Unter den Forderungen des Neuen Jahres, doch gehen wir auch nicht ganz mit leeren Händen hinein

Gedanken über ein Gebet von Sören Kierkegaard

Predigttext: Matthäus 10, 29
Kirche / Ort: Schriesheim
Datum: 31.12.2003
Kirchenjahr: Altjahresabend
Autor/in: Pfarrerin Eva Beisel

Gebet (von Sören Kierkegaard, in: Gebete, Hg.: W. Rest, Köln Olten 1952, S. 63)

Wieder ist ein Jahr vergangen, himmlischer Vater! Wir danken Dir dafür, daß es zur Zeit der Gnade gelegt ward und erschrecken nicht davor, dass es auch zur Rechenschaft vorgelegt werden soll; denn wir vertrauen auf Deine Barmherzigkeit. Das neue Jahr steht mit seinen Forderungen vor uns; und gehen wir auch gebeugt und bekümmert hinein, weil wir nicht den Gedanken an der Augen Lust, die betörte, verheimlichen können und wollen, an die Süße der Rache, die verführte; an den Zorn, der uns unversöhnlich machte, an das kalte Herz, das weit von Dir wegfloh; so gehen wir doch auch nicht ganz mit leeren Händen hinein; denn wir wollen auch sie mitnehmen: die Erinnerungen an die bangen Zweifel, die beruhigt wurden, an die stillen Bekümmerungen, die getröstet wurden, an den niedergebeugten Sinn, der aufgerichtet wurde, an die frohe Hoffnung, die nicht beschämt wurde. Ja, wenn wir in sorgenvollen Augenblicken unser Herz durch den Gedanken an die großen Gestalten stärken und aufrichten wollen, Deine auserwählten Werkzeuge, die in schweren Anfechtungen, in der Angst des Herzens den Sinn frei behielten, den Mut ungeschwächt, den Himmel offen, so wollen auch wir dazu unser Zeugnis ablegen in der Überzeugung, daß unser Mut im Vergleich mit jenen nur Mißmut ist, unsere Macht nur Ohnmacht, während Du derselbe bist, derselbe gewaltige Gott, der die Geister im Streit erprobt, derselbe Vater, ohne dessen Willen nicht ein Sperling zur Erde fällt. Amen.

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Gedanken zum Jahreswechsel über das Gebet von Sören Kierkegaard

Wieder ist ein Jahr vergangen, lieber himmlischer Vater… Die Anrede ist einfach. Aber wieviel liegt in dem kleinen Wörtchen: Wieder.

Nicht zum ersten Mal, nein, wieder, ist ein Jahr vergangen. Die Länge der Zeit wird uns bewusst. Wieder waren es 365 Tage. Wieder war uns viel Zeit geschenkt.

Von diesem Jahr, das wie schon so viele andere hinter uns liegt, heißt es nun: Wir danken dir, daß es zur Zeit der Gnade gelegt ward und erschrecken nicht davor, daß es auch zur Rechenschaft vorgelegt werden soll; denn wir vertrauen auf deine Barmherzigkeit.
Kürzer, tröstlicher kann man es kaum sagen, was das heißt, dass Gottes Gnade größer ist als sein Gericht. Dass wir werden Rechenschaft ablegen müssen, soll nicht verschwiegen werden, aber größer als die Angst davor, ist der Dank dafür, dass auch dieses Jahr mit allem, was gewesen ist, aufgehoben ist in der Gnade Gottes.

Weiter heißt es: Das neue Jahr steht mit seinen Forderungen vor uns – und dann wird aufgezählt, was wir aus dem alten Jahr mitnehmen in das neue.

Die Aufzählung beginnt mit dem Betrüblichen. Mit dem, was uns gebeugt und bekümmert in das neue Jahr hineingehen läßt. Manchem mag das seltsam scheinen. Wie oft versucht man uns beizubringen, dass wir das Schwere, was gewesen ist, vergessen sollen. Als ob das so leicht wäre.

Wie lebensnah dagegen klingen die Worte Kierkegaards. Was gewesen ist, auch das, was Sünde und Schuld gewesen ist, ist zwar aufgehoben in der Gnade Gottes, aber gerade deswegen brauchen wir es nicht zu verheimlichen noch zu beschönigen, sondern es geht mit als das, was es war: als traurige Erinnerung an die Süße der Rache, die verführte, an den Zorn, der unversöhnlich machte, an das kalte Herz, das weit von Gott wegfloh.

Mit leeren Händen gehen wir also hinein in das neue Jahr, aber nun doch auch nicht mit ganz leeren Händen; noch etwas anderes geht mit uns, wichtig, es nicht zu vergessen.
Kierkegaard beschreibt dieses andere mit Worten, die so überlegt und so wohltuend sind, dass es am besten ist, sie einfach nur nachzusprechen.

Denn wir wollen auch sie mit uns nehmen, schreibt er, die Erinnerungen an die bangen Zweifel, die beruhigt wurden, an die stillen Bekümmerungen, die getröstet wurden, an den niedergebeugte Sinn, der aufgerichtet wurde, an die frohe Hoffnung, die nicht beschämt wurde.

Aber auch damit ist es noch nicht genug. Die Gedanken gehen weiter, gehen hin zu den sorgenvollen Augenblicken, die wir noch nicht kennen, hin zu den großen Gestalten des Glaubens, die uns dann Ermutigung sein können.
Jene Männer und Frauen, die wie Kierkegaard sagt, in schweren Anfechtungen, in der Angst des Herzens den Sinn frei behielten, den Mut ungeschwächt, den Himmel offen.

Auch die Erinnerung an sie nehmen wir mit ins das neue Jahr, nicht in der Meinung, dass wir es den großen Gestalten des Glaubens gleich tun könnten oder müssten, aber eben doch in der Überzeugung, dass Glaube lebbar und die Angst auch unseres Herzens zu überwinden und auch unser Mut zu stärken ist.

Und dann mündet noch einmal alles ein in das Lob Gottes, keines harmlosen Gottes, sondern des Gottes, der die Geister im Streit erprobt, und auch uns hineinstellt in so manche Prüfung. Aber was auch immer kommen mag und was auch immer Gott uns im kommenden Jahr schicken wird, er wird darin unser himmlischer Vater bleiben, er wird wissen, wessen wir bedürfen, und ohne seinen Willen wird nicht ein Sperling zur Erde fallen.

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