Kraft, die Schwache stark werden lässt und in Beziehung setzt
Die Gerechtigkeit Gottes und das Evangelium
Predigttext: Römer 1,(14-15)16+17 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
16 Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. 17 Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): >Der Gerechte wird aus Glauben leben<.Vorbemerkung
Der Prediger beschränkt sich auf die Verse 16f. In zwei Versen komprimiert bringt Paulus das ganze Heilsgeschehen auf den Punkt. Die Predigtausführungen dazu fokussieren die Kraft Gottes, die im Evangelium, der guten Nachricht, zutage tritt. Drei Lebensbezüge bemühen sich um Anschaulichkeit, die dem Abstrakten Konturen verleihen wollen. Sie betonen ihrerseits den Geschenkcharakter der Kraft, die in Beziehung zu setzen vermag. Die darin offenbarte Gerechtigkeit Gottes ist beziehungsstiftend, nicht zerstörend. Im Vertrauen nimmt der Mensch das Geschenk Gottes an.Zitate in der Predigt
1 – Martin Luther Zitate aus der Vorrede zu Band I der Lateinischen Werke (1545) WA 54,185,14ff. 2 - Niklas Luhmann, Auf den Spuren der Engel, S. 64f. 3 - Nach Rudolf Bösinger, Wir sind mehr gerettet als wir wissen, S. 8.Lied:
* Der liebe Gott * Als kleinem Kind, da sagte man mir: Der liebe Gott im Himmel schaut herab zu dir. Was du auch tust, er sieht dir zu, weiß alles ganz genau und lässt dir keine Ruh. Viel später dann erst fiel mir ein: So kann der liebe Gott nicht sein. Erdacht, um Menschen Angst zu machen. Nein, nein, darüber kann ich heut' nur lachen. Refrain: Hast du es schon gespürt, wie der Gedanke mich berührt: Gott ist nur ein Bild, von uns erdacht, und jeder hat sein eig'nes sich gemacht. Der Pfarrer sprach es in der Predigt aus: Es kommt der Tag des Richtens schauerlich und graus. In dieser Stund ist es zu spät, die Bösen ins Gericht, da hilft auch kein Gebet. Nie wieder hab' ich zugehört, mich hat der Druck enorm empört. Geschwätz, um Menschen Macht zu zeigen. Nein, nein, so laß ich mir den Marsch nicht geigen. Da hab' ich Jesus selbst befragt, was hat er über Gott, den Vater ausgesagt? Ich habe dann auch schier gestaunt: Bei ihm ist Gott barmherzig, gütig, gut gelaunt. Das Gleichnis vom verlor'nen Sohn sieht Liebe als gerechten Lohn, bedingungslos verschenkt im Glauben. Ja, ja, ich mein, das schmeckt nach süßen Trauben. (Text: Pfarrer Kurt Rainer Klein, Noten dazu können beim Autor über KR.Klein@t-online.de bestellt werden)Gedicht
* Gerechtigkeit * Es ist gerecht, sagen wir, wenn der Übeltäter, seiner Tat überführt, bestraft wird. Es ist gerecht, sagt Jesus, wenn Gerechtigkeit dazu führt, dass der Sünder frei gesprochen wird. Offensichtlich ist die irdische Wirklichkeit eine andere als die himmlische. Für mich selbst beanspruche ich die himmlische. (Text: Pfarrer Kurt Rainer Klein, Schornsheim (KR.Klein@t-online.de)Kraft ist nötig
Es gehört zu den Ermutigungen, die man einem Menschen wünschen kann: „Kraft“. Kraft für bevorstehende Aufgaben. Kraft für die
Herausforderungen des Lebens. Kraft für alles Schwierige. Kraft, die trägt, wenn man selbst schwächelt.
