Geh weg?
Predigttext: Römer 1, (14-15)16-17 (Übersetzung nach Eduard Lohse: Der Brief an die Römer [KEK 4. Bd; 15. Aufl.], Göttingen 2003)
(14) Griechen und Barbaren, Weisen und Ungebildeten bin ich verpflichtet. (15) Deshalb, was mich betrifft, bin ich bereit, auch euch in Rom das Evangelium zu verkündigen. (16) Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht. Denn Gottes Kraft ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst und auch den Griechen. (17) Denn Gottes Gerechtigkeit wird in ihm offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.Exegetische und homiletisch-liturgische Vorbemerkungen
I. 1) Der Predigttext entstammt dem hellenistischem Briefstil entsprechenden Proömium des Römerbriefs des Paulus. Mit V16 wird das Thema eingeführt, das im Brief entfaltet werden soll. Als Inhalt des Bekenntnisses, das Paulus hier ablegt, wird das Evangelium, die eine frohe Botschaft vom Erweis der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus genannt. „Glaube“ ist die vertrauende Antwort, die sich der „Kraft Gottes“ öffnet und sich auf die Zusage des Evangeliums verläßt. Alle, die in dieser Weise Gottes Handeln Raum geben, werden gerettet, Juden zuerst und auch Griechen. „Durch die der Frohbotschaft innewohnenden Kraft, die alle Begrenzungen aufhebt, werden Juden und Griechen als Repräsentanten der gesamten Menschheit einander an die Seite gestellt, um als Glaubende das eine Volk Gottes aus allen Völkern zu bilden“ (Lohse, 76ff.). 2) Was „Gerechtigkeit Gottes“ anbelangt (vgl. Lohse, 78-81), so ist –auch für den reformatorischen Kontext- wichtig, daß sie in der Auslegung des Paulus nicht nur als eine göttliche Eigenschaft, die auf seine Bundestreue hinweist, begriffen wird, sondern als Geschenk, das den Glaubenden (Juden wie Heiden) zuteil wird (Gen. auctoris). II. 1) Für die Predigt möchte ich mich dem Text auf dem Weg über seine Rezeptionsgeschichte nähern. Der bekannteste Text ist hier Luthers Selbstzeugnis im ersten Band seiner gesammelten lateinischen Werke von 1545 (WA 54, 185, 12 – 186, 20), wo er im Blick auf Röm 1, 17 ausführt: „Ich haßte dieses Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘, welches ich nach der üblichen Gewohnheit aller Doktoren gelehrt worden war, philosophisch von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit zu verstehen, durch die Gott gerecht ist und Sünder wie Ungerechte straft. Ich aber fühlte mich, obwohl ich als Mönch untadelig lebte, vor Gott als Sünder und unruhig in meinem Gewissen und konnte nicht hoffen, daß ich durch meine Genugtuung versöhnt sei... Da erbarmte Gott sich meiner. Unablässig sann ich Tag und Nacht, bis ich auf den Zusammenhang achtete, nämlich: ‚Die Gerechtigkeit Gottes wird in jenem [dem Evangelium] geoffenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘. Da begann ich die Gerechtigkeit Gottes als diejenige zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt..., nämlich aus dem Glauben, und [erkannte], daß dies die Meinung sei, daß durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart wird, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte lebt aus dem Glauben‘. Hier meinte ich geradezu, ich sei wiedergeboren, die Türen hätten sich geöffnet und ich sei in das Paradies selbst eingetreten...“ (Vgl. Bernhard Lohse, Luthers Theologie, Göttingen 1995, 104f.). 2) Einen anderen Zugang sehe ich in Carl Zuckmayers Stück „Der Hauptmann von Köpenick“, näherhin in der Lebensbeichte des Schuhmachers Wilhelm Voigt. Dieser bedeutet, daß ich die exegetischen Grundaussagen des Paulustextes eher narrativ aufnehme. 