Gottes Leidenschaft für uns Menschen
Welches Jesusbild? - Jesu einzigartiger und unwiederholbarer Weg
Predigttext: Philipper 2,5-11 (Übersetzung nach Martin Luther, Revision 1984)
(5) Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht. [Luther übersetzte: „Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“]. (6) Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, (7) sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. (8) Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. (9) Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, (10) daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, (11) und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.Exegetische und homiletisch - liturgische Vorbemerkungen
I. 1) Die homiletische Bilanz der Exegese ist auch hier wesentlich durch das Ich des Exegeten und Predigers mitbestimmt (vgl. Karl Dienst, Jesus im Widerstreit der Meinungen, in: Themenstudien für Predigtpraxis und Gemeindearbeit Bd. 2, Stuttgart/Berlin 1978, 57-63). Bis in die achtziger Jahre beherrschten - auch auf dem Hintergrund einer „Entchristlichung“ Jesu (z. B. bei R. Augstein und G. Szczesny) - weithin „politische Jesusbilder“ die evangelischen Kanzeln (z. B. Jesus - der Selbsteinsatz des Menschen [E. Bloch], Jesus - der konsequente Sozialist [R. Luxemburg] und Revolutionär [K. Farner, F. Kofler], Jesus für Atheisten [M. Machovec] usw.). Inzwischen feiern eher liberale etten Wiederauferstehung (z. B. Jesus alsVJesusbilder in verschiedenen Fa Garant der Kultur und als Lebenshelfer; E. Levinas: „Der Königsweg der metaphysischen Transzendenz ist die Ethik“), wobei auch die poetisch - ästhetische Dimension eine Rolle spielt (vgl. Erika Schweizer/Renate Gerhard, in: Predigtstudien R. II, 1. Halbband, Stuttgart/Zürich 2003, 211-217): „Beide Strophen des Liedes wollen nichts anderes, als dass wir Menschen in sie einstimmen und Gottes Gesinnung teilen. In keinem Moment dieses Liedes ist Gott etwas ‚an und für sich‘, kein Besitzstand, den es festzuhalten gilt, kein metaphysisches Argument, das es zu verteidigen gälte. Vielmehr in jedem Moment ist Gottes Hingabe: sich freigeben, wahrhaftig Mensch zu sein. Und bewahrt darin sein göttliches Wesen“ (213). Mag auch Albert Schweitzer einst das Ende der „Leben - Jesu -Forschung“ eingeläutet haben: Nicht nur Mel Gibsons Film „The Passion of Christ“ zeigt das Gegenteil! 2) In den Jesusbildern der verschiedenen philosophischen Ansätze, in den jüdischen, philosemitischen, atheistisch - humanistischen und marxistischen Jesusrezeptionen, in den Jesusbildern der Literaten und Filmemacher stehen über die historischen Fragen hinaus die verschiedenen grundlegenden Entwürfe sinnvollen Menschseins selbst auf dem Spiel. Damit hängt auch die Hochschätzung der Frage nach einer überzeugenden Gestalt christlichen Lebens zusammen. Klassisch hat dies Albert Schweitzer (Geschichte der Leben - Jesu -Forschung, Tübingen 19516, 642) formuliert: „Als ein Unbekannter und Namenloser kommt Jesus zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagte dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist...“ II. 1) Für die Predigt möchte ich mich dem Text auf dem Weg über seine Rezeptionsgeschichte nähern. Vor allem die Jesusbilder der Aufklärung und der liberalen Theologie haben weit über den theologischen Raum hinaus Einfluss genommen. „Entchristlichung“ Jesu bedeutet: Nicht nur für Rudolf Augstein hat Jesus die Messias-, die Heiland- und die Erlöserrolle gar nicht angestrebt: „Wir wissen nicht, was er gewollt haben könnte“ (Rudolf Augstein, Jesus, Menschensohn, 1972, 8). Zugleich tröstet er: „Ich kann nicht begreifen, daß man der Meinung ist, das Christentum würde aufhören zu existieren, hätte keinen Einfluß und keine Wirkung mehr in dem Augenblick, in dem man auf den Auferstehungsglauben als Kern des Christus - Aspektes verzichtet“ (ebd. 68). Das versieht nicht nur Gerhard Szczesny (in: Gesellschaft und christlicher Anspruch, 1973, 80) mit negativem Wertakzent. Er kritisiert die „sehr unzureichende humanisierende Wirkung, die das Christentum im Gegensatz zu seiner Botschaft“ gehabt habe: „Die Christen haben sich leider nicht mit dem Jesus von Nazareth begnügt, sondern wollten einen Christus haben. Damit wurde der Hauptakzent auf den Glaubensakt gelegt. Seit Paulus steht im Mittelpunkt nicht das rechte Handeln, sondern das rechte Glauben. Dies ist meiner Meinung nach einer der Gründe für die moralische Fehlentwicklung des Christentums auf dem Hintergrund seiner eigenen Botschaft“. 