Er ist schon da

Zum Umgang mit Not und Leid - manchmal ist Widerstand nötig und manchmal Ergebung

Predigttext: Hebräer 4, 14-16
Kirche / Ort: Arche / Heidelberg
Datum: 29.02.2004
Kirchenjahr: Invokavit (1. Sonntag der Passionszeit)
Autor/in: Pfarrer Dr. Vincenzo Petracca

Predigttext: Hebräer 4,14-16 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984):

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so laßt uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum laßt uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben. Amen.

Vorbemerkungen

Die Gemeinden, an die der Hebräerbrief gerichtet ist, sind angefochtene Gemeinden. Unter dem Druck der Umwelt droht der Glaube ihrer Gemeindeglieder zu erschlaffen, manche drohen abzufallen. Der Text begegnet diesem Problem, indem er auf die Hohepriesterfunktion Jesu verweist. Betont Philo die hohepriesterliche Seite des himmlischen Logos, so zeichnet der Hebr indes Jesus als Mensch aus „Blut und Fleisch“ (Hebr 2,14), als irdischer Jesus, der die Passion und das Kreuz erlitt und sowohl Hohepriester als auch Sohn Gottes ist. Als Mensch kannte Jesus auch die Versuchung „in jeder Art“ (Hebr 4,15), wobei dieser Ausdruck nicht moralisch-ethisch zu verstehen ist im Sinne, daß Jesus drohte, zahllose Sünden zu begehen, sondern daß Jesus in Gefahr stand, die Sünde schlechthin zu begehen, nämlich das Erste Gebot zu brechen und von Gott abzufallen. Jesus hat dieser Versuchung widerstanden und blieb ohne Sünde, betont Hebr 4,15, bringt aber Verständnis für die Unwissenden und Irrenden auf, da auch er der Schwachheit unterworfen war (Hebr 5,2). Mit diesen Ausführungen will der Schreiber des Hebr seine im Glauben angefochtenen Gemeinden stärken.

Literatur:

August Strobel, Der Brief an die Hebräer, NTD 9/2; Göttingen (u.a.) 131991, S. 51-56.

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Vade retro!

Liebe Schwestern und Brüder,

die Frau des Pfarrers kommt mit einem neuen Kleid nach Hause. „Wie gefällt dir mein rotes Kleid?“, fragt sie ihren Mann. „Schön. Aber sag mal, es sieht nicht ganz billig aus?“
„Es hat 1000 Euro gekostet“, antwortet sie kleinlaut. „Was 1000 Euro? Woher soll ich denn das bezahlen? Bin ich etwa `ne Bank?“ Verlegen spielt sie mit dem Saum. „Ich konnte nicht anders. Es war der Satan, der mich verführte, das Kleid zu kaufen.“ „Was, der Satan?“ Ihm fiel fast die Brille von der Nase, so bebten seine Nasenflügel. „Ja, hast du nicht zu ihm gesagt: Vade retro! Satan, weiche zurück!“
„Doch.“ Ihre Antwort war kaum zu hören.
„Was heißt hier ,doch’? Hat die Formel nicht gewirkt?“ „Doch. Er ist zurückgewichen“.
„Aber, wieso hast du dann das Kleid gekauft“, fragt der Pfarrer vollends verwirrt. „Er hat sich nochmals umgedreht!“ verteidigt sie sich. „Als er an der Tür war, hat er sich nochmals umgedreht und gesagt: ,Auch aus dieser Entfernung steht es dir gut`.“

Die Karnevalszeit ist zu Ende. Wir haben heute den ersten Sonntag in der Passionszeit. Aber dennoch erzähle ich Ihnen diesen Witz, weil ich glaube, er bringt eine Wahrheit ans Licht: Die Versuchung ist listig. Wir sollten sie nicht unterschätzen. An unserem schwächsten Punkt findet sie oft ihr Einfallstor. Bei dieser Pfarrfrau war es die Eitelkeit. Der Schwachpunkt kann von Mensch zu Mensch verschieden sein. Aber, ich glaube dennoch: Mit sicherem Instinkt trifft die Versuchung unseren schwachen Punkt.

Die Versuchung der Gemeinden des Hebräerbriefes

Gehen wir einen Schritt weiter, zum Predigttext: Was ist der schwache Punkt der Gemeinden, an die der Hebräerbrief gerichtet ist? Wie sieht ihre Versuchung aus? Die Menschen in diesen Gemeinden leiden unter Nachstellungen. Die Umwelt reagiert feindlich auf ihren Glauben an Jesus Christus. Das löst Verunsicherung aus. Zweifel. Die Gemeinden fühlen sich schwach. Sie fühlen sich in ihrer Erschöpfung von Jesus verlassen. Das Gefühl, verlassen zu sein, ist ihr Schwachpunkt. Der Glaube beginnt zu erlahmen. Bei manchen auch zu erlöschen. Die Versuchung, dem Druck der Umwelt nachzugeben, ist groß.

