Also, was soll er nun sein, der Gottesdienst?

Predigttext: Römer 12, 1-6
Kirche / Ort: Aachen
Datum: 11.01.2004
Kirchenjahr: 1. Sonntag nach Epiphanias
Autor/in: Pfarrer Manfred Wussow

Predigttext: Römer 12,1-6a (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)

Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. Denn wie wir an "einem" Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele "ein" Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist.

Exegetisch-homiletische Überlegungen

Röm 11 endet mit einem Lobpreis und – Amen. In Kap. 12 beginnt ein Neueinsatz, fußend auf dem bisherigen Brief, ihn aber zuspitzend. Einer Ermahnung – 1. „dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer“ und 2. „stellt euch nicht dieser Welt gleich“ – folgen die Begründungen: 1. das ausgeteilte „Maß des Glaubens“ und der „eine“ Leib in Christus mit seinen verschiedenen Gliedern und Gaben. Wirkungsgeschichtlich bedeutsam wurde im 20. Jahrhundert die Formulierung vom „vernünftigen Gottesdienst“, der – abgehoben von der Liturgiegeschichte – eine Brücke baute zum „Gottesdienst im Alltag“, der die Propheten beerben sollte: Nicht Kult, sondern Dienst an der Welt. Obwohl Paulus hier zum Kronzeugen aufgerufen wurde, gibt sein Brief an die Römer nichts her, was sich gegen Gottesdienste, die wir feiern, instrumentalisieren ließe. Schließlich wird der Brief in der versammelten Gemeinde gelesen und weitergegeben, erhält also einen gottesdienstlichen Rahmen – unabhängig davon, wie unterschiedlich Gottesdienste gefeiert und verstanden wurden. Dass der Gottesdienst mehr ist als eine regelmäßig wiederkehrende Veranstaltung (oder Belanglosigkeit), macht Paulus gleichwohl mehr als deutlich. Das Christuszeugnis endet nicht in Schatten- oder Scheingefechten, sondern kommt zur Geltung in einem Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. In Röm 6,13 – im Kontext der Taufe – wurzelt dieses Verständnis: „Gebt euch selbst Gott hin als solche, die tot waren und nun lebendig sind“. Die Linie zur Taufe führt auch zum Evangelium, Mt 3,13-17, der Taufe Jesu. Er wird als Sohn vorgestellt, auf ihm ruht das Wohlgefallen Gottes. Über ihn öffnet sich der Himmel. Von dieser Szene fällt Licht auf Jesu Opfer – und das Opfer „unseres Lebens“, von dem Paulus spricht.

Literatur:

Pointiert - neben den neueren Kommentaren, u.a. im EKK - ältere Arbeiten, u.a. Ernst Käsemann, An die Römer (HNT); seine Exegetischen Versuche und Besinnungen und Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart (1984)

Ein Sendungswort:

Der EWIGE, gepriesen sei sein Name, gebe dir etwas zu Lachen. Dann wird dein Gesicht hell. Der TREUE, gepriesen sei sein Name, gebe dir einen guten Bissen zwischen die Zähne. Dann schmeckst du das Leben. Der BARMHERZIGE, gepriesen sei sein Name, gebe dir einen guten Gefährten auf deinen Weg. Dann gehen dir die Worte nicht aus. Gehet hin im Frieden des Herrn.

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Sie trafen sich an einem Sonntagabend. Nach getaner Arbeit. In einem Haus. Sie: das sind Christen in Rom. Sie versammeln sich als Gemeinde. Es läuten keine Glocken. Es spielt keine Orgel. Es spricht auch kein Pfarrer. Sie haben ihre Gaben und Fähigkeiten zusammengelegt. Sie essen und trinken zusammen. Sie reden von Jesus, ihrem Herrn. Sie erzählen von ihrem Leben. Eine kleine Gemeinde.

Von Paulus hatten sie einen Brief bekommen:

An alle Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom: Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Eine Anrede voller Wärme und Leben. Geliebte Gottes und berufene Heilige. Sie sahen sich an, sahen an sich herunter, sahen hinter sich – aber es war kein Zweifel möglich. Sie waren geliebt und berufen!

Immer wieder lesen sie den Brief. Immer wieder halten sie ein. Er ist nicht leicht zu lesen. Und zu verstehen auch nicht. Es ist, als ob ihnen ihr Leben neu aufgeschlossen wird. Dabei hatte Paulus sogar geschrieben, dass man von ihrem Glauben in aller Welt redet! Dieser Übertreiber! Paulus kannte sie nicht einmal persönlich …

Irgendwann waren sie dann an der Stelle, wo Paulus von ihrem Leben redet. Es hatte da sogar schon „Amen“ vorgestanden, so, als ob der Brief hier an sein Ende gekommen wäre. Aber da holt Paulus noch einmal alles hervor, was er geschrieben hatte und fasst es leidenschaftlich zusammen:

Paulus schreibt:

(Lesung des Predigttextes)

1.