2) Wichtige Anlässe für den gewählten Zugang zum Text sind für mich z. B. Heiner Geißlers Buch: „Was würde Jesus heute sagen? Die politische Botschaft des Evangeliums“ ( Berlin 2003) und Mal Gibsons Film „The Passion of Christ“, der schon länger die Öffentlichkeit beschäftigt (auch den Papst!) und der am Gründonnerstag in die deutschen Kinos kommen soll (vgl. Paul Badde, in: DIE WELT 3. 2. 2004, S. 10). 3) Als Alternative zu meinem Zugang bieten sich z. B. Schweizer/Gerhard an: „Geführt von der Liturgie des Philipperhymnus möchte ich für den Gottesdienst an Palmarum die Stärke der Leidensbereitschaft Gottes, seine wahrhaftige Leidenschaft, für uns ganz Mensch zu sein, überbringen. Aus dieser dankbaren Erschütterung erwächst die befreiende Bereitschaft, meine Existenz und die anderer Menschen in ihrer realen Not, Mühsal, Gebrochenheit liebend anzusehen, getragen von der Gewissheit, dass Gott selbst darin eingebunden ist“ (213). „Menschen wollen sein wie Gott - Gott wird ein Mensch... Menschen streben nach oben - Gott begegnet in der Tiefe“ (214f.). Allerdings gilt die Warnung: „Gegen jedes falsche imitatio - Christi - Verständnis ist festzuhalten: Der Weg Jesu, den der Christushymnus besingt, ist einzig sein Weg und unwiederholbar. Er ist ihn für uns gegangen“ (216).Texte zum Nach- und Querdenken
Einiges von dem, was Paulus da schreibt, spiegelt sich auch in den „Desiderata“, den „Wünschen“ aus der alten St. Pauls-Kirche in Baltimore aus dem Jahr 1692 wider: „Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann. Stehe, soweit ohne Selbstaufgabe möglich, in freundlicher Beziehung zu allen Menschen. Äußere deine Wahrheit ruhig und klar und höre anderen zu, auch den Geistlosen und Unwissenden; auch sie haben ihre Geschichte. Meide laute und agressive Menschen, sie sind eine Qual für den Geist. Vergleiche dich nicht mit anderen, um nicht bitter zu werden, und verliere nicht dein Selbstvertrauen. Freue dich deiner eigenen Leistungen wie auch deiner Pläne. Bleibe weiter an deiner eigenen Laufbahn interessiert, wie bescheiden auch immer. In deinen geschäftlichen Angelegenheiten laß Vorsicht walten; denn die Welt ist voller Betrug. Aber dies soll dich nicht blind machen gegen gleichermaßen vorhandene Rechtschaffenheit. Sei du selbst, vor allen Dingen heuchle keine Zuneigung. Sie niemals abwertend, was die Liebe betrifft; denn auch im Angesicht aller Dürre und Enttäuschung ist sie noch immerwährend wie das Gras. Ertrage freundlich-gelassen die Mühen des Alters, gib die Dinge der Jugend mit Würde auf. Stärke die Kraft des Geistes, damit sie dich in plötzlich hereinbrechendem Unglück schütze. Aber beunruhige dich nicht mit Einbildungen. Bei einem heilsamen Maß an Selbstdisziplin sei gut zu dir selbst. Darum lebe in Frieden mit Gott, was für eine Vorstellung du auch von ihm hast und was immer dein Mühen und Sehnen ist. In der lähmenden Wirrnis des Lebens erhalte dir den Frieden mit deiner Seele. Strebe danach, glücklich zu sein“. Manches mag da ein wenig „amerikanisch“ - optimistisch klingen. Dennoch finde ich es für bedenkenswert. Es geht um unser Selbstwertgefühl. Und dieses hat es mit Gott zu tun! Im Blick auf die politische Verantwortung des Christen werde ich auch an das Neujahrsgebet des Pfarrers von St. Lamberti in Münster aus dem Jahr 1833 erinnert: „Herr, setze dem Überfluß Grenzen und lasse die Grenzen überflüssig werden. Lasse die Leute kein falsches Geld machen. aber auch das Geld keine falschen Leute. Nimm den Ehefrauen das letzte Wort, und erinnere die Männer an ihr erstes. Schenke unseren Freunden mehr Wahrheit und der Wahrheit mehr Freunde. Bessere solche Beamten, Geschäfts- und Arbeitsleute, die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind. Gib den Regierenden besseres Deutsch und den Deutschen eine bessere Regierung. Herr, sorge dafür, daß wir alle in den Himmel kommen. Aber nicht sofort!“Was glauben die Deutschen?
