Wort und Tat

Wir als Hebräer?

Predigttext: Hebräer 4, 12-13
Kirche / Ort: Tübingen
Datum: 15.02.2004
Kirchenjahr: Sexagesimae (60 Tage vor Ostern)
Autor/in: Autorin und Kulturjournalistin Christa Hagmeyer

Predigttext: Hebräer 4,12-13 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn ein zweischneidig Schwert und dringt durch, bis dass es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und keine Kreatur ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor Gottes Augen, dem wir Rechenschaft geben müssen.

zurück zum Textanfang

Ein Essay oder: Gedanken zum Predigttext

Ein Predigttext aus dem Brief an die Hebräer – da haben wir ja Glück. Was geht’s uns an, was der Briefschreiber den Hebräern ins Stammbuch schreibt! Die Hebräer – vielleicht ließe sich aber auch eine übertragbare Mahnung heraushören, passend auf die heutigen Nachfahren in dem lang währenden Unruheherd im Vorderen Orient; man hört ja gerne für andere.

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer denn ein zweischneidig Schwert und dringt durch, bis dass es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und keine Kreatur ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor Gottes Augen, dem wir Rechenschaft geben müssen. (Hebräer 4,12-13)

Der historische Hintergrund

Man soll Worte nicht aus dem Zusammenhang reißen, denn nur wenige Worte wirken autonom wie ein solitärer Baum oder wie ein Aphorismus. Also gehen wir in Schritten vor. Gestützt auf fachkundigen Rat untersuchen wir zuerst den historischen Hintergrund. Danach mag uns das Bildhafte einiger Begriffe anziehen, dem sprachgeschichtlichen Wandel sollten wir uns nicht entziehen. Wer weiß, welche Facetten sich auf diese Weise auftun werden.

Zunächst verraten uns verschiedene Lexika, dass der Hebräerbrief eigentlich keinen Titel hat. Dieser wurde ihm erst im vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung angeheftet. Und es ist vielleicht gar kein Brief, denn Adressat und Anrede fehlen. Sogar der Schreiber ist unbekannt. Vielleicht hieß er Barnabas, vielleicht Apollos. Paulus hat diesen Text jedenfalls nicht geschrieben, denn Paulus sprach kein so anspruchsvolles Griechisch, wie es diese Kapitel aufweisen – sagen die Forscher. Es handelt sich vielleicht um eine Predigt, doch wer hatte es nötig, auf diese Weise wegen Abfall und Glaubensmüdigkeit gemahnt zu werden? Letztlich ist unklar, ob eine Gemeinde von Judenchristen oder Heidenchristen oder alle zusammen siebzig Jahre nach Christus nahe dabei waren, das Christsein verdrießlich zu finden. Was brachte es ihnen denn ein? Verfolgung, drohende Irrlehren und ein anscheinend vergebliches Hoffen auf die Wiederkunft Christi, die man zeitnah erwartet hatte.

Gegenwärtig herrscht die Meinung vor, dass ein hellenistischer Christ der zweiten oder dritten Generation die Predigt geschrieben haben könnte, einer, dem nicht nur die paulinische Lehre, sondern auch das jüdische Denken sehr vertraut war. Dies lässt sich an Folgendem festmachen:

Der Schreiber verwendet viele Begriffe aus der jüdischen Erfahrenswelt, abstrahiert diese aber zur Metapher, damit er sie für seine Gedanken einsetzen kann. Er will mit Anknüpfungen und Gegensatzpaaren immer wieder eine neue Gottesordnung von der vorhergehenden abheben (Opfer – Gottesdienst; Mose/Knecht – Jesus/Sohn; Melchisedek – Jesus). Mehr noch, der Schreiber hält das alte Testament oder gar das Judentum gewissermaßen für überholt.

Er versucht auch, den Gedanken des Dualismus von Paulus aufzunehmen. In dem zu besprechenden Text gerät ihm aber der Umgang mit Bildsprache für unser heutiges Verständnis etwas unsicher. „Seele und Geist“ werden in einer neueren Übertragung „Leben und Geist“ genannt; beides aber müssen keine Gegensätze sein. Noch weniger können wir nachvollziehen, dass die Wirkung des Wortes so aggressiv beschrieben wird: „Trennen von Mark und Bein“ oder in der neueren Version von „Gelenken und Mark“.