3) Was die Lesungen anbelangt, so ist unser Predigttext die Epistel des 3. Sonntags nach Epiphanias. Ich schlage vor, als Lesung den revidierten Luthertext zu nehmen, den Predigttext aber z. B. nach Lohses Übersetzung zu verlesen. Dies ist auch dadurch gerechtfertigt, daß der revidierte Luthertext selbst ein solches Verfahren nahelegt. Das Evangelium ist Matth. 8, 5– 13. Als Psalm schlage ich Ps. 86,1-11.17 oder Ps. 100 vor. Das Wochenlied ist „Lobt Gott den Herrn, ihr Heiden all“ (EG 293); es nimmt Ps. 117 auf. Weitere Lieder: Such, wer da will, ein ander Ziel (EG 346); Es ist das Heil uns kommen her (EG 342 in Auswahl); Ich weiß, woran ich glaube (EG 357); Ach bleib mit deiner Gnade (EG 347).Pforte des Paradieses
Dieser Paulustext hat es in sich! Jedenfalls schreibt ihm Martin Luther noch kurz vor seinem Tod seinen reformatorischen Durchbruch zu! Beim Studium dieser Bibelstelle sei ihm aufgegangen, was „Gerechtigkeit Gottes“ eigentlich meint: Nicht die Gerechtigkeit, „durch die Gott gerecht ist und Sünder wie Ungerechte straft“, sondern die Gerechtigkeit, „durch welche der Gerechte als durch Gottes Geschenk lebt“. Es geht um die uns um Christi willen geschenkte Gerechtigkeit Gottes! Luther bekennt: „So wurde mir diese Paulus-Stelle zur Pforte des Paradieses“. Hier wird für Luther die zentrale Frage nach dem gnädigen Gott beantwortet!
Nur Theologie?
Ob uns heute diese Frage noch berührt? Ist sie für uns nicht eher ein Stück zwar ehrwürdiger, aber inzwischen überholter Tradition, wie es Erich Kästner in einem „Bahnhofsvierzeiler“ zum Ausdruck bringt:
„Jeden Abend stand er an der Sperre,
ein armer, alter, gebeugter Mann.
Er hoffte, daß einmal Gott ankäme!
Es kamen immer nur Menschen an“.
Das klingt nach Enttäuschung! Aber: Warten wir wirklich auf Gott? Uns geht es doch weniger um den „gnädigen Gott“ als um den „gnädigen Menschen“, um Mitmenschen, die eben „menschlich“ mit uns umgehen! Ob damit aber die Frage nach dem „gnädigen“ Gott überholt ist? Oder ist die Frage nach dem gnädigen Menschen nicht eine Chiffre für die Frage nach dem gnädigen Gott? Es könnte doch sein, daß die Frage nach dem gnädigen Gott und die Frage nach dem gnädigen Mitmenschen viel enger zusammen gehören, als wir das ahnen! Denken wir darüber nach!
Geh weg!
Ein Film beeindruckt mich immer wieder: „Der Hauptmann von Köpenick“ mit Heinz Rühmann (oder Rudolf Platte oder Harald Juhnke) in der Titelrolle. Dem Film liegt das gleichnamige Schauspiel von Carl Zuckmayer aus Nackenheim vor den Toren meiner Studienstadt Mainz zugrunde. Der Inhalt ist schnell erzählt: Am 10. Oktober 1906 besetzt eine Handvoll Soldaten unter Führung eines Hauptmanns des 1. Garde-Regiments das Rathaus von Köpenick bei Berlin, verhaftet den Bürgermeister und beschlagnahmt die Stadtkasse. Bald darauf wird bekannt: Die Soldaten waren echt, der Hauptmann aber war der 57jährige Schuhmacher und Maschinist Wilhelm Voigt, der schon 27 Jahre hinter Gittern saß und der nie Soldat war. Er hatte sich die Hauptmannsuniform bei einem Trödler gekauft.
Eine Szene aus diesem Film ist mir besonders in Erinnerung: Kaum hat dieser Wilhelm Voigt nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus in Rawitsch Unterschlupf bei seinem Schwager in Rixdorf gefunden, kommt ein Schutzmann und überbringt ihm wieder einmal eine Ausweisungsverfügung: Voigt muß binnen 14 Tagen aus Berlin und Umgebung verschwinden.