„Was glauben die Deutschen?“: Mit dieser Frage provozieren nicht nur der SPIEGEL und der STERN jedes Jahr besonders vor Weihnachten und Ostern. Neu ist das nicht! Schon Jesus von Nazareth fragte seine Jünger: „Wer sagt denn ihr, daß ich sei?“ (Matthäus 16,15f.). Die Antwort des Petrus lautet eindeutig: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn“. Dieses Bekenntnis des Petrus ist denn auch in großen Buchstaben in die Kuppel der Peterskirche in Rom eingegangen. Der SPIEGEL-Redakteur Werner Harenberg findet bis heute immer wieder Nachfolger: „Es gibt nicht einen Jesus, es gibt mindestens vier“: der Jesus derer, die nicht an ihn glauben, der historische Jesus, der Jesus der Bibel, der Jesus der Kirche. Nicht nur für Rudolf Augstein hat Jesus die Messias-, die Heiland- und die Erlöserrolle gar nicht angestrebt: „Wir wissen nicht, was er gewollt haben könnte“. Augstein fährt fort: „Ich kann nicht begreifen, daß man der Meinung ist, das Christentum würde in dem Augenblick aufhören zu existieren, in dem man auf den Auferstehungsglauben als Kern des Christus -Aspektes verzichtet“.
Jesus wird „entchristlicht“; er wird zu einem exemplarischen Menschen, der neben uns wohnen könnte und der die Kirche und ihre Lehre nicht braucht. Gerhard Szczney legt noch nach: „Die Christen haben sich leider nicht mit dem Jesus von Nazareth begnügt, sondern wollten einen Christus haben. Damit wurde der Hauptakzent auf den Glaubensakt gelegt. Seit Paulus steht im Mittelpunkt nicht das rechte Handeln, sondern das rechte Glauben. Dies ist meiner Meinung nach einer der Gründe für die moralische Fehlentwicklung des Christentums auf dem Hintergrund seiner eigenen Botschaft“. Man gewinnt schnell den Eindruck: Nicht der historische Jesus hat in der Geschichte gewirkt, sondern die jeweiligen Christusbilder, die Anschauungen, die sich Menschen von dem historischen Jesus gemacht haben.
Realistisch statt süßlich?
Wir brauchen nicht an die Andenkenläden in Wallfahrtsorten und an Oberammergau zu denken, um die „entrückten“ oder gar süßlichen Jesusbilder vor Augen zu haben. Da wird der dornengekrönte barocke
Jesus ästhetisch verklärt. „Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“: Diese Stelle aus dem Lied, das Paulus im Philipperbrief zitiert, wird da schnell vergessen. Jesus ist da kaum noch „unten“ angekommen.
Umso mehr erregt Mal Gibsons Film „Die Passion Christi“ die Gemüter schon lange bevor er in die Kinos kommt. „Die Passion Christi“ beginnt mit einem Fausthieb in der Nacht, und von diesem Moment an schaut uns Jesus von Nazareth fast nur noch mit dem linken Auge an. Das rechte Auge bleibt von da an geschwollen und verquollen. „Es ist eine Fassung von schockierendem Realismus und ungeheurer Gewalt der Darstellung. Räuber können einen nicht brutaler überfallen als dieser Film. Es ist der Einbruch der abblätternden Kruzifixe und zerfallenden Bildstöcke am Wegesrand in das Medium der virtuellen Bilderwelt, wie ich ihn noch nie gesehen habe. Zwischen den rauchenden Autos in Gaza, ausgebrannten Bussen in Tel Aviv, den blutigen Hemden in Bagdad, mitten in der Routine der täglichen Nachrichten, klatschen diese Bilder auf das Auge wie die Tritte und Schläge auf den unschuldigen Jesus mit den blutunterlaufenen Augen im Verhör vor 2000 Jahren“: so der Italien-Korrespondent der Zeitschrift „DIE WELT“, der den Film vorab sehen konnte. Dieser Jesus ist so etwas wie eine Ikone des neuen Jahrhunderts. „Es ist, wie es war“: So soll Papst Johannes Paul II.
im Dezember gesagt haben, als ihm die erste Filmkopie gezeigt wurde. Ein Matthias Grünewald mit den Mitteln des modernen Kinos? Der Korrespondent der Zeitschrift „DIE WELT“ wird lebhaft an den Grünewald-Altar in Colmar erinnert.
Muss man aber das Evangelium, muss man den Philipperhymnus für diesen Film kennen? Genügt da nicht ein Blick nach Bagdad oder Jerusalem, wenn Selbstmordattentäter zuschlagen? Unser Korrespondent zuckt mit den Achseln. Vor allem: Ist dieser Jesus wirklich „oben“ angekommen?
Ethik statt Metaphysik?
Freilich: Dieses Lied aus dem Philipperbrief hat schon länger die theologischen Gemüter erhitzt. Schon im 17. Jahrhundert stritten sich die Theologen der Universitäten Gießen und Tübingen, ob Christus sich seines göttlichen Wesens wirklich „entäußert“ (entleert) oder ob er es nur „verborgen“ habe, als er Mensch wurde [Der sog. Kenosis – Streit]. Da spielte der Philipperhymnus eine wichtige Rolle, dass die Entscheidung schließlich zugunsten Gießens ausging.
Damals war der Streit um die Person Jesu Christi eine wichtige öffentliche Angelegenheit. Wen berührt das aber heute noch? Ist das nicht alles eine – wenn auch ehrwürdige – Vergangenheit? Ist Jesu Passion nicht eher ein Gleichnis, ein Motiv für unser Handeln in der Welt? Ist Gottes Hingabe nicht eher ein Gleichnis für unsere Hingabe an die Mitmenschen als eine dogmatische Lehre über Jesus Christus?
„Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht“, so heißt es in unserem Lied. Luther übersetzte: „Ein jeder sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“. Darauf kommt es an! Jesus ohne „oben“: Das klingt für manche schockierend, für andere aber auch befreiend. Endlich einmal ein Jesus ohne Metaphysik! Endlich ein aktueller Jesus! Jesus hat doch hoffnungslose Existenzen nicht als hoffnungslos behandelt. Er ist für Schwache, für Entrechtete und Unterdrückte eingetreten. Sollten wir nicht lieber dieses Vorbild Jesu für uns übernehmen und so unsere Welt- und Menschenverantwortung zum Ausdruck bringen? Wenn wir nicht bald das Kreuz Jesu selbst auf uns nehmen, das heißt zum Beispiel Hunger stillen, auf Macht verzichten, Drohungen unterlassen, Verhandeln statt vergelten, Frieden stiften, wenn wir als Christen nicht darauf verzichten, nur nach unserer eigenen Seligkeit zu fragen und statt dessen für das Recht der Rechtlosen eintreten, dann besteht die Gefahr, dass wir das Kreuz Jesu auf Golgatha verkommen lassen.
Gott will aber seine Privilegien nicht für sich wahren! Er will nicht „oben“ bleiben! Es kommt einer zu uns! Kein „Staatsbesuch“, kein Auftritt gönnerhaft von oben herab, sondern da lässt einer sich ganz auf uns ein, wird einer von uns. Also: Unten ist der Tisch schon gedeckt, wie Kurt Marti es dichterisch formuliert:
abwärts
helfen dir alle heiligen
unten ist der tisch
des talgotts schon gedeckt
die nacht
wird sehr herzlich sein.
Der Talkshow-Jesus?
Entspricht diese Auslegung des Leidensweges Jesu nicht viel besser den Notwendigkeiten unserer Welt als die Jesusbilder, die Oberammergau und der Barock oder eine streng „biblische“ Theologie uns vermitteln? Vor allem: Können auf diese Weise nicht auch Menschen angesprochen werden, die die metaphysischen und süßlichen Jesusbilder ablehnen? Interessiert eigentlich heute noch die Luther zugeschobene Frage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Fragen wir nicht eher: Wie kann unsere Welt menschlicher werden? Das Wort „Gott” oder „Jesus” wäre dann als eine Chiffre, als eine Einkleidung der Aufforderung an uns zu verstehen, aus unserer Menschen- und Weltverantwortung endlich Ernst zu machen!