Ohnedies ist dieser Text in Gefahr, eine aggressive Schlagseite zu bekommen durch Worte wie „scharf, zweischneidig, trennen, Richter, Rechenschaft“. Nehmen wir noch den vorhergehenden Satz hinzu:

„So lasset uns nun Fleiß tun, hineinzukommen zu dieser Ruhe, auf dass nicht jemand zu Fall komme in gleichem Ungehorsam“.

Die Sprachbilder

Für welchen Zweck sollte ein Sprachbild bis hin zur Schärfe gesteigert werden? Oder wird hier vorsätzlich ein Sprachgestus gewählt, der bewusst trennen soll, was organisch zusammen gehören könnte und sollte? Und wird dann hierfür das „Wort Gottes“ in Dienst genommen?
Jedenfalls bleibt der liebende Gott, der in AT und NT benannt wird, bei dieser Sehweise außen vor. So müssen wir in Fällen absichtsvoller Gewichtung vor einer Überdeutung warnen.

Sprachgeschichtliche Betrachtungen

Es mögen hier einige sprachgeschichtliche Betrachtungen die Perspektive erweitern.

Kommen wir noch einmal auf die „Hebräer“ zurück. Der Text erhielt bei der Kanonisierung der Bibel wohl diesen Titel, weil die Predigt zahlreiche Anspielungen auf das Alte Testament enthält. Auch waren in den ersten Jahrhunderten der Verbreitung des Christentums bereits munter Feindbilder im Gange. Nicht nur bestand der Antijudaismus bereits in der Antike, es gab auch Streitigkeiten zwischen Judenchristen und Heidenchristen, ob die jüdische religiöse Praxis zwingender Bestandteil des christlichen Lebens sein müsse, also zum Beispiel Gesetzestreue, Beschneidung. Voraus ging sogar die Frage, ob Nichtjuden überhaupt an dem christlichen Bekenntnis teilhaben können.

Wenn unser Schreiber nun alttestamentliche Begriffe unter Einbeziehen der Christus-Ereignisse interpretiert, so kam das der frühen Kirche sehr gelegen. Sie folgerte weiter, dass die Kirche nun die Nachfolge in der Auserwählung angetreten habe.

Es wurde übersehen, dass auch das Judentum sich in einem Prozess befand, dass es Gott nicht nur mit Macht, Gerechtigkeit und Herrlichkeit verband, sondern auch mit der vergebenden Liebe.

Das Mitgehen ins Leiden und das Mittragen von Schuld waren nach der Zerstörung von Jerusalem jüdische Erfahrung und Lehrinhalt. Von christlicher Seite aber wurde dies ignoriert. Die Judenverfolgung war damit eingeleitet. Nun war es die Kirche, die gesetzlich und selbstgerecht wurde. Christen hielten sich sogar für Werkzeuge des göttlichen Gerichts. Das Leiden der Juden war „in Ordnung“, deshalb trat auch niemand in einer Weise für die Juden ein, die den offiziellen Trend zur Verachtung und Feindschaft gegenüber den Juden benannt und beendet hätte.

Ein Text, nicht nur für andere gedacht

Mit solcher Vorkenntnis, die wir in diesem Fall nicht scheuen dürfen, können wir nun nicht darauf beharren, dieser Text sei nur für andere gedacht. Wenn wir voraussetzen, dass die Bibel in ihrer heutigen Form der Gegenwart Impulse geben könne, so tun wir gut daran, den Weg dieser Sprache mitzugehen. Geschichtliche Entwicklungen sind eine Sache, die eigene Haltung ist nicht automatisch eine entgegengesetzte, sondern die Basis, auf der Vorgänge erst wirksam werden und eventuell bleiben.

Zu den Begriffen in unserem Text

„So lasset uns nun Fleiß tun“ –

dies bedeutet nicht nur „fleißig sein“, sondern eher „absichtlich, mit Vorsatz“. Es sind also nicht Hörigkeit, sondern Mündigkeit, Einsicht und Willenskraft angesprochen.

„Hineinzukommen zu dieser Ruhe“ –

hier wird an die Schöpfungsgeschichte angeknüpft, man erinnert sich auch an das Sesshaftwerden nach der Wüstenwanderung des Volkes Israel im verheißenen Land. Gott wird als Ort und Inbegriff möglicher Ruhe gesehen. Ruhe heißt Pause, Ende von Anstrengung und Arbeit, Ruhe ist auch ein fast poetischer Begriff für den Tod. Im Althochdeutschen beschreibt „Ruhe“ das Gleichmaß der Seele. Moderner kann man „ruhig“ mit „ohne Bedenken“ interpretieren. Setzen wir den Gedanken des Kontrastierens im Hebräerbrief fort, so folgt diese „Ruhe“ auf das jüdische „Tun“, passive, gestaltlose Abstraktion folgt auf reale Erfahrung.