Nun faßt Voigt vor seiner Schwester und seinem Schwager sein Leben zusammen. Es ist eine Art Lebensbeichte mitten in einem Schauspiel: „Und dann stehste vor Gott dem Vater, der allens jeweckt hat, vor dem stehste denn, und der fragt dir ins Jesichte: Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben? Und da muß ick sagen – Fußmatte muß ick sagen. Die hab ick jeflochten im Jefängnis, und denn sind se alle druff rumjetrampelt, muß ick sagen. Und Gott sagt zu dir: Je wech! Sagt er! Ausweisung! Sagt er! Dafür hab ick dir det Leben nich jeschenkt, sagt er! Det biste mir schuldig. Wo is et? Was haste mit jemacht?“
Es ist schon beeindruckend, wenn dieser Wilhelm Voigt es als Frage Gottes an sich selbst formuliert: „Was hast du, Wilhelm Voigt, aus deinem Leben gemacht?“ Eine sehr direkte, persönliche Frage!
Wir können meistens bestimmt Besseres aufzählen als dieser Wilhelm Voigt. Vielleicht haben wir aber auch schon dieses Gefühl gehabt: „Sie sind auf mir herumgetrampelt“, wie dieser es drastisch sagt, indem er sich mit einer Fußmatte vergleicht.
Die Sinnfrage als Gottesfrage
Mag das Reden über Angst heute modern sein, mögen Angst und Sinnlosigkeit von den Vertretern der öffentlichen Meinung und Interessenverbänden auch übertrieben werden, mag auch das, was gestern noch als Segen galt, heute als Fluch verstanden werden – die Frage nach dem Sinn unseres Lebens, nach seinem Gelingen oder auch Mißlingen begleitet uns ständig, bewußt oder auch unbewußt.
In dieser Frage nach dem Sinn unseres Lebens kann uns aber Gott begegnen! Carl Zuckmayer hat die Frage an diesen Wilhelm Voigt –„Was hast du aus deinem Leben gemacht?“- ausdrücklich als eine Frage Gottes gestellt.
Hier kommt mitten im Schauspiel, mitten im Film Theologie zur Sprache! Unser Leben ist Gott nicht gleichgültig. Er hat uns unser Leben gegeben und bisher erhalten. Vieles, was uns da als Selbstverständlichkeit erscheint, ist gar nicht so selbstverständlich, sondern Gottes Geschenk. Gott ist es, der jeden neuen Tag schafft. Er mißt uns die Lebenszeit zu. Er verfügt über die Zukunft. Gott schenkt uns – gleichsam als Zugabe – das zum Leben Notwendige. Wir sollen daraus lernen, wie Gott seine Geschöpfe liebt. Das macht seine Gerechtigkeit, wie auch Martin Luther sie verstanden hat, aus. Gott schenkt. Er ist zuerst da. Wir sind in seiner Hand geborgen, mag sie auch zuweilen auf uns lasten, wenn wir Leid tragen, wenn wir von einem lieben Menschen Abschied nehmen müssen. Wir sind in Gottes Hand geborgen – das ist doch gemeint, wenn dieser Wilhelm Voigt Gott als den anredet, der „allens jeweckt hat“ und der deshalb fragen kann: „Was hast du mit deinem Leben gemacht?“
Komm her!
Nur: Dieser Wilhelm Voigt antwortet in einer bestimmten Richtung. Gott ist für ihn der große Frager, der große Kritiker, der unbestechliche Richter. „Geh weg!“ – sagt dieser Gott, weil du meinen Vorstellungen, meinen Normen nicht entsprichst!
Hier kommt ein ganz bestimmtes Gottesbild zur Sprache. Gott wird hier bestimmt ernster genommen als bei so manchem Gerede vom „lieben Gott“! Und dennoch fehlt etwas Entscheidendes an diesem Verständnis vom „Herrsein Gottes“, das Carl Zuckmayer diesem Wilhelm Voigt in den Mund gelegt und das er wohl selbst vertreten hat. Und dieses Entscheidende bringt der Apostel Paulus in dem Wort aus dem Römerbrief zur Sprache, das wir am Anfang der Predigt gehört haben. Ja: Dieses Wort ist das Thema, das den ganzen Römerbrief durchzieht: Die frohe Botschaft von Jesus Christus ist „Gottes Kraft zur Rettung für jeden, der glaubt“. Gott fragt nach uns. Er fragt: „Was hast du aus deinem Leben, das ich dir gegeben habe, gemacht?“ Aber er fragt um Jesu willen als der, der uns lieb hat, der uns und unsere Welt um Jesu willen nicht aufgibt! Statt „Geh weg!“ sagt er „Komm her!“ In Jesu Mund heißt das: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken“!
