Ars moriendi als Lernprozess – oder: „Wenn ich einmal soll scheiden …“
Was im Leiden Jesu geschah als etwas erkennen, das mich betrifft
Predigttext: Hebräer 5,7-9 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(7) Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. (8) So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. (9) Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.Exegetische und homiletische Hinweise
Die Begrenzung des Textes auf die Verse 7-9 ist sinnvoll. Wer wollte oder könnte in einer Predigt der Gemeinde die Opfer- und Hohepriester-Terminologie des Kontextes sachgemäß und verständlich erklären? Als sehr hilfreich erweist sich der breit angelegte (801 S.) Kommentar von Hans-Friedrich Weiss (KEK 13, Göttingen 1991). Der Satz, der mich am meisten bewegt: Jesus hat an dem, was er litt, Gehorsam gelernt! Jesus ein Leidender, das ist uns in der Passionszeit vertraut. Jesu ein Lernender, das ist ein bedenkenswerter Akzent. Lernen – Leiden – Sterben! Dieses Thema ist uns in manchen Variationen vertraut. Hier nun ergibt sich: Lerne durch Leiden, das zum Tode führt – und zwar Gehorsam! Nun sind wir heute gegenüber jeder Art von Gehorsam sehr zurückhaltend, vor allem gegenüber jedem kollektiv geforderten Gehorsam. Deswegen betont die Predigt den Gehorsam als individuelle Entscheidung. Die ausgeführte Predigt verzichtet auf alle Bezüge zu aktuellen Anlässen, obwohl das Stichwort Leid hinreichend Gelegenheit bietet, auf den 11. 9. 2002 und den 11.3. 2004, die Situation der Menschen im Irak, im Kosovo usw. einzugehen. Es wurde auch bewußt vermieden, etwas zu Mel Gibsons Passionsfilm zu sagen, obwohl er, wie wohl keine andere Darstellung, das Leid Jesu in aller Brutalität sichtbar macht. Eine sehr gute Zusammenfassung des Echos auf diesen Film findet sich unter www.evangelischer-bund.de/newsletter im Internet. Wer den Film gesehen hat, wird dazu seine eigene Position beziehen. Und wenn er sie seiner Gemeinde nicht vorenthalten will, dann bietet sich an, im ersten Teil – etwa in Aufnahme von „O Haupt voll Blut und Wunden“ – darauf einzugehen. Mir kommt es vor allem darauf an, das in unseren Gemeinden vorhandene Potential zu mobilisieren, das – besser als ein realistisch auftrumpfender Grusel-Schocker – die persönliche Beziehung zur Passion Jesu aufbauen und zum Lernen anregen kann – daher also Paul Gerhardt. Lernprozesse sollen ja an dem anknüpfen, was vorhanden ist. Das führt zwar zu vielen Zitaten, die aber die Predigerinnen und Prediger als ein Angebot verstehen sollen, mit dem sie sehr frei umgehen können. Lied vor der Predigt: „O Haupt voll Blut und Wunden“ EG 85, 1-3.Liebe Gemeinde!
Sie kennen alle die wohlmeinende Ermahnung zur Anpassung an schwierige Lebensumstände: Lerne leiden, ohne zu klagen!
Und Sie kennen auch die moderne Variante eines kritik- und protestfreudigen Zeitalters:
Lerne klagen, ohne zu leiden!
Man darf wohl sagen, dass beides vom biblischen Geist recht weit entfernt ist.
Wie Leiden und Lernen zusammenpassen können, hören wir aus den Sätzen, die uns für den heutigen Sonntag nach der Ordnung unserer Kirche als Predigttext vorgeschlagen sind.
In den Versen 7-9, im Kapitel 5 des Hebräerbriefes, wird von Jesus gesagt:
Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.
Dadurch, daß Jesus Gehorsam lernte, hat er uns den Weg zum ewigen Heil eröffnet, den wir gehen können, indem wir ihm gehorsam sind. Gehorsam ist die Klammer zwischen Jesus und dem Vater; und ist zugleich die Klammer zwischen uns und Jesus.