Das klingt faszinierend! Jesus aktuell! Wir haben es dann auch bei diesem Lied aus dem Philipperbrief mit unserer Erde zu tun und nicht mit einem jenseitigen Geschehen, bei dem wir nur Zuschauer wären.
Dieser Jesus passt in die Talk-Shows! Das ist keine Frage. Allerdings fragt uns Paulus, ob wir da nicht die zweite Hälfte dieses Liedes aus dem Philipperbrief übersehen? Eben dieses: „Darum hat ihn [Jesus Christus] auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters“.
Offenbar geht für Paulus eines ohne das andere nicht: Gott in der Tiefe – Gott in der Höhe! Stimmt es wirklich, dass wir dem heutigen Menschen, dem das Wort „Gott“ kaum etwas bedeutet, mit dem Aufruf zur Vermenschlichung der Welt wirklich ins Herz treffen? Ist nicht die unbedingte Feindesliebe, das Zurückstellen des eigenen Ichs, der Verzicht auf den eigenen Vorteil im Grunde nicht etwas völlig „Unvernünftiges“, „Unnatürliches“? Sigmund Freud, auf den man sich heute gern beruft, wenn man den Gottesglauben als etwas Unzumutbares hinstellen will, sagte bekanntlich, es sei absurd, den Nächsten ohne Rücksicht auf sein Verhalten uns gegenüber wie uns selbst zu lieben. Warum sollte ich eigentlich die Macht nicht ausnützen, wenn ich sie besitze? Warum soll ich nicht auf meinen eigenen Vorteil bedacht sein, wenn ich ihn wahrnehmen kann? Genügt da der Hinweis auf den Menschen Jesus, auf sein Verhalten? Ist da Jesus nicht eher ein gescheiterter Idealist? Noch einmal mit Mel Gibson gesprochen: Es ist sympathisch, wenn nicht nur Jesus, sondern auch der Mensch neben uns ohne ein blaues Auge herumlaufen kann! Genügt da aber der moralische Appell? Unsere Welt ist schon „moralinsauer“ genug!
Gehören nicht doch die Frage nach Gottes Handeln an uns und für uns und unser Handeln für die Welt und für den Mitmenschen viel enger zusammen, als wir es ahnen? Kommt Letzteres wirklich von selbst? Ist Mitmenschlichkeit wirklich „natürlich“? Liegt sie einfach in uns drin? Oder ist sie vielmehr eine Folge der biblischen Botschaft, dass Gott diesen Jesus für uns geopfert hat, um uns für dieses Dasein für andere freizumachen? In diesem Jesus von Nazareth versucht sich doch nicht Irgendeiner in Sachen „Nächstenliebe“. In ihm begegnet uns die Liebe dessen, dem gegenüber wir zunächst nur Empfangende sein können: Gott selbst! Aber dieser Gott macht uns gerade nicht zum Objekt, zu einem Spielball überirdischer Mächte. Er macht uns gerade dazu frei, seine Liebe mitten unter uns weiterzuschenken! In diesem Jesus von Nazareth begegnet der biblische Gott auf eine besondere, unüberbietbare Weise.
Kein Geringerer als Albert Schweitzer, der ja nicht nur als Urwalddoktor, Bachforscher und Kulturphilosoph, sondern auch als Theologe einen guten Namen hat, hat das so zum Ausdruck gebracht:
„Als ein Unbekannter und Namenloser kommt Jesus zu uns, wie er am Gestade des Sees an jene Männer, die nicht wußten, wer er war, herantrat. Er sagte dasselbe Wort: Du aber folge mir nach! Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist…“
Darum konnte Albert Schweitzer schreiben: „So fand jede Epoche der Theologie ihre Gedanken in Jesus, und anders konnte sie ihn nicht beleben. Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit. Es gibt kein persönlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben – Jesu zu schreiben. Kein Leben kommt in die Gestalt, es sei denn, daß man ihr den ganzen Haß oder die ganze Liebe, deren man fähig ist, einhaucht“. Heißt das: Jeder kann sich seinen eigenen Jesus basteln? Gerade nicht. Vielmehr gilt: Niemand wird der Einzigartigkeit der Botschaft Jesu wirklich ansichtig werden können, ohne sich zugleich dem persönlichen Anspruch Jesu gegenübergestellt zu sehen! Jesus gegenüber sind wir gerade keine neutralen Zuschauer,
sondern stets Betroffene, Angesprochene, in die Entscheidung Gestellte.