Konkurrenz für Gott?
Freilich wissen wir, daß dieser einladende Gott bei uns große Konkurrenz bekommen hat. Andere Dinge sind an seine Stelle getreten. Auch Dinge, die wir gewöhnlich als „weltlich“ einstufen, können schnell zum Religionsersatz werden: Moderne Schlager ersetzen Choräle; man erwartet von ihnen Trost und Hoffnung. Starkult und Showgeschäft sind fast so etwas wie moderne Heiligenverehrung und Reliquienkult geworden. Fußballstadien gleichen Wallfahrtsorten, Demonstrationen Prozessionen usw. Hochhäuser gliedern heute die Städte wie früher die Kirchtürme. Wurde noch vor kurzem die Natur verachtet, so droht heute nicht nur im „grünen“ Spektrum eine Art Naturvergötterung. Belassen wir es bei diesen kurzen Andeutungen zum Nachdenken!
Die große Einladung
Biblisches Denken ist von einem anderen Grund her bestimmt: In diesem Evangelium von Jesus von Nazareth „wird Gottes Gerechtigkeit offenbart aus Glauben zum Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus Glauben leben“. Das Evangelium ist eine frohe Botschaft vom Erweis der Barmherzigkeit Gottes in Jesus Christus. „Glauben“ heißt: Sich auf diesen Zuspruch des Evangeliums verlassen. „Gottes Gerechtigkeit“ ist das Geschenk, das allen Glaubenden zuteil wird! Und diese Gerechtigkeit bietet Gott aller Welt an! Sie kennt keine Grenzen. Auch nicht die Grenze des Todes! Wir Lebende und unsere Toten sind bei Jesus geborgen. Er ist der Herr über Lebende und Tote.
Herren damals und heute
Freilich: Die Christen zur Zeit des Paulus konnten sich „Herren“ leichter vorstellen als wir heute. Sie dachten z. B. an die Person des Kaisers, an seinen Hofstaat und an seine Bauten. Demgegenüber sieht z. B. das Europa-Parlament in Straßburg von außen eher wie ein modernes Hallenschwimmbad, von innen eher wie eine überdimensionale Tanzbar aus. Politische Macht ist heute oft unsichtbar, anonym geworden. Man kann damit schon Angst einjagen! Bürokratie und Computer erscheinen als moderne Ungeheuer, die in der kollektiven Phantasie das Gefühl einer Allgegenwart hervorrufen, demgegenüber früher die Allgegenwart Gottes geradezu gemütlich war. Anonyme Mächte scheinen uns heute die Frage zu stellen, die in Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ diesem Wilhelm Voigt von Gott gestellt wird.
Gehen wir noch einen Schritt weiter! Im „Hauptmann von Köpenick“ sagt Gott zu Wilhelm Voigt: „Geh weg! Dafür, daß alle auf dir rumtrampeln, habe ich dir das Leben nicht gegeben!“ Das klingt schon dramatisch.
Bei uns geht es in der Regel nicht so dramatisch zu, wenn wir uns von Gott bis auf einzelne Augenblicke in unserem Leben verabschieden, wenn wir zu Gott sagen: „Geh weg!“
Gottes Einladung bleibt!
Dennoch bleibt Gottes Frage nach uns in Kraft. Und diese Frage nach uns ist eine Einladung! Der Gott der Bibel ist der einladende Gott. Nicht das „Geh weg!“ ist für den biblischen Gott charakteristisch, sondern das „Komm her!“ Gott hat uns in Jesus Christus reich beschenkt. Deshalb fragt er nach uns! Heute und morgen!