Die Aussagen des Textes sind geradezu abstrakt formuliert und allgemein gehalten. Der Hebräerbrief sagt: Er ist der Urheber des göttlichen Heils geworden für alle, die ihm gehorsam sind. Es ist durchaus biblischer Sprachgebrauch, so kollektiv von allen zu reden: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“. (Joh 3,16)
Wenn es allerdings wie hier bei unserem Predigttext aus dem Hebräerbrief um den Gehorsam geht, dann kann es problematisch werden, wenn kollektiv gedacht wird. Es ist ein Ergebnis unserer Geschichte, daß wir misstrauisch werden, wenn von einem Kollektiv, einem Volk, einer Partei oder auch von einer Kirche nichts als Gehorsam gefordert wird. Es ist die Eigenheit aller Diktatoren in dieser Weise, alle zum Gehorsam zu verpflichten. Demgegenüber ist es seit den Anfängen der Christenheit üblich gewesen, wie einst Petrus vor dem Hohen Rat in Jerusalem sich darauf zu berufen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 5, 29) Dieses Wort hat immer seine große Bedeutung gehabt, wenn einzelne Christen sich gegen Kollektive entscheiden mußten. Das war so bei den Märtyrern der ersten christlichen Jahrhunderte, die sich dem Kaiserkult verweigerten. Das war so bei Martin Luther vor dem Wormser Reichstag, als er sich weigerte zu widerrufen, was er als die biblische Botschaft erkannt hatte. Das war so bei Dietrich Bonhoeffer und vielen anderen, die dem Nationalsozialismus als Christen Widerstand entgegensetzten. In diesen und vielen anderen Fällen waren Einzelne dem gehorsam, der in seinem Leiden Gehorsam gelernt hatte und dadurch der Urheber des ewigen Heils geworden ist – wie es unser Text sagt.
Es gehört zu den Besonderheiten des Hebräerbriefes, daß er betont: Jesus hat den Gehorsam gelernt. Das Evangelium sagt: „Der Jünger steht nicht über dem Meister und der Knecht nicht über seinem Herrn“. (Mt 10, 24) Und so ist es auch an uns, Gehorsam zu lernen. Der Hebräerbrief nennt auch die Schule, durch die Jesus gehen musste: Er hat „ an dem, was er litt, Gehorsam gelernt“.
Die Passionszeit ist für uns, als die Gemeinde seiner Jünger das Angebot, sich in einen Lernprozess hinein nehmen zu lassen. Aber nun nicht als Kollektiv, sondern jeder für sich. Es kommt darauf an, das, was im Leiden Jesu geschah, als etwas zu erkennen, das zu mir in Beziehung steht, das mich betrifft, das mich unmittelbar angeht. Es gibt nach meiner Erfahrung dafür kaum eine bessere Schule als die Welt des Glaubens unserer Mütter und Väter, wie sie in unserem Gesangbuch ihren Ausdruck gefunden hat, allen voran in den Liedern Paul Gerhardts. Es ist darum das Beste, wenn ich an dieser Stelle meine Predigt unterbreche und wir zusammen die 4., 5. und 6. Strophe des Liedes singen, das wir begonnen haben,
„O Haupt voll Blut und Wunden“:
Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast. / Schau her, hier steh ich Armer, / der Zorn verdienet hat. / Gib mir, o mein Erbarmer, / den Anblick deiner Gnad.
Erkenne mich mein Hüter, / mein Hirte nimm mich an. Von dir, Quell aller Güter, / ist mir viel Guts getan;/ dein Mund hat mich gelabet / mit Milch und süßer Kost, / dein Geist hat mich begabet / mit mancher Himmelslust.
Ich will hier bei dir stehen, / verachte mich doch nicht; / von dir will ich nicht gehen, / wenn dir dein Herze bricht; / wenn dein Haupt wird erblassen / im letzten Todesstoß, / alsdann will ich dich fassen / in meinen Arm und Schoß.
Jesus ist der Urheber des göttlichen Heils geworden für alle, die ihm gehorsam sind, sagt unser Text. Und bei Paul Gerhardt lernen wir, was es heißt, ihm gehorsam zu sein: Ich gehöre zu ihm, indem ich im besten Sinne des Wortes eigenständig sage: „Ich will hier bei dir stehen!“
Es ist keineswegs so wie manche behaupten, daß erst in der Neuzeit, der Mensch vor Gott gelernt hat, ich zu sagen, wie es Paul Gerhardt in seinem Passionslied vermag. Das finden wir schon in der Botschaft der Propheten des Alten Testaments, allen voran bei Jeremia. Er stöhnt unter der Last des Prophetenamtes: „HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich und jedermann verlacht mich“. Jeremia geht so weit zu sagen: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin […]. Warum bin ich nur aus dem Mutterleib hervorgekommen, wenn ich nur Jammer und Herzeleid sehen muß und meine Tage in Schmach zubringe!“ (Jer 20, 7. 14. 18)
Da finden wir den rebellischen Hiob, der sich gegen die frommen Reden seiner Freunde wehrt und vor Gott darauf beharrt, daß sein Leid zu Unrecht über ihn gekommen ist. Und Gott gibt ihm Recht und verwirft die gut gemeinten Trostsprüche seiner Freunde. Aus den Psalmen spricht die Erfahrung, daß wir im Leiden an den Ungerechtigkeiten dieser Welt zurück geworfen werden auf unser Ich und vorangetrieben werden zu dem Urvertrauen auf Gott. „Dennoch bleibe ich stets an dir, denn du hältst mich bei meiner rechten Hand“, heißt es in Psalm 73 (Vers 23). Und im 31. Psalm (Vers 6) lesen wir: „In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott“. Nicht von Ungefähr ist es dieses Psalmwort, mit dem nach dem Bericht des Lukas Jesus am Kreuz stirbt (Lk 23, 46).
Was das Leben auch immer uns bringen mag, in der Stunde des Sterbens kommt der Lernprozess des Gehorsams zu seinem Ziel. Luther begann seine berühmten Invokavitpredigten bei seiner Rückkehr von der Wartburg nach Wittenberg 1522 mit folgenden Sätzen: „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert, und keiner wird für den andern sterben, sondern ein jeder in eigener Person für sich mit dem Tode kämpfen. In die Ohren können wir wohl schreien, aber jeder muß für sich selber geschickt sein in der Zeit des Todes. Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir. So muß ein jeder die Hauptstücke, die einen Christen angehen, gut wissen und gerüstet sein“. (WA 10,3 – sprachlich modernisiert)
Im Sterben kommt es darauf an, daß wir vorher gelernt haben zu hören, horchende und gehorchende zu sein. Der Glaube kommt aus dem Hören, wie Paulus betont (Röm 10, 17).
Daß wir „Hauptstücke wissen“, wie es bei Luther heißt, ist nicht das Entscheidende. Es kommt darauf an, alle Ströme unseres Herzens auf den hin zu lenken, der am Kreuz für uns gelitten hat und gestorben ist; es kommt darauf an, ganz Ohr zu werden, zu hören und zu glauben: Es ist vollbracht! Sein Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen – wie es unser Text sagt – wurde erhört. Er wurde nicht vor dem Tod, sondern durch den Tod hindurch gerettet, ist auferstanden und lebt.
Liebe Schwestern und Brüder, niemand von uns weiß, was die Zukunft ihm bringen mag. Aber eines ist uns allen ganz gewiss: Wir werden sterben. Und darum kann es für uns nichts Wichtigeres geben als zu lernen, in diesem hörenden Gehorsam zu sterben. Und wir können das lernen, indem wir unser Denken und Empfinden lenken lassen von den Worten Paul Gerhardts, die wir nach dieser Predigt singen. Wenn es denn mit uns zu Ende geht, müssen wir zwangsläufig den Gesetzen des biologischen Verfalls und den medizinischen Anordnungen gehorchen. Wir sind aber auch eingeladen, freiwillig dem Gefolgschaft zu leisten, der in seinem Leiden und Sterben Gehorsam lernte. Ihm können wir uns bedingungslos anvertrauen. Er will und wird uns begleiten und es kann uns nichts Besseres geschehen, als einem solchen Herrn hörig zu sein.
Amen.