Der andere Karfreitag
Predigttext: 2. Korinther 5, (14b-18)19-21 (Übersetzung nach Martin Luther, revidierte Fassung 1984)
14 ... Wir sind überzeugt, dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. 15 Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist. 16 Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr. 17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. 18 Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. 19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. 20 So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! 21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.Vorbemerkungen
Die Perikope sieht vor allem die Verse 19 bis 21 vor. Mittelpunkt ist das von Gott gewirkte Versöhnungsgeschehen und seine Weitergabe. Was der Mensch nicht fertig bringt, Gott und er allein hat es in die Hand genommen und auf den Weg gebracht, im Christusgeschehen. Der Mensch schafft das nicht. Er braucht es auch gar nicht zu schaffen. Es geht auch nicht um Gott und Mensch halbe halbe. Kein Joint venture des Glaubens! Nein, das alles von Gott! Wie aber kommt die Kunde von diesem Geschehen unter die Menschen? Botschafter sind bestellt. Und was für eine wunderbare Aufgabenbeschreibung folgt dann! Das Amt, das sie ausüben, ist Diakonia, ist Dienst. Und wie wird dieser Dienst ausgeübt? So, dass sie bitten, werben, einladen. Freilich sollte dieser Gedanken in der Predigt nicht zu stark betont werden. Also nicht zu sehr (in diesem Zusammenhang!) unseren eigenen Dienst reflektieren, uns selbst nicht zu sehr in den Mittelpunkt stellen. Eher in die Richtung weiter denken, dass nicht nur die Hauptamtlichen, sondern alle Christen Botschafter sind, welche an der Verkündigung der von Gott gewirkten neuen Situation teilhaben. Es empfiehlt sich, nicht bei der Perikope im engeren Sinne stehen zu bleiben. Es stellt sich nämlich naturgemäß die Frage, was denn geschieht, wenn die Botschaft zu den Menschen kommt, was geschieht, wenn sie Aufnahme findet, wenn sie ankommt. Genau das aber finden wir unserer Perikope in den Versen 14b bis 18 gleichsam vorgeschaltet. Die Sprache, die wir hier vorfinden, ist von Bezügen zur Taufe geprägt. Sie unterstreicht dadurch das Gnadenhafte des Geschehens. Wir werden einverleibt in eine neue Lebenswirklichkeit, in die Lebenswirklichkeit, die von Christus bestimmt ist, ja die Christus selber ist. Raum öffnet sich für ein neues Leben, in der wir uns als Neuschöpfung erleben und erfahren dürfen, aus Gnade. Ich setze mit Vers 17 ein, um Mitte und Ziel der Gesamtperikope (siehe oben) nicht allzu sehr aus dem Blick zu verlieren. Fazit: Der andere Karfreitag? Der andere Karfreitag! Karfreitag als Tag der Neuschöpfung! „Erde atme auf ...!“ Was die Besucherinnen und Besucher unserer Gottesdienste am Karfreitag betrifft, so kann man davon ausgehen, dass es die Karfreitagschristen so nicht mehr gibt. Die Schar derer, die den Karfreitagsgottesdienst besuchen, ist überschaubar geworden. Die meisten gehören zur Kerngemeinde. Man kann, denke ich, verdichtet und konzentriert sprechen.Liedvorschläge
EG 75 „Ehre sei dir, Christe“ EG 98 „Korn, das in die Erde“ EG 229 „Kommt mit gaben und Lobgesang“ (Lied zum Abendmahl)Ich will noch einmal neu anfangen können! Ich will das Alte hinter mir lassen können! Das sind Wünsche und Vorstellungen, die sicher manchen oder manche von uns schon irgendwann einmal erfüllt und bewegt haben. Und tatsächlich, hier und da scheint uns das auch zu gelingen. Dann fühlen wir uns wie neu geboren!
„Neues ist geworden!“ Aber wie lange wird das halten? Schnell stellt sich das Alte wieder ein, schnell ist die Vergangenheit wieder da, mit ihrer Schwerkraft, mit ihren Schatten – und mit ihnen stellen sich die alten Geister Schritt für Schritt wieder ein. Ja, gibt es denn das überhaupt im Leben, dass bleibend und beständig Neues werden kann, Neues, das vielleicht immer wieder bedroht wird, das aber doch letztlich die Oberhand behält?