Jedes Wort hat hier seinen eigenen Klang. Wir hören von der Barmherzigkeit Gottes. Viele Menschen haben sich zu ihr geflüchtet, sie erbeten – und auch schmerzlich vermisst. Paulus nimmt aus ihr die Zumutung, Menschen zu ermahnen, ihr ganzes Leben einzusetzen. Für Gott. Das ist zwar altmodisch formuliert „dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer“ – aber in seinen Konsequenzen einfach und klar: Ich kann von meinem Leben nichts abtrennen und auch nichts zurückbehalten. Alles soll ihm, Gott, gehören. Dass er barmherzig ist, macht es nicht leichter. Es hämmert in meinem Kopf: Ich gehöre mir selbst. Ich habe meine eigene Geschichte. Ich bin ich.

Paulus konnte auf die alten Erfahrungen zurückgreifen. An vielen hl. Stätten in Rom wurden Opfer dargebracht. Und nicht nur in Rom. Es schien ausgemacht und wurde auch nicht bezweifelt, dass den Göttern Opfer zustehen. Sie sollten gnädig gestimmt werden. Sie sollten einem Vorhaben, einem Plan, einer Absicht zustimmen. Sie sollten versöhnt werden. Ihre Kraft, sich zu rächen oder aggressiv zu werden, ließ sich einhegen. Mit mehr oder weniger üppigen Opfern, die dargebracht wurden – geschlachtet und zerlegt. Aus grauer Vorzeit wurde erzählt, dass sogar Menschen daran glauben mussten – auch Kinder. In Rom roch man die Opfer. Man sah die Opfer. Man hörte die Opfer. Die Opfer gehörten ins Stadtbild.

Als Paulus seinen Brief schrieb – an die Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom – mochte er an Menschen denken, die auch einmal in irgendeinem Tempel ein Opfer darbrachten, ihren Lieblingsgott hatten und ihn für sich gnädig stimmten. Die Geschichten davon erzählen konnten. Aber jetzt – getauft – von einem anderen angenommen sind: Jesus. Er braucht kein totes Opfer, ihn kann man nicht gnädig stimmen, ihn muss man nicht versöhnen. Er hat das umgekehrt: Er hat sich selbst geopfert, er ist den Menschen gnädig, es gibt keinen Hass Gottes auf Menschen, er rächt sich auch nicht. Paulus schreibt darum von der Barmherzigkeit Gottes. Dieses Wort klingt lange nach.

Gehöre ich wirklich nur mir selbst? Habe ich meine eigene Geschichte nur für mich? Was bin ich ohne Du? Ohne ihn?

2.

Ich bewundere Paulus. Seinen Mut. Seine Auslegungskunst. Erst macht er deutlich, dass Opfer vorbei sind – um Menschen dann zu ermahnen, selbst Opfer zu sein. Da ist es wieder da: mein Unbehagen, die Unsicherheit, der Widerspruch. Ob ich mit den Menschen in Rom darüber reden könnte? Sie erzählen von ihrer Taufe. Das war ein Einschnitt, ja, ein Bruch mit dem alten Leben. Geradezu ein Neuheitserlebnis. Nicht Ängste fassen das Leben ein, sondern Vertrauen. Wir sind nicht dem Bösen ausgeliefert, sondern entsagen ihm. Gott ist nicht unnahbar, er kommt uns entgegen – und öffnet uns seine Arme. Jeder kann da seine Geschichte einbringen – und sein Leben. Zu ihm gehören heißt, ihm ganz zu gehören.

Ob ich von meiner Taufe auch so viel sagen – und erwarten kann? Doch gut, den Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom ein Ohr zu schenken!

Paulus ist da mit seinen Gedanken schon weit voraus. Er sieht im Leben der Christen eine Alternative. Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert auch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Man muss da ja erst hinter kommen. Dass die Welt, in der wir leben, nicht das Maß ist, auch nicht das Vorbild, schon gar nicht die beste aller Welten. Was aber gut, wohlgefällig und vollkommen ist, lässt der gute Paulus offen.

Mein Vorschlag ist, doch noch einmal zu den Opfern zurückzukehren – im tiefen Sinn des Wortes. Denn Vergangenheit sind die Opfer nicht. Wir bringen sie nur anders dar – oder nehmen sie in Kauf. Opfer gibt es bei uns im Verkehr, Menschen werden dem Gewinn eines Unternehmens geopfert, weltweit werden Menschen ihrem Schicksal überlassen – oder preisgegeben. Die Götter, denen Menschen heute huldigen, haben keine Geschichte und keine Namen. Sie heißen im Jargon der Fachleute: Rendite, Mobilität, Weltmarkt – und meistens kommen sie nicht allein. So richtig gut sind sie nur in ihrem Pantheon. Versammelte Kälte. Psst, sagen die Leute. Hör auf. Wir haben Angst. Wenn sie dich hören …