Es geht aber weiter:

„Dass nicht jemand zu Fall komme in gleichem Ungehorsam“.

Darin sind nicht so sehr Unglück oder Unfall zu sehen, schicksalhafte, unsteuerbare Einflüsse. Es wird Fehlverhalten benannt, fortgesetztes Fehlverhalten. Wir kennen den Begriff von den „gefallenen Mädchen“, die man früher in unwürdiger Weise ächtete. Auch dies ist ein Beispiel, dass die Menschen erst einen Begriff prägen, eine Norm aufstellen und sich dann das Urteil anmaßen. Der „Richter“ aber wird uns in einem anderen Abschnitt beschäftigen.

Ungeschickt gewählt ist das Sprachbild

„schärfer als ein zweischneidiges Schwert“.

Solches Schwert schreckt nicht vorrangig seiner Schärfe wegen, sondern weil es zwei Schneiden hat. Der Mensch kann sich aber immer nur eindimensional ausrichten. Der Begriff „zweischneidig“ hat sich in unserem Sprachgebrauch verselbstständigt. Hier wird der Dualismus angesprochen, die Ambivalenz unserer ganzen Existenz. Wenn wir solches nicht beachten, dass jedes Ding, jeder Begriff mindestens zwei konträre Wirkungsgrade hat, werden wir allzu leicht Opfer des ignorierten Teils. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen:

Ordnung ist nicht nur Ästhetik und Produktionsvorteil, sie ist auch Fessel. Liebe ist nicht nur Zuwendung, sie ist auch Besitzverlangen. Geduld kann Leichtsinn sein, Hoffnung kann zur Weltflucht werden.

Voraus geht aber die Aussage, das Wort sei schärfer als…. Das Wort ist Sprache, ist Intellekt. Wir führten den Begriff „Gott“ ein für die umfassende Intelligenz, von der alles ausgehe, in der alles ruhe, denn auch die stetige Bewegung und Entwicklung in ihrer Selbstverständlichkeit und Eigengesetzlichkeit ist eine Art von Ruhe. So kann der Intellekt ein Schöpfungsbestandteil gesehen werden. Wie kommt es dann, dass manche Christen den Verstand verteufeln? Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde – ein Quäntchen Verstand bekam der Mensch dabei ab. Wir hören dies gern, jedoch unterläuft uns leicht der Umkehrschluss, dass wir Gott mit unserer Beschränktheit gleichsetzen, dabei kennen wir doch den Begriff „Projektion“. Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott – ein Bild zwingt einen engen Rahmen auf. Ein Bild ist nie das Original selbst, der gewählte Ausschnitt erlaubt statt Kenntnis und Urteil nur noch ein „Vorurteil“. „Das Wort“ aber ist nicht einzugrenzen, es wird nie zu einem Ende kommen.

„Das Wort“ –

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. „Das Wort“ ist selbst dem Wandel unterworfen, und es dokumentiert Entwicklungen, auch Bedeutungsveränderungen. „Das Wort“ ist verbalisierter scharfer Verstand, genau im Aspekt, unendlich, denn es weist ins Offene.

„Gott“,

dieses Wort ist der Platzhalter für einen Gott, der keinen Namen führen will, wie das Alte Testament erzählt. Damit soll ausgedrückt werden, dass man Namen zur Unterscheidung braucht; der Gott der Bibel wird aber als der Einzige beschrieben. Fromme und Flucher tragen diesen Begriff leicht auf der Zunge, ihre persönliche, inflationäre Reduktion einer Definition.

„Trennen“ oder „scheiden“ –

Wie schon eingangs angedeutet, soll hier eine religionsgeschichtliche Schnittstelle, ein Paradigmenwechsel bildhaft ausgedrückt werden. Jedoch gibt es historisch keine scharfe Schnittstelle zwischen Denkweisen. Epochen verzahnen sich. Auch können Denkweisen nicht als absolut gültig angesehen werden; die Menschen strafen ihre eigenen Thesen oft schon nach kurzer Zeit Lügen.

Der Hebräerbrief scheint auf seine Weise eine Verzahnung mit der Tradition zu versuchen, indem er begrifflich anknüpft und die bekannten Vokabeln und Bräuche umwandeln will. Das ist eine ausgesprochen menschliche Strategie. Tatsächlich aber denkt man hier eher an Vereinnahmen und Überbieten (so urteilen zumindest jene, die das Alte Testament nicht herabgestuft sehen möchten).