Niemand unter uns könnte sagen, dass er genug Kraft hätte, um aus eigener Kraft heraus zu leben. Und nicht immer haben wir genügend Kraft, andere zu tragen, zu trösten, zu stärken. Wer wünscht sich nicht mehr Kraft zu lieben oder die Kraft, andere Menschen besser zu verstehen?! Wer sehnt sich nicht nach der Kraft, mit seinem Schicksal besser fertig zu werden und die Widrigkeiten des Lebens leichter zu ertragen?! Wer hätte nicht gerne mehr Kraft, den Anforderungen des Lebens standzuhalten und seine Entscheidungen selbstbewusst zu treffen oder einmal bestimmt nein sagen zu können?! Und wir wissen auch: Wer heute vor Kräften strotzt, kann morgen zu denen die gehören, die mutlos und matt geworden sind.
„Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden“, ermutigt(Deutero-)Jesaja die Strauchelnden und Fallenden. Und Paulus weiß von der Kraft Gottes, die uns im Wort erscheint. Wo immer uns Kraft abverlangt wird, hier wird uns Kraft angeboten. Kraft für die Müden, Stärke genug den Unvermögenden. Wo immer wir Kraft lassen müssen, hier wird uns Kraft zugesprochen: Kraft im Evangelium, in der guten Nachricht, die uns das Leben in seinen Möglichkeiten erschließt. Es ist die Kraft, die unverfügbar bleibt! Die Kraft, die auf wundersame Weise den Kraftlosen und Müden wieder auf die Beine stellt. Kraft, die
einen neuen, ungeahnten Gedanken ins Spiel bringt. Kraft, die Phantasie freisetzt und neue Wege weist.
Kraft wird geschenkt
Martin Luther wird diese Kraft zuteil. Im Ringen um das richtige Verstehen des Evangeliums. Kraft, die sein Innerstes umkrempelt, die ihm ein neues Verständnis der „Gerechtigkeit Gottes“ erschließt.
“Ich haßte nämlich dieses Wort >Gerechtigkeit Gottes<, weil ich – nach Brauch und Gewohnheit aller Kirchenlehrer – unterwiesen worden war, es philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, wonach Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich haßte ihn…So raste ich mit wütendem und verstörtem Gewissen, und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend danach lechzte, zu wissen, was St. Paulus wollte. So lange, bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend meine Aufmerksamkeit auf den (inneren) Zusammenhang der Worte richtete, nämlich >Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben<, – da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, daß dies die Meinung ist, es werde durchs Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht:”Der Gerechte lebt aus dem Glauben”(1)
Die Kraft des Evangeliums ermutigt Martin Luther zur Auseinandersetzung mit dem Wort der Schrift und Ringen um ein neues Verständnis dessen, was ihn rasend machte. Hier begegnet ihm das Faszinierende und Erschreckende zugleich. Er hat nicht losgelassen, bis er im Mai 1513 sein Turmerlebnis hatte. Luther spürt kraftvoll die Verwandlung, die die Kraft des Evangeliums bei ihm bewirkt hat: “Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht.”(1) Danach konnte Martin Luther einen Brief unterschreiben mit >Martinus Eleutheros< – Martin der Freie.
Kraft kann ermutigen
Warum sollte man sich solch einer Kraft schämen?! Kraft, die einem nicht abverlangt, sondern geschenkt wird. Kraft, die bis in unser Inneres vordringt und in der Tiefe unserer Seele wirkt. Kraft, die Schwache stark werden lässt. Muss sich ein Kind schämen, das sich von seiner Mutter in seiner Angst trösten und beruhigen lässt! Stellen wir uns folgende Situation einmal vor: “Das Kind erwacht – vielleicht aus schweren Träumen – und findet sich allein, von nächtlicher Dunkelheit umgeben, namenloser Angst ausgeliefert. Die vertrauten Umrisse der Wirklichkeit sind verwischt, ja unsichtbar. Chaos will hereinbrechen. Das Kind schreit nach der Mutter. In einem solchen Augenblick ist der Ruf nach der Mutter, ohne Übertreibung der Ruf nach einer Hohenpriesterin der Ordnung. Die Mutter – und vielleicht nur sie – hat die Macht, das Chaos zu bannen und die Welt in ihrer Wohlgestalt wiederherzustellen. Genau das tut eine Mutter. Sie nimmt das Kind in den Arm und wiegt es … Sie zündet ein Licht an, und warmer, Sicherheit verheißender Schein umgibt sie und ihr Kind. Sie spricht zu ihrem Kind, sie singt ihm ein Schlummerlied. Und der Grundtenor ist auf der ganzen Welt immer und immer derselbe: “Hab’ keine Angst”; “alles ist in Ordnung”; “alles ist wieder gut”. Das Kind schluchzt vielleicht noch ein paarmal auf und gibt sich allmählich zufrieden. Sein Vertrauen zur Wirklichkeit ist zurückgewonnen, und in diesem Vertrauen kann es wieder einschlafen.”(2)
In mancher Situation erscheinen wir wie das erwachte Kind und finden uns in heller Aufregung wieder. Sind die Chaosmächte stärker? Überwältigt uns die Dunkelheit? Verlieren wir den Boden unter unseren Füßen? Dann brauchen wir die Kraft, die uns beruhigt, die unser Vertrauen wiederkehren lässt. Wie die Mutter hat das Evangelium solche Kraft, die aus Vertrauen zum Vertrauen führt.
Kraft schafft Beziehung
Der helfenden Kraft braucht sich niemand zu schämen. Des Evangeliums nicht, weil es uns retten will aus unserer Verlorenheit, die uns in Ängsten und Beziehungslosigkeit findet. Im Wort kommt diese helfende Kraft daher. Als Evangelium, als gute Nachricht, die uns in Beziehung setzt. Wie das Kind seine Angst verliert im Arm der Mutter, stärkt uns die Kraft des Evangeliums zu neuem Vertrauen. Das Wort stellt den Kontakt her zu dem, der uns wieder in Beziehung setzt und unsere Verlorenheit aufhebt. Eine Begebenheit mag dies verdeutlichen:
“Eine Frau litt an einer furchtbaren Obstipation, Verstopfung. Keine Behandlung, kein Mittel half. Die Gefahr eines tödlichen Ausgangs erschien am Horizont. Der Arzt fragte: >Was halten Sie zurück?< Die Frau erzählte dann eine alte Geschichte, Ehebruch, als ihr Mann im Felde war. Der Arzt: >Sie müssen es ihm sagen!< Die Frau: >Er wird es nicht ertragen können. Sonst hätte ich es ihm schon gesagt.< Auf Leben und Sterben sagte sie es ihm dann. Der Ehemann aber sagte, zu ihrer tiefsten Erschütterung: >Es ist alles gut.< – >Von Stund an<, sagte der Arzt, >von Stund an war die Obstipation verschwunden.<
In dieser Kraft schauen wir die Gerechtigkeit, die sich – wie Luther erkannte, wie die ‘Ehebrecherin’ erfuhr – auf unsere Seite stellt und uns freispricht. Martin Luther konnte sich als Eleutheros – der Freie – bezeichnen, die ‘Ehebrecherin’ als Befreite fühlen und genesen. Beiden ist gemeinsam, dass ihre scheinbar übermächtige Angst ihre Macht verlor und bedeutungslos wurde. Und an Stelle ihrer Verlorenheit wurde Beziehung wieder hergestellt. Sie haben sich (wieder) angenommen gefühlt und die Freude am Leben genossen.
Kraft hat einen Namen
Ob wir nun lesen: “Der Gerechte wird aus Glauben leben!” oder “Der Gerechte aus Glauben wird leben!” Wir dürfen das Geschenk, das uns unverdient zuteil wird, annehmen. Die Kraft des Zuspruchs darf in uns Schwachen wirken. Aus Senfkorn großem Vertrauen dürfen wir zu stärkerem Vertrauen gelangen.
Gottes Gerechtigkeit hat in Jesus Christus ihren Namen. Dieser Jesus hat – so entnehmen wir es den Evangelien – stets Menschen neu in
Beziehung gesetzt: zu sich selbst wie etwa Petrus, zum Mitmenschen wie einen Zachäus, zu Gott wie Nikodemus. Warum sollte ihm das bei uns nicht auch gelingen – mit der Kraft des Evangeliums?!