Die Botschaft für den heutigen Tag berichtet von solch einem Neuen, ja sie spricht sogar noch viel kraftvoller von einer neuen Kreatur, von einer Neuschöpfung. Das Alte opponiert zwar immer wieder mächtig dagegen, doch es ist geschehen und es gilt: „Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden!“ Oder, wie es in der alten Lutherübersetzung noch viel grundsätzlicher heißt: „Siehe, es ist alles neu geworden!“
Wer aber kann das denn, alles neu machen? Eine neue Kreatur, eine neue Schöpfung hervorgehen lassen in einer fast ewig gleichen Welt mit Spannungen, Unfrieden, Krieg und Streit? Der Mensch, der kann es ja wohl nicht. Seine Kräfte und Möglichkeiten reichen da nicht aus. Gewiss, wir haben immer wieder gute Vorsätze, einen guten Willen, Bereitschaft auch. Doch immer wieder neu stoßen wir an unsere Grenzen, fallen wir zurück, stehen wir am Anfang, stehen wir mit leeren Händen da. Neues, bleibend Neues, das kann nur dort werden und entstehen, wo Gott selber handelt, wo er in Aktion tritt, wo er schöpferisch eingreift in das Leben der Welt, wo er noch einmal über der friedlosen und todverfallenen Welt spricht: Es werde! Ja, das alles von Gott!
Genau darum geht es Karfreitag. Karfreitag, Tag der Neuschöpfung, Karfreitag, Tag einer grundsätzlichen Wende. Das klingt zunächst einmal ungewöhnlich. Denn mit Karfreitag verbinden wir in der Regel andere Töne und Inhalte. Das Getragene, Ernste, ja Schwermütige dominiert. Und unsere Lieder, die alten Karfreitagslieder, werden ja nicht müde, das singend zu beschreiben, drastisch und für Menschen von heute nicht leicht mehr verständlich. Die neueren, die in unser Gesangbuch hinein gewandert sind, die lassen schon diesen anderen Horizont erkennen, den anderen Karfreitag! Da hören wir vom Korn, das in die Erde gesenkt Frucht bringt. Da sehen wir im Kreuz den Baum des Lebens! Karfreitag, Tag der Neuschöpfung, Tag einer grundsätzlichen Wende. Unser Predigttext nennt in immer neuen Anläufen die Ursache für diese Wende: Es ist die Versöhnung, die Versöhnung, die zwischen Gott und Mensch stattgefunden hat.
Jeder und jede von uns weiß, was Versöhnung bedeutet. Jeder und jede von uns hat schon erlebt, wie Versöhnung zwischen Mensch und Mensch zustande kam, und hat dabei große Dankbarkeit empfunden. Genauso haben wir aber auch erlebt und erleben es immer wieder, wie Versöhnung trotz Bemühens eben nicht zustande kommt, und wir leiden darunter.
Woran liegt es denn, dass Versöhnung so schwer fällt, dass sie oft nicht gelingen will, trotz Bereitschaft, trotz Bemühens, trotz positiver Einstellung? Bei der Antwort auf diese Frage bleibt die Bibel nicht an der Oberfläche, sondern sie geht ganz weit in die Tiefe. So weit geht sie durch alle Schichten hindurch, bis sie auf das Grundverhältnis zwischen Gott und Mensch gestoßen ist, wie es in den ersten Kapiteln beschrieben wird. Und was wir dort lesen und hören, das sind keine Kindergeschichten, das ist kein alter Zopf, sondern das sind Geschichten, die von einer Grundwahrheit sprechen, die damals wie heute Gültigkeit hat: Der Mensch entfernt sich von Gott, entfernt sich von seinem Ursprung. Er kündigt die bergende Gemeinschaft auf, er zerschneidet das Band, er verlässt die heilsame Ordnung der Gebote. Das alles im Bestreben, ungebunden zu sein, selber Herr des Lebens zu sein, sich selber zum Maß aller Dinge machen zu können, und das mit weitreichenden Folgen: Denn auch das Miteinander der Menschen, also eben nicht nur das Gottesverhältnis, stimmt nun nicht mehr, gerät ins Wanken, gerät in den Strudel der Friedlosigkeit.
Wie verhält sich Gott dazu? Wie begegnet er einem Menschen, der so gegen ihn aufsteht, so gegen ihn opponiert? Er hätte doch allen Grund dazu, sich abzuwenden und den Menschen seinem selbstgewählten Schicksal zu überlassen. Doch das Gegenteil geschieht! Er, der unendlich Liebende, tut das, was uns allen ja so schwer fällt, schwer fällt, weil wir uns dadurch selbst aufs Spiel setzen müssten, weil wir Angst haben vielleicht, uns etwas zu vergeben: Er macht einen neuen Anfang. Gott lässt das Alte vergangen sein und lässt Neues werden, schlägt ein neues Kapitel auf.