Judaisten erzählen uns, die Elemente des Judentums seien Lernen, Bewahren und Tun, eine diesseitig orientierte und sich verpflichtet fühlende Haltung also. Der Hebräerbrief aber führe nicht nur kopflastiges griechisches Denken ein, nämlich einen abstrakten, aufs Jenseits gerichteten Glauben, er erkläre die jüdische Haltung für überholt und ungültig. Solches habe Juden verbittert, denn die Geschichte Israels, die gelebte Erfahrung mit Gott, sei damit entleert worden.

“Bund” und “Testament”

Zu reden ist hier auch davon, dass auf sprachlichem Weg über Griechisch und Latein aus dem „Bund“ ein „Testament“ wurde. Aus Partnerschaft von Gott und Mensch wurde eine einseitige Willenserklärung, erfolgt nach einem Tod. Aus berit im Hebräischen wurde diathaekae im Griechischen und daraus das lateinische testamentum.

„Das Wort“ aber wird wohl kaum seine gestrige Rede verleugnen. Jede Epoche ruht auf den Schultern der vorherigen Zeitalter, sie stellt ein Weiterschreiten, jedoch nicht auf allen Ebenen einen Fortschritt dar. Sie löst das Vorherige nicht auf, macht es nicht nutzlos. Jede Schrittlänge behält ihren eigenen, mal mühseligen, mal bizarren oder mitunter heiteren Charakter. Warum sollte „das Wort“ Elemente scheiden, die sich wechselseitig brauchen?

„Ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ –

Vor Gericht wird (in Anlehnung an das griechische krisis) erst einmal kritisch gefragt, damit eine eigene Meinung möglich wird. Es muss zu einer Entscheidung zwischen „richtig und falsch“, zwischen „gut und böse“ kommen. „Dem Wort“ wird dann allein ein objektives Urteil zugetraut, das Subjekt dagegen kann Objektivität nur anstreben, jedoch nicht leisten. „Das Wort“ soll Irrtum und Täuschung ein Ende bereiten, Manipulation und Suggestion offen legen, „das Wort“ kann Tacheles reden. Jedoch lag hierin zu allen Zeiten ein guter Nährboden für Missbrauch. Wer gab nicht schon alles vor, im Namen Gottes zu reden.

„Richten“ im biblischen Sinn geht voraus: „Du bist mir recht“ im Grundsatz. Unvermögen muss also eine Korrektur erfahren. Eine falsche Tat wird kritisiert, nicht der Mensch wird abgelehnt.

„Richten“, das meint zunächst und vor allem ein Zurechtrücken. Das Chaos, das uferlose Mäandern der Gedanken bekommt eine Richtung. Wahrnehmung und Urteil werden möglich, Reaktion und Handlung können folgen. Doch dürfen wir auch hier die oben erwähnte Ambivalenz nicht vergessen, dazu den begrenzten Blickwinkel und die zeitliche Gebundenheit von uns Menschen. Das spricht gegen jedes Verabsolutieren einer sogenannten Erkenntnis. Das spricht gegen überhebliche Lehrhaftigkeit.

Übrigens ist Chaos nicht Chaos im umgangssprachlichen Sinn. Die Wissenschaft und auch Künstler lehren uns, dass Chaos eine andere Art von Ordnung ist. Und wenn wir nun auch einmal bei der jüdischen Tradition anknüpfen, so stoßen wir auf die Ahnung eines Sehers, diese Welt könnte nicht die erste, sondern vielleicht die 23. sein, und auch künftig „kann Gott sich aus Steinen Kinder erwecken“. „Das Wort“ in seiner Unendlichkeit – was ist im Vergleich unsere zeitliche Gebundenheit; Bach lässt im Weihnachtsoratorium singen: „Erhöre mein Lallen“.

„Richter“ in strafrechtlichem Sinne ist eine spätere sprachliche Variante dieses Begriffes. Doch muss auch der Richter bei Gericht erst einmal ordnen, wahr und unwahr, Recht und Unrecht herausfinden. Er soll dem Unterdrückten Recht schaffen. Wenn unser Strafrecht heute die Strafe im Sinne von Rache ablehnt und das Erziehungsmoment beim Urteil betont, so nähern wir uns hier wieder dem älteren Begriff des Richtens im Sinne von Zurechtbringen.