Wie aber reagiert der Schreiber des Briefes auf diese Gefahr? Er blickt auf Jesus. Er setzt sich kritisch mit dem Jesusbild auseinander, das seine Leserinnen und Leser haben: Ihr habt den Glauben angenommen, daß Jesus der Sohn Gottes ist? Die Leser werden genickt haben. Ihr bekennt einen himmlischen Hohenpriester, der auf die Erde herabsteigt? Wieder Nicken. Ihr glaubt an einen göttlichen Helden, der herabsteigt und sich ungerührt opfern läßt? Zustimmendes Nicken.

Aber ihr irrt euch gewaltig, fährt der Schreiber unversehens fort. Jesus ist kein unerschütterlicher Held! Keine Engelsgestalt, die 50 cm über dem Boden schwebt. Nein, er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut! Er hat auf der Erde gelitten. Geweint. Laut geschrieen. Er war schwach. Ermattet. Zerschlagen. So wie ihr. Persönliche innere Kämpfe blieben ihm nicht erspart. Er kannte die Versuchung. Nicht nur irgendeine Versuchung kannte er, sondern die Versuchung schlechthin. Selbst die Versuchung, den Glauben zu verlieren und Gott abzuschwören, hat ihn gequält.

Ihr seht: Eure Anfechtungen sind ihm nicht fremd! Er versteht alle, die am Glauben zweifeln. Alle, die von finsteren Gedanken gemartert werden. Ja, er versteht auch die, die am Glauben zu verzweifeln drohen. Er fühlt mit unserer Schwäche mit, denn er war selbst schwach. Ihr seid in eurer Schwachheit nicht verlassen. In eurer Schwäche findet ihr Jesus, den Schwachen. Freilich, er hat seine Versuchung überwunden. Haltet daher auch ihr am Bekenntnis an Jesus fest. Am Bekenntnis an Jesus Christus, der am Kreuz litt und zugleich der Sohn Gottes ist. Haltet, trotz eurer Anfechtung, am Glauben fest! So ermuntert der Predigttext die Müden und Matten.

Die Versuchung Jesu

Gehen wir einen Schritt weiter, zu Jesus: Wie sieht der schwache Punkt Jesu aus? An welche Versuchung denkt unser Predigttext? Wohl an die dunkle Nacht am Ölberg. Jesus betet in der Nacht vor seiner Hinrichtung. Er fleht Gott an: „Vater, laß den Kelch des Leidens an mir vorüber gehen!“ Nein, Jesus ist kein Superstar. Kein Supermann, der vom Himmel herabsteigt, um das Martyrium auf sich zu nehmen. Er fürchtet sich. Sein Schweiß tropft wie Blut zur Erde. Er hat bittere Angst. So wie wir, meint der Predigttext.

Wie aber überwindet Jesus seine Anfechtung? Die Evangelien berichten, Jesu habe gebetet: „Dein Wille geschehe Vater, nicht mein Wille“. Das heißt: Jesus besiegt seine Versuchung, indem er sein Schicksal akzeptiert. Er willigt in seine Begrenztheit ein. In seine Sterblichkeit. Er nimmt seinen Leidensweg an.

Liebe Gemeinde, manchmal ist Widerstand nötig und manchmal Ergebung. Es gibt Not, gegen die man sich wehren muß. Aber es gibt auch Not, gegen die wir uns nicht wehren können. Sie kann uns zur Anfechtung werden. Beispielsweise eine plötzliche Krankheit. Solches Leid muß man annehmen. Wer dies nicht tut, der droht innerlich daran zu zerbrechen. Es gibt viele Menschen, die seelisch verhärmen, weil sie mit ihrem Schicksal hadern. Jesus überwand seine Anfechtung, indem er ,Ja’ sagte zu seinem Leiden. Dein Wille geschehe, Vater.

Die Versuchung heute

Gehen wir in einen letzten Schritt zu uns selbst: Was ist der schwache Punkt unseres Glaubens? Wie sieht unsere Versuchung aus? Ich sagte bereits, der Schwachpunkt ist bei jedem unterschiedlich. Für manche ist die Frage nach dem „Warum“ eine Anfechtung. Als vor zwei Jahren die Flutkatastrophe in Ostdeutschland war, hat Nena zusammen mit anderen unter dem Namen „Marlon und Freunde“ ein Lied herausgebracht. Es hat den Titel „Lieber Gott“. Eine Konfirmandin hat mir dieses Lied in die Hand gedrückt: Hören Sie sich’s mal an! Nena singt in diesem Lied: „Lieber Gott, sag mir, warum muß das sein? Leid wohin ich seh, meist wo ich’s nicht versteh. Sag mir, ist es gerecht, daß es manchen so schlecht und anderen viel zu gut geht?“

Nenas Fragen sind gerechtfertigt. Aber leider gibt es darauf keine einfachen Antworten. Manchmal mögen wir an der göttlichen Allmacht verzweifeln. Jesus hat am Kreuz gefragt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Eine Antwort bekam selbst er nicht. Auch der Gottessohn blieb ohne Antwort. Es gibt leider Fragen in unserem Leben, die bleiben unbeantwortet. Unser Leben ist keine mathematische Formel, die immer 1:1 aufgeht. Es gibt Brüche und Risse. So schmerzlich es auch sein mag, diese Spannung müssen wir aushalten.