Und Paulus redet davon! Mit diesen Göttern könnt ihr nicht einmal reden! Ihnen keine Zärtlichkeit, keine Hoffnung entgegenbringen. Nicht einmal das! Sie fressen euch nur auf. Gut, wohlgefällig und vollkommen ist – aus der Barmherzigkeit Gottes zu leben: sich mit seinem ganzen Leben seiner Verheissung und seinem Willen anzuvertrauen. Dann ist die Welt, in der ich lebe, nicht das Maß, nicht das Vorbild, auch nicht mein Alptraum. Es ist die Welt Gottes, in der sein Wort gilt. Paulus hat das in seinem Brief einmal so formuliert:

„Auch gebt nicht der Sünde eure Glieder hin als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern gebt euch selbst Gott hin als solche, die tot waren und nun lebendig sind, und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit.“(Röm. 6,13).

Das ist ein Wort!

Denn auch in unserer Stadt riecht es nach Opfern, sehen wir Opfer, hören wir Opfer, gehören Opfer zum Stadtbild.

3.

Paulus spricht vom vernünftigen Gottesdienst. Das hört sich gut an. Gelegentlich sagen wir: der Gottesdienst war schön. Der Pfarrer freut sich dann. In der Zeitung war zu lesen, dass Kardinal Ratzinger den Gottesdienst würdiger gefeiert sehen will. Manche fühlen sich dann auf die Füße getreten. Am Stammtisch wird schwadroniert, die Gottesdienste müssten moderner sein. Die Frommen verziehen dann den Mund. Also, was soll er nun sein, der Gottesdienst?

Schön, würdig, modern? Paulus ist zunächst keine große Hilfe. So einen Gottesdienst, wie wir in feiern, hat er nicht besucht – nicht einmal gekannt. Aber er hat einen Brief geschrieben, der in der versammelten Gemeinde – und das ist Gottesdienst – gelesen und bedacht wird. Dass wir unsere Köpfe und Herzen in Gottes Barmherzigkeit bergen, unser Leben prüfen, unsere Gedanken erneuern – und unser Leben einbringen.

Lebendig, heilig, Gott wohlgefällig. Das ist „vernünftiger Gottesdienst“. Die Glocken müssen nicht dazu läuten, die Orgel nicht spielen, der Pfarrer nichts sagen. Da alles, was als „vernünftig“ gilt, heute besonders gut angesehen ist, wird sogar die Welt erstaunt aufhorchen. Vielleicht sogar, hinter vorgehaltener Hand, zugeben: Es ist vernünftig, sich der Welt nicht auszuliefern mit Haut und Haaren. Das ist dann zwar noch nicht Paulus, aber ihm doch schon sehr nahe.

Überhaupt: Einen Gedanken des Paulus habe ich nicht einmal gestreift. Den Gedanken, „maßvoll“ von sich selbst zu denken – „ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat“. Paulus ist doch ein sehr kluger Mensch gewesen. Feinfühlig? Paulus konnte richtig grob werden, manchmal sogar verletzend. Aber er wusste, wie verhängnisvoll es ist, wenn Menschen, auch Christen, auch die „Geliebten Gottes und berufenen Heiligen in Rom“, sich selbst zum Maß machen.

Wenn er dagegen vom „ausgeteilten“ Maß des Glaubens spricht, lässt er Gott Maß und Richtschnur sein, ja, Quelle und Ursprung. Es gilt sein Wille, seine Barmherzigkeit. Diese Weisheit macht den vernünftigen Gottesdienst schön, würdig und modern. Denn, Hand aufs Herz, was würde dabei herauskommen, wenn nicht die Welt, sondern „wir“, die Christen, meinetwegen auch die Kirche, maßlos würden? Die Beispiele aus der Geschichte will ich lieber nicht erzählen, aber Paulus war schon ein weiser Mensch …

Es könnte doch sogar sein, dass Gott das Maß des Glaubens dort ausgeteilt hat, wo wir es nicht nur nicht erwarten, sondern nicht einmal wünschen? Der vernünftige Gottesdienst ist voller Überraschungen – besser: voller Wunder. Ob der Gegensatz von vernünftig und wundervoll nicht überhaupt ein schlechter Scherz war?

4.

Meine Gedanken gehen nach Rom zurück. Dort haben sich Menschen versammelt. Sie lesen den Brief des Paulus. Wie oft sie das schon gemacht haben? Ich weiß es nicht. Aber an einer Stelle sind sie zu einem Lobpreis eingeladen. Genau da, bevor Paulus mit seiner Ermahnung „durch die Barmherzigkeit Gottes“ einsetzt. Das Nachdenken kann bis nachher warten. Jetzt ist die Freude angesagt. Denn der vernünftige Gottesdienst ist – gelassen, nicht gehetzt, nicht gestresst. Also gehen wir ein paar Schritte zurück.

Da schreibt Paulus doch:

„Welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste«? (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen“. (Römer 11, 33-36)

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsre Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserm Herrn.

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