„Und keine Kreatur ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor Gottes Augen, dem wir Rechenschaft geben müssen“ –

oder nach einer neueren Übertragung: „Und kein Geschöpf ist unsichtbar vor ihm. Alles ist nackt und wie mit bloßgelegtem Hals vor den Augen dessen, dem wir Rede stehen müssen.“

Kommt nun zuverlässig wieder einmal die Drohung mit dem Jüngsten Tag, dazu der Angst verbreitende Gott? Vor dem Henker haben Verurteilte ihren Hals zu entblößen. Wird uns nun die Hölle heiß gemacht, um Gott besser „verkaufen“ zu können? Wir unterscheiden aber zwischen dem, was in knapper Weise dasteht und dem, was daraus gemacht wurde, wenn Gott „verkauft“ wurde, denn die Silberlinge kommen ja nicht aus der Mode.

Das „Richten“ ist nicht nur zukünftig, sondern gegenwärtig zu sehen. Fähigkeit und Pflicht zur verantwortlichen Entscheidung sind unserer Wesensart beigegeben. In unserem Wesen konkurrieren aber neben der Tat auch Verdrängung und Bequemlichkeit.

Private, meditative Seelenpflege?

Wenn wir Rechenschaft geben müssten, könnte es peinlich für uns werden. Haben wir uns geirrt, wenn wir ein Christenleben lang glaubten, es ginge vor allem um unsere private, meditative Seelenpflege? Am Schluss dieses kurzen Textes ist nicht nur von uns die Rede und schon gar nicht von der Hypothese einer Jenseitserwartung, die auf sozialer Ungerechtigkeit aufgebaut ist und die Elenden ruhig halten soll.

Der Schreiber, der schreibtechnisch gerne Begriffspaare auftreten lässt, stellt dem „wir“ nun die „Kreatur“ gegenüber. Gott hat in diesem Rollenspiel die Außenperspektive, nicht die augenblicklich agierende Rolle; der Schreiber erwähnt ihn aber ausdrücklich, damit der Mensch nicht denke, er habe freie Bahn und für sein Handeln gebe es keine Zeugen.

Die Kreatur, alle Geschöpfe mögen wir aus unserer Verantwortung ausklammern, sie sind trotzdem vorhanden. Sie sind nicht verborgen, nicht im Dunkeln. Sie existieren wie „nackt“, verletzlich. Haben sie eine Wahl, ob sie ihren „bloßgelegten Hals“ riskieren wollen vor den selbsternannten Henkern?

Nicht von ungefähr bezogen Maler Fauna und Flora in ihre Bildsprache ein. Damit ist nicht nur Realismus als Kunstrichtung gemeint, es handelt sich eher um eine Allegorie. Die Kreatur wird einbezogen, als Mitgeschöpf, das sich ebenso wie der Mensch danach sehnt, seine Existenzlasten abstreifen zu dürfen. Die Kreatur und „wir“ – nach jüdischem Denken ist der Mensch beauftragt und befähigt, die Kreatur zu erlösen. Mehr als Mildern der Leiden wird niemals möglich sein, dies aber wird versäumt. Im Gegenteil, die Kreatur ist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch eine Sache, in der Wirtschaft ein Produktionsmittel, für triebhafte Willkür ein Spielzeug, für die Forschung ein Projekt; der Bequemlichkeit und Gewinnsucht ist sie meist im Weg. Wie kommen wir zu solcher Anmaßung? Das werden wir erklären müssen – eigentlich jetzt schon.

Wechselseitige Bedingtheit von Wort und Tat

Die wechselseitige Bedingtheit von Wort und Tat wird an dieser Stelle angedeutet. Demnach kommt es nicht nur auf die Gesinnung im Sinne eines abstrahierten, institutionalisierten Glaubensbekenntnisses an, sondern auf die Gesinnung, die persönlich entwickelt und gelebt wird. Jedenfalls kann dies ein Ansatzpunkt für uns sein. Schließlich wäre es in unserer Zeit auch eine Ablenkung von unserer Verantwortung, wenn wir nur darüber streiten würden, wo und ob der Hebräerbrief über Bord werfen, überbieten oder vereinnahmen will.

Kein einfacher Text

Der Hebräerbrief – kein einfacher Text. Wir schauen auf den Text – er schaut fremd zurück – wirklich? Gewöhnen wir uns nicht an das angeblich Unverständliche, diese Bequemlichkeit werden wir auch erklären müssen.

zurück zum Textanfang

Ihr Kommentar zur Predigt

Ihre Emailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert.