Mit dem Judentum feiern – Purim und Reminiscere
Vashti und Esther - Zwei starke Frauen der jüdischen Tradition
Vorbemerkung
In diesem Jahr 2004 fällt das jüdische Purimfest, das der Errettung der jüdischen Gemeinde in Persien im Jahre 450 v. Chr. gedenkt, auf den christlichen Sonntag Reminiszere (7.März = 14.Adar; in Jerusalem wird Purim am 15.Adar - Schuschan Purim -, gefeiert). Der Schabbat zu Purim heißt immer "Schabbat sachor", also ebenfalls "Reminiscere" ("Gedenke", Ps 25,6). Deshalb schlägt die Autorin dieser Predigt, Brigitte Gensch, vor, das an Purim gelesene Buch Esther zum Gottesdienstthema zu machen. In der Predigt selbst ist dieser Bezug erst am Schluss genannt, er könnte aber auch vorn eingefügt oder bereits in der Begrüßung zum Gottesdienst genannt werden. Die Autorin wird Kapitel 1 des Estherbuchs als Predigttext lesen, aus Zeit- und inhaltlichen Gründen kann darauf aber auch gut verzichtet werden – ich gebe in solchen Fällen immer die Empfehlung, zuhause in Ruhe in der Bibel nachzuschlagen und nachzulesen. Im Buch Esther wie in der Predigt werden mit Vashti und Esther auch zwei bedeutende biblische Frauengestalten skizziert. Die Schreibung „G-tt“ signalisiert, dass das Wort „Gott“ nicht ein klar definierendes Wort sein kann, sondern eher ein Platzhalter für einen unfassbaren und unaussprechlichen Namen. Stefanie Schäfer-Bossert, redaktion@predigtforum.deLiebe Gemeinde!
Das unbekannte Buch und ein machtbewusster Herrscher
Wenn ich am vergangenen Dienstag unsere Konfirmanden gefragt hätte, wo in der Bibel das Buch Esther zu finden sei, so wären Ratlosigkeit und heftiges Blättern wohl die Reaktion gewesen. Und selbst zünftige christliche Theologen und Theologinnen (mich selbst eingeschlossen) geraten ins Stottern, sollen sie die Geschichte, die das kleine Buch erzählt, rein aus dem Gedächtnis wiedergeben. Eine Geschichte, die nicht wert befunden wurde, in unsere doch so bunten Reihen vorgeschlagener Predigttexte aufgenommen zu werden, ja schlimmer noch, eine Geschichte, die immer wieder verdächtigt wurde, überhaupt nicht in die Bibel zu gehören. Diese verdächtige und verdächtigte Geschichte möchte ich Ihnen heute erzählen.
Sie beginnt mit einem opulenten Fest, einer wahren Orgie: maßlos in Zeit und Aufwand. Der persische König Ahasveros inszeniert seine Thronbesteigung, um allen Untertanen seine Macht und seinen Reichtum zu demonstrieren. Schon sein Name ist Programm: kein Eigenname, sondern ein Titel, Ahasveros bedeutet soviel wie „ehrwürdiger Vater“. Über 127 Provinzen, vom Indus bis zum Nil erstreckt, gebietet er. Nach 180 Tagen der Feier mit seinen Fürsten und Vasallen folgt als quasi-demokratische Dreingabe ein 7tägiges Volksfest. Jenseits der Bannmeile, auf dem Vorplatz des königlichen Gartens wird die gesamte Bevölkerung der Königsstadt Susa aufs Fürstlichste bewirtet: Jeder darf trinken nach Herzenslust, das beste Geschirr, ja goldene Becher werden gereicht. Mit feiner Ironie heißt es in unserem Text: „Als Trinkordnung galt, dass man jeden gewähren lasse“. So hat es weltliche Herrschaft stets schon gehalten – sie maskiert sich in der Anarchie des Rausches.
Vashti – eine Frau, die sich widersetzt
Am 7.Tag, das rauschende Fest treibt seinem Höhepunkt entgegen, lässt der bereits stark angetrunkene Perserkönig durch 7 Kämmerer, allesamt Eunuchen, seine Gemahlin, die Königin Vashti rufen. Alle seine Schätze hat er ja präsentiert, es fehlt nur noch des Königs kostbarstes Schmuckstück, seine schöne Frau Vashti. Wie ein Schlussstein soll sie sich in des Königs Prachtbau einfügen, soll, angetan mit dem königlichen Diadem – und nur mit diesem, also nackt – vor den Potentaten erscheinen. In den begehrlichen Blicken der anderen Männer will Ahasveros seine eigene Macht spiegeln: Nicht euch, mir gehört das
Schönste – wie die Ordnung des Bettes, so die Ordnung auch in allen anderen Machtfragen.
Und nun geschieht das Unfassbare: Vashti kommt nicht, sie verweigert sich. Ein Motiv, einen Grund sagt uns der Bibeltext nicht, der pure Akt der Verweigerung allein schon ist der Skandal.
Liebe Gemeinde, wenn je das Wort von der Palastrevolution zutraf, dann hier. Vashtis schlichtes einfaches Nein setzt einen ganzen Staatsapparat in Gang. Panische Angst spricht aus der Reaktion der aufgeschreckten Männerwelt. Man wittert den Präzedenzfall: „Wehret den Anfängen!“. Heute war es die Königin, morgen schon werden sich die Provinzfürstinnen widerspenstig gegen ihre Männer verhalten, und übermorgen dann werden alle Frauen ihren Männern den Gehorsam verweigern. So wird nicht nur die Geschlechterordnung in Anarchie enden, nein, das ganze Staatsgebäude wird wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen.
Also raten die Fürsten ihrem hilflosen König zu einem Gesetz, zu verbreiten in allen Provinzen: Die Königin Vashti ist abzusetzen und durch eine bessere, d.h. gehorsamere Frau zu ersetzen. Und so gelte es in jedem Volk, für jeden Stand, für jedes Haus: dass der Mann Herr sein solle.
Unser Text hüllt sich in Schweigen darüber, welches Schicksal der entmachteten und entrechteten Vashti zuteil wird. Allerdings erfahren wir aus der jüdischen Auslegung des Estherbuches, dass Vashti hingerichtet wurde. Denn jüdische Auslegungsphantasie arbeitet zumeist präziser als die christlicher Theologie, wenn es darum geht, hinter dem Schweigen biblischer Texte das Grauen zu ahnen.
Esther
Nun aber zurück zu unserer Geschichte. Nach einer gewissen Zeit des Zornes trauert der König denn doch Vashti nach. Gegen seine aufkommende Depression raten seine Höflinge: Ersatz muss her! Eine neue Frau! Wie man das macht? Ganz einfach: Aus allen Reichsprovinzen werden die schönsten Jungfrauen am Hofe versammelt, 12 Monate mit Spezereien und Leckereien gepflegt und verwöhnt, um hernach dem König zum nächtlichen Probieren zugeführt zu werden. Frauenhaus, d.h. Harem, oder der Königinnenthron, vor diese unfreiwillige Alternative sieht sich auch Esther, die zweite Heldin unserer Geschichte, gestellt.
Wer ist Esther? Ein junges, bildschönes jüdisches Mädchen, aufgewachsen in persischer Gefangenschaft unter der Obhut ihres Pflegevaters und Onkels Mordechai, der einst aus dem gefallenen Jerusalem weg ins babylonische Exil verschleppt wurde. Bald findet der König Gefallen an Esther, er macht sie zu seiner Frau und Königin; ihre jüdische Herkunft aber verschweigt Esther sowohl ihm als auch allen anderen. Mordechai, in ständiger Sorge um seine Pflegetochter, hält sich auch nach ihrer Heirat stets in Palastnähe auf. Und so belauscht er eines Tages – ganz zufällig – wie zwei intrigante Hofbeamte ein Mordkomplott gegen Ahasveros beschließen. Mordechai informiert Esther, diese den König, und die loyale Tat Mordechais wird in den königlichen Annalen festgehalten.
Haman plant ein Progrom
Nun beginnt die Karriere eines Mannes namens Haman. Vom König persönlich anstelle der beiden Verschwörer eingesetzt, steigt er von einer mittelmäßigen Position zum höchsten Amt und zu höchsten Würden im Staate auf. Dem ersten unter allen Fürsten ist mit Kniefall zu huldigen – so will es ein königliches Dekret. Deutlich zeichnet das Buch Esther die Charakterzüge Hamans: eitel, selbstgefällig und leicht reizbar ist er, maßlos – unberechenbar sein Jähzorn. Und noch etwas steckt ihm im Blut: der Killerinstinkt des Amalekiters. Von allen biblischen Völkern, die Israel feindlich gesonnen sind, ist das Volk Amaleks das schlimmste. Völlig grundlos überfiel es die erschöpfte Nachhut – Frauen, Kinder und Greise – als Israel aus Ägypten auszog. Und noch heute sagt man in Israel nach einem besonders grausamen Terroranschlag: Denk an Amalek!
Einer aus dem Geschlechte der Amalekiter also ist Haman. Und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Mordechai, der fromme Jude, beugt sein Knie nicht vor Haman wie überhaupt vor keinem Menschen. Und diese Kränkung weckt in Haman den alten, tiefsitzenden und tödlichen Hass. Nicht allein Mordechai, das ganze jüdische Volk, vom Kind bis zum Greis, soll für die erlittene Schmähung büßen.
Haman geht zum König und spricht: „Ein Fremdkörper und Volksschädling wohnt unter uns, ein Volk, das sich in allem von uns unterscheidet, das unsere Gesetze nicht respektiert und nach eigenen Gesetzen lebt. Du darfst es nicht länger dulden; siehe, einen Plan zu seiner Ausrottung habe ich schon ausgearbeitet“.
Eine Mörderhand wäscht die andere. Für sein Versprechen, der königlichen Schatzkammer reichlich aus geraubtem jüdischen Besitz zuzuführen, erhält Haman den königlichen Siegelring. Und so von ganz oben autorisiert gelangen die Befehle zur Ausrottung Israels in alle Landesteile des Reiches. Auch das Datum, per Los ermittelt, steht bereits fest: Es wird der 13.Tag des letzten Monats des Jahres sein. Überall, wohin die Nachricht von der drohenden Vernichtung gelangt, löst sie Trauer, Verzweiflung und Entsetzen unter der jüdischen Bevölkerung aus. Auch Mordechai wehklagt, zerreißt seine Kleider, legt stattdessen Trauergewänder an.
Esther riskiert alles
Aber eine Hoffnung hegt er: Esther, die jüdische Königin, wird gewiss ihren Einfluss auf den König geltend machen und das Schicksal wenden. Doch Esther zögert: Schon 30 Tage habe der König sie nicht mehr zu sich gerufen, vielleicht sei sie in Ungnade gefallen – und: Wer ungerufen seinem Herrscher nahe, der sei nach dem Gesetz des Todes.
Vielleicht haben die Älteren unter Ihnen noch den guten Rat von den Eltern oder Großeltern gehört, der früher und wohl noch bis in dieses Jahrhunderts hinein galt: Gehe nicht ungefragt zu Deinem Fürsten – denn die Macht entscheidet darüber, wer sich wann nähern oder nicht nähern darf, wer wann zu erscheinen oder nicht zu erscheinen hat. Eigenmächtige Annäherung dagegen kann tödlich sein, eigenmächtiges Fernbleiben allerdings auch: Das war die Lektion, die Vashti erteilt wurde.
Mordechai lässt nicht locker, sondern richtet Esther aus: „Glaube doch bloß nicht, dass du allein der Vernichtung entgehen wirst, jetzt da du aufgestiegen bist bei Hofe!“ Aber das ist es nicht, was Esther ihre Angst und ihr Zögern überwinden hilft. Den Mut zum Handeln geben ihr vielmehr die folgenden Worte: „Wenn du uns nicht hilfst, dann wird uns Rettung von einem anderen Ort her erstehen.“ Und: „Wer weiß denn, ob du nicht genau deswegen Königin geworden bist, um unser Volk, deines wie meines, zu retten?“
Rettung von einem anderen Ort her: In der hebräischen Sprache wird noch deutlicher, dass sich hinter dieser Wendung G-tt und der G-ttesname selbst verbergen, doch eben
incognito, gleichsam maskiert. Denn nicht direkt und ausdrücklich handelt G-tt in unserer Geschichte des Estherbuches, gleichwohl ist Er verborgen gegenwärtig. Sei es in der Maske von Vashtis rebellischem Nein, sei es in der Maske von Esthers klugem Mut.
Nach einem dreitägigen Fasten legt Esther ihr königliches Gewand an und tritt ungefragt und ungerufen vor den König. Bang sieht sie auf sein Szepter: Wenn er es ihr entgegenstreckt, so ist sie gerettet. Das Wunderbare geschieht; der König hört Esther an, verspricht sogar, ihr jede Bitte zu gewähren.
Die Wende
Sich höflich verneigend, lädt Esther ihren König und Haman zum festlichen Abendessen ein. Haman sonnt sich in der scheinbaren Gunst der Königin und eilt nach einem äußerst erfolgreichen Abend nach Hause. Den Pogrom will er gar nicht mehr abwarten, Mordechai wenigstens soll schon am anderen Morgen hängen. So lässt er noch in der Nacht einen Galgen errichten, nicht ahnend, dass die Schlinge um seinen Hals sich bereits zuzuziehen beginnt. Denn, welch merkwürdige Fügung, der König findet in dieser Nacht keinen Schlaf. Die königlichen Chroniken werden gebracht, und als Ahasveros darin blättert, stößt er wie zufällig auf den Eintrag, der Mordechais treue Hilfe beim einstmaligen Mordkomplott festgehalten hat. Doch ein Dank wurde Mordechai nicht zuteil, so sagen es die Höflinge dem König.
Des Morgens tritt Haman vor, um Mordechais Auslieferung zu erbitten. Aber die königliche Frage kommt Hamans Bitte zuvor: „Was soll man einem Manne tun, den der König zu ehren wünscht?“ Haman, der eitle Pfau, antwortet ganz im Vorgefühl baldigen Triumphes: „Man soll ihm ein Gewand und ein prächtig geschmücktes Ross des Königs geben und ihn vor aller Welt öffentlich ehren“. „ Gut, so tue all das dem Mordechai“, befiehlt der König. Haman erbleicht, doch er gehorcht. Voll Bangigkeit schleicht er des Abends zum zweiten Gastmahl, zu dem Esther den König und ihn erneut eingeladen hat. Es wird seine Henkersmahlzeit sein. Wieder fragt der König Esther: „Was ist deine Bitte, sie sei dir gewährt“. Und diesmal bittet Esther, denn sie spürt: Jetzt genau ist der rechte Augenblick dafür zu bitten: „Um mein Leben und das meines Volkes bitte ich dich, denn der da“ – und sie weist auf Haman – „der da hat beschlossen, dass wir vernichtet, getötet und ausgerottet werden“.
Der König eilt in den Palastgarten, Sammlung tut not. Haman aber fällt vor Esther nieder und bedrängt sie mit seinem Flehen. Aber gerade das wird ihm vollends zum Verhängnis. Denn als der König ihn so vorfindet, schreit er wütend: „Wie, du wagst es, dich in meinem eigenen Hause an meiner Königin zu vergreifen? Heute noch wirst du sterben!“ Gleich ist ein Höfling zur Stelle, der rät: „Im Hof steht doch schon ein Galgen, den Haman für Mordechai, den Wohltäter des Königs, errichten ließ“. Und sogleich hängte man Haman an den Galgen, der Mordechai zugedacht war.
„Ende gut“?
Ende gut, alles gut? Nicht so ganz: Denn die Mordmaschinerie hat sich bereits in Gang gesetzt, die königlich gesiegelten Vernichtungsbefehle sind nicht mehr rückholbar in alle Landesteile hinein unterwegs. „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“, sagt später einmal ein anderer Mörder. Und so können Mordechai und Esther nur die königliche Erlaubnis erwirken, dass alle Juden sich zur bewaffneten Gegenwehr zusammenschließen dürfen, wo immer sie angegriffen werden. Und wenigstens hier in unserer wundersam-märchenhaften Geschichte geschieht das sonst so Außergewöhnliche: Die Opfer wehren sich nicht nur, sie überwältigen sogar ihre Peiniger.
Liebe Gemeinde, an diesem Sonntag (dem 14.Adar nach dem jüdischen Kalender) feiern Juden und Jüdinnen in aller Welt das jüdische Purimfest (in Jerusalem morgen am 15.Adar). Und wie zu jedem hohen Festtag so auch zu diesem wird der Segensspruch gesagt werden: „Gesegnet seist du, Ewiger, unser G-tt, König der Welt, der uns am Leben und aufrecht erhalten und diese Zeit hat erreichen lassen!“
Freuen wir uns, dass das Volk unseres Herrn lebt und erinnern wir uns der beiden mutigen Frauen, ohne die Israel nicht überlebt hätte: der rebellischen Perserin Vashti und der klugen Jüdin Esther. Esther: die Maske G-ttes.
Kanzelsegen: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ (Philipper 4,7).