Über alle Gräben hinweg, die sich aufgetan haben, über alle Mauern hinweg, mit denen sich der Mensch gegen Gott sichern wollte und sichern will, reicht er die Hand zur Versöhnung. „Gott versöhnte die Welt mit sich selber“, und er ließ sich das auch etwas kosten, und nicht nur etwas, sondern unendlich viel, ja alles, was er hat! Seinen Sohn! „Er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt!“
Für uns! Er stirbt, damit wir leben können. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten. Das ist der Dreh- und Angelpunkt der Karfreitagsbotschaft.
Ich weiß, das dies keine leichte Kost ist. Und doch, es ist unserem Leben gar nicht so fremd, wenn wir es recht bedenken: Da gab und gibt es Menschen, die etwas für uns taten und tun; mehr, als sie hätten tun müssen, mehr als sie zu tun verpflichtet sind. Blicken wir doch einfach einmal zurück auf den Gang unseres Lebens, oder schauen wir hinein in unsere Gegenwart. Gab es da oder gibt es da nicht genug Menschen, denen wir unser Leben verdanken? Und gewiss durften auch wir schon umgekehrt anderen Menschen Leben ermöglichen, indem wir für sie da waren und da sind. Ich denke, gerade davon lebt letztlich die Welt, dass es Menschen gibt, die stellvertretend handeln, Menschen, die Einsatz und Opfer nicht scheuen, Menschen, die bereit sind, sich hinzugeben, um dadurch Leben zu ermöglichen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten!
„Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber!“ Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden! Wie wunderbar! Endlich können wir ablegen! Endlich können wir aufatmen! Und doch: Der Apostel bleibt Realist. Er weiß: Hier ist das, was Gott für uns getan hat – und dort ist unsere menschliche Wirklichkeit, unser Leben mit all dem, was uns von Gott trennt. Wie kommt beides zusammen? So zusammen, dass unser Leben gewendet, verändert, verwandelt wird, dass eine neue Kreatur ersteht?
Gott hat zu diesem Zweck, so Paulus, „unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“. Und damit dieses Wort nicht verstummt, nicht untergeht im Gewirr der Stimmen unserer Tage, hat Gott „Botschafter an Christi Statt“ berufen, Menschen, deren Aufgabe es ist, die neue, von Gott gewirkte und gewollte Wirklichkeit immer wieder neu zu verkündigen. Und Botschafter an Christi statt, das sind nicht nur die Hauptamtlichen, das sind nicht nur die Pfarrerinnen und Pfarrer, das sind wir alle, jeder auf seine Weise, jede nach ihren Möglichkeiten, wir alle an der Stelle, an welche Gott uns hingestellt hat im Leben. Denn die Versöhnung, die Gott mit so unendlich großem Einsatz zustande gebracht hat, die will und die muss doch weiterwirken, die will und die muss doch Gestalt annehmen.
Eindringlich formuliert es der Apostel Paulus noch einmal am Ende des Predigttextes. Eindringlich auch insofern, dass er nicht einfach nur an uns appelliert, das eine oder andere im Leben besser und friedvoller zu gestalten, nein er geht zum Schluss der Sache noch einmal auf den Grund, er geht noch einmal ganz in die Tiefe, wenn er eindringlich und herzlich bittet, unterstrichen noch durch den Hinweis, dass dies an Christi Stelle geschieht: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“
Karfreitag – Christus selber, Gott selber bittet uns. Im Kreuz begegnet uns der bittende, der einladende Gott. Nicht der drohende, richtende, fordernde, sondern der bittende, der für uns leidende, der um uns ringende Gott! Er bittet uns, die ausgestreckte Hand zu ergreifen. Er bittet uns, der von ihm gewirkten Versöhnung Raum zu geben in unserem Leben. Er bittet uns, als mit ihm Versöhnte Versöhnung zu wirken. Hat er doch alles dafür getan, hat er doch alles für uns getan! Fehlt es doch an nichts mehr! Hat er doch das Alte vergehen und Neues werden lassen! Ein neues Kapitel ist aufgeschlagen. Karfreitag hat es möglich gemacht!
Amen.