Auch der Predigttext gibt uns keine Antwort auf diese Frage. Er stellt uns indes Jesus vor Augen. Den Jesus, der selbst Brüche und Risse erlebt hat. Den angefochtenen Jesus. Den mit fühlenden Jesus. Den Jesus, der den Schwachen nahe ist. Den Jesus, der selbst für Verzweifelnde und Irrende Verständnis aufbringt. Den Jesus des Ölbergs und des Kreuzes. Den nahen Jesus. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer drückte es so aus: Gott läßt sich am Kreuz aus der Welt herausdrängen. Aber so und nur so ist er uns nahe!

Er ist hier wie da

Ist Jesus uns im Leid tatsächlich nahe? So höre ich jemand von Ihnen heimlich fragen.
Ich möchte Ihnen dazu die Geschichte eines Jungen erzählen. Ein Konfirmand, 14 Jahre alt. Er heißt Ralf. Er leidet an einer unaussprechlichen Krankheit. Mucoviszidose. Er liegt in einer Klinik in Tübingen. Er weiß, daß er von seiner Krankheit nicht gesund werden kann, sondern nur eine gewisse Zeit damit leben kann. Von seiner Pfarrerin, die ihm im Krankenhaus Konfirmandenunterricht erteilt hat, habe ich folgende Geschichte gehört:

Angst überschwemmt Ralf wie eine Woge. Überfallartig. Er will kein Medikament gegen die Angst, er will wach sein. Denn er weiß, in einem bestimmten Zeitpunkt wird es nicht die Angst sein, die sein Zimmer ausfüllt, sondern der Tod. Wir alle sind ratlos und kriegen auch Angst. Da entdeckt Ralf seine Rettung: „Du kennst doch das Gebet, das mit den Schafen.“ Ich begreife mal wieder gar nichts, bis ich das Photo mit der Schafherde auf der Schwäbischen Alb entdecke, das neben seinem Bett hängt. Das war sein letzter Ausflug gewesen. Und da begreife ich, daß er den 23. Psalm meint. Seine Medizin gegen Panikattacken. Also versuchen wir gemeinsam zu beten. Das geht schwer, weil Ralf viel von dem laut sprudelnden Sauerstoff atmen muß, bis er wieder ein paar Wörter sagen kann. Beim dritten Mal, Ralf ist unerbittlich, klappt es. Wir haben unseren Rhythmus gefunden. So geht es ein paar Wochen. Wir beten unseren Psalm und für eine Weile ist die Angst verscheucht.

Eines Tages sagt Ralf: „Das ist hier wie da“. Ich begreife wieder mal nichts. Geduldig erzählt er mir von der Wiese, der grünen Aue, durch die der Bach fließt, dem frischen Wasser… „Das ist hier wie da. Verstehst du nicht? Es ist ganz gleich, ob du auf der einen Seite bist oder auf der anderen.“ „Du meinst, es ist ganz gleich, ob du lebst oder stirbst?“, frage ich. „Ja“, sagt er und strahlt mich an. Die Pfarrerin, das dumme Kind, hat’s endlich gerafft. „Ja“, fährt er fort, „weil Jesus hier ist und da. Der Schäfer muß doch auf alle seine Schafe aufpassen.“ „Du glaubst, daß Jesus hier bei uns im Zimmer ist und gleichzeitig…“ „Ja“, antwortet er.

Als kurz darauf im Zimmer nebenan nachts ein Kind gestorben ist, höre ich ihn sagen: „Manchmal ist der Flur draußen das finstere Tal. Da kommen nachts die Kinder rein und kommen nicht mehr raus. Und vielleicht hat denen keiner gesagt, daß Jesus auch auf dem Flur ist“. Nachdenklich antworte ich: „Vielleicht hat’s ihnen wirklich keiner gesagt. Vielleicht haben sie es auch nicht gehört“. Nach einer Pause fahre ich fort: „Aber ich erlebe oft, daß die Kinder trotzdem wissen, wenn es soweit ist“. Ralf erlebt seine Konfirmation leider nicht mehr. Er stirbt am Sonntag davor, zur Gottesdienstzeit. Seine letzten Worte sind so deutlich und klar, wie ich ihn nie habe sprechen hören: „Ich gehe jetzt auf die Wiese. Er ist schon da.“

Amen.

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