Gottes. Und was bedeutet das jetzt auf diesen Advent 2003? Es bedeutet: Ja, lasst die Liebe groß werden in diesen kostbaren Tagen! ‘Raus aus allen Lieblosigkeiten, die dahinten liegen, im Kleinen wie im Großen. Und hin zu dem einen Handlungsprinzip, der einen Handlungsmaxime, der einen heiligen göttlichen Verpflichtung: hin zur Liebe.

